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Namen - Von Menschen erinnert, bei Gott bewahrt
Hans Braxmeier/Pixabay

Namen - Von Menschen erinnert, bei Gott bewahrt

Ein Beitrag von Helga Trösken, evangelische Pfarrerin im Ruhestand, Frankfurt am Main

Wenn ich in unsere Altstadt gehe, sehe ich sie, manchmal schon leuchtend von Weitem, die besonderen Pflastersteine vor den Häusern in einigen Gassen. Auf einer kleinen Messingplatte sind Namen und Daten eingraviert. Acht Steine zum Beispiel für die Familie Lazarus. Wenige Schritte weiter zehn Steine für Familie Kahn. An einer anderen Stelle nur der eine Name: Walter Rietig. Stolpersteine, die der Kölner Bildhauer Günter Demnig seit 1992 verlegt. Im Boden, im Bürgersteig eingelassen sollen diese Steine an das Schicksal der Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden.

Man sieht nur eine Messingplatte auf dem gleichen Niveau wie das Pflaster des Gehweges. Die Steine sind eingesetzt vor Häusern, in denen Juden und Jüdinnen vor ihrer Ermordung lebten. Namen und Geburtsdatum sind eingraviert. Und wenn er bekannt ist, auch der Sterbeort. Die Steine werden durch Spenden finanziert und mit Genehmigung der zuständigen Behörden und der heutigen Bewohner und Bewohnerinnen oder der Eigentümer der Häuser verlegt. Und immer wird versucht, möglichst viel von der jeweiligen Biografie heraus zu finden. „Stolpersteine“ werden diese Gedenksteine genannt, auch wenn niemand darüber mit den Füßen stolpern muss durch die ebenerdigen Platten.

Mancherorts gab es heftige Diskussionen über die Stolpersteine. Manchmal wurden sie gar nicht erst zugelassen. In München zum Beispiel gibt es Stolpersteine nur hinter Zäunen in privaten Vorgärten, nicht auf dem öffentlichen Bürgersteig. Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde München hatte sich stark gegen die Stolpersteine engagiert. Sie meinte: die Opfer würden ein weiteres Mal geschändet, indem man auf ihren Namen herum trampele.

Außerdem befürchtete sie Vandalismus. Viele andere finden die Aktion aber gut. In mehr als 19 Ländern sind bis heute rund 56.000 Steine verlegt. Das Ziel ist: Den Opfern, Juden und Jüdinnen, auch anderen in der Nazizeit ermordeten ihre Namen zurück zu geben, nicht Nummern, sondern Namen zu erinnern an den Orten, an denen sie gelebt haben, vor den Häusern ihres letzten frei gewählten Wohnsitzes. Ein junger Mensch hat mal über diese Stolpersteine gesagt: „Nein, man stolpert nicht und fällt nicht hin. Man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen“.

Am 27. Januar, dem Gedenktag an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee, wird an vielen Orten an die Ermordung von Juden und Jüdinnen während des Holocaust gedacht. So in Frankfurt am Main an der Mauer des alten jüdischen Friedhofs in der Battonstraße. Dort finden sich auf mehr als 12.000 Täfelchen die Namen ermordeter Frankfurter Juden und Jüdinnen. Vor allem auch in Jerusalem, in der Gedenkstätte Yad WaShem. Dort ist ein Denkmal des jüdischen Volkes errichtet für jeden Juden, jede Jüdin, der oder die im Holocaust ums Leben kam. Es ist die „Halle der Namen“. In einer hohen Kuppelhalle sind Fotos von Männern, Frauen und Kindern zu sehen und Dokumente zu studieren. Für mehr als eine Million Menschen sind schon Gedenkblätter gestaltet worden meist von überlebenden Angehörigen. Sie werden in dieser Halle aufbewahrt und können eingesehen werden. So soll ein Ort des Gedenkens entstehen über Generationen hinaus.

Wenige Meter entfernt von der Halle der Namen gibt es den unterirdischen Raum, der den ermordeten Kindern gewidmet ist. Der Raum ist zunächst völlig dunkel. Man verliert jede Orientierung. Hunderte von Kerzenflammen flackern, eine Stimme nennt Namen, Alter und Herkunftsland der Kinder. Mehr als 1,5 Millionen Kinder wurden ermordet. Es brauchte ungefähr drei Monate, um alle ihre Namen auf dem Endlosband wieder zu geben. Eines der Kinder hieß Uziel. Er war zweieinhalb Jahre alt, als er ermordet wurde. Er ist am Ausgang des „Kindermemorial“ als Skulptur zu sehen. Seine Eltern, Abe und Edita Spiegel, haben das Denkmal gestiftet.
Wer zum ersten Mal durch dieses Kindermemorial geht, ist meist so betroffen, dass er oder sie weinen muss.

Wenige Schritte weiter steht das Denkmal für den polnischen Kinderarzt Janusz Korczak. Es heißt: „Korczak und die Kinder des Ghettos“. Korczak hatte das jüdische Waisenhaus im Warschauer Ghetto geleitet. Als die rund 200 jüdischen Waisen 1942 von der SS in das Vernichtungslager Treblinka deportiert wurden, begleitete er sie freiwillig und wurde dort mit ihnen umgebracht.

Die „Halle der Namen“, das Kindermemorial und andere Teile der Gedenkstätte Yad Washem halten die Namen fest, erinnern daran, dass Gott alle Menschen beim Namen ruft. So geschieht es auch beim „Marsch der Lebenden“: Junge Juden und Jüdinnen aus aller Welt treffen sich an den Orten der Vernichtung – Auschwitz, Theresienstadt, Maidanek und anderen – und lesen die Namen der Ermordeten. Sie geben denen ihre Würde zurück, die zu Nummern gemacht wurden. Sie erinnern daran, dass jedes Leben wertvoll ist und Namen nicht Schall und Rauch, wie es die Nazis wollten. Namen sind Gottes bleibende Verbindung zu den Menschen. So glauben Juden und Christen.

Namen sind nicht Schall und Rauch. Von Anfang an haben die Namen der Menschen eine Bedeutung, weil Gott sie ihnen gegeben hat:

Adam, die Erde,
Eva, die Lebende,
Israel, Gottes Streiter,
Jesus, der Gesalbte, die Hilfe.


Beim Namen wird man, wird frau gerufen. Der Name macht einen Menschen erst zur Person. Wer ohne Namen ist, ist ein Niemand. Erst der Name macht einen Menschen unverwechselbar. Wenn ich jemanden mit Namen anspreche, sage ich: Ich kenne dich. Du bist für mich nicht irgendwer. Ich meine dich ganz persönlich. So wird es auch von Gott gesagt. Er ruft jeden Menschen beim Namen. Vor gut 2500 Jahren hat das ein Prophet beschrieben, den wir Jesaja nennen.

Jesaja schreibt für sein Volk, das zu der Zeit im Exil leben muss. Da sitzen sie im fremden Land „an den Wassern Babylons“, vertrieben aus ihrer Heimat durch den babylonischen König Nebukadnezar. Ihr Land ist zerstört wie ihre heilige Stadt Jerusalem. Gott lässt sie wissen: Sie sind nicht vergessen. Ihre Namen sind aufgehoben bei Gott.

„Und nun spricht Gott, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!
Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen;
und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.
Denn ich bin dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir.
Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln,
ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück!
Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde,
alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“

​​(Jesaja 43, 1 – 3, 5 – 7) 

Gott kündigt seinem Volk die Errettung, die Befreiung aus Babylon an. Aber er redet so, als sei das alles schon passiert. Die Befreiung, die Erlösung sind Perspektiven, die aus Gottes Sicht bereits geschehen sind. Das aber heißt für die Israeliten: Die Erlösung wird ganz sicher stattfinden. Auf Gott ist Verlass, kennt er doch die Namen.

Gott kennt die Namen, Gott ruft beim Namen. Der Prophet Jesaja spricht davon. Der Anfang des Prophetenwortes lässt aufmerken:

„Nun spricht Gott, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel“.

Dieser Anfang ist wichtig. Im evangelischen Gottesdienst wird er häufig weggelassen. Das ergibt sich schon vom Druckbild in der Lutherbibel. Erst der zweite Teil des Verses ist fett gedruckt. Und im Fettdruck erscheinen nur die wichtigen, die Kernstellen der Bibel. Jakob und Israel scheinen da nicht so wichtig. So bleibt übrig:

„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“

Diese Worte sind vielen von uns bis heute bekannt – bei Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen. Ein Familienspruch bisweilen. Der Anfang ist verschwunden. Wir kommen ohne ihn aus, unterschlagen die ersten Adressaten, das Volk Israel.

Gott spricht: Du sollst dich nicht fürchten, du bist erlöst, dich habe ich gerufen, mir gehörst du. Das gehört zur christlichenTaufe, keine Frage. Aber Jakob und Israel gehören auch dazu. Denn Gottes Bund mit Israel besteht, und beim Namen gerufen sind alle, Juden, Jüdinnen, Christen, Christinnen und alle Menschen, auch wenn das manchmal unglaublich scheint. Wir dürfen es nicht unterschlagen. Der Schöpfer der Welt hat größere Kraft als die Liebe zu nur einem Volk. Seine Liebe umfasst alle seine Menschenkinder, und die sind mehr als nur Juden und Christinnen.

In der Taufe wird dem Menschen zugesagt: Du Mensch, mit deinem Namen verbindet sich Gottes Namen. Wir taufen nicht auf Mia oder Max, sondern auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wer zur Taufe kommt oder gebracht wird, hat schon einen Namen, und in der Taufe verbindet sich unser Namen mit Gottes Namen. Gott selbst steht schützend um die Menschen und setzt allen Grenzen, die Macht über uns ausüben wollen. Das wird in der Taufe deutlich, erinnert und zugesagt.

Unabhängig von der Taufe ist nicht gleichgültig, welchen Namen wir tragen, wem wir welchen Namen geben oder in wessen Namen wir auftreten. Gerade in einer Zeit, in der immer öfter und in vielen Bereichen Namen durch Ziffern oder Pincodes ersetzt werden, ist es wichtig, dass Menschen durch ihren Namen erkennbar bleiben. Ein Name, das ist keine Ansammlung beliebiger Buchstaben. Der Name ist Familie und Herkunft, Kindheit, Ehe oder Alleinsein, private und öffentliche Seite, guter oder schlechter Ruf, Verwandtschaft, Verbindung zu einer Geschichte.

Viele Eltern wissen das, wenn sie einen Namen für ein Kind suchen. Viele machen sich eine Menge Gedanken dazu. Sie legen Hoffnungen und Wünsche in den Namen, verbinden Glück und Schönes für die Zukunft mit ihm. Zwar treibt die Namenssuche auch mancherlei komische Blüten, so dass immer auch Namen nicht genehmigt werden. Vermutlich sind die Kinder später dankbar dafür, nicht etwa Perry Rodan oder Tarzan heißen zu müssen. Aber ich finde es merkwürdig, dass als Fortschritt gefeiert wird, dass immer öfter Zahlen den Namen ersetzen können. Und wenn die Nummer auf dem Personalausweis öfter gebraucht wird als der Name, ist die Frage, wohin dieser Fortschritt führen wird. Zum Beispiel bei der Aufnahme in ein Krankenhaus, im Gesundheitswesen generell, beim Einkaufen im Internet.

Wenn die Namen verschwinden, verschwinden auch Eigenarten und Wesen der jeweiligen Person, verschwindet das Menschsein – wie damals in den KZs die eintätowierte Nummer die sogenannten „Untermenschen“ markierte, denen das Menschsein abgesprochen wurde. Und einige Zeit zuvor schon die Anordnung, die Ausweise jüdischer Menschen mit dem Zusatz zu den Namen zu ergänzen: „Sara“ bei Frauen und „Israel“ bei Männern. Besonders perfide, weil damit der Glauben verhöhnt wurde. Sara und Israel waren Namen, die Gott selbst für die Menschen seines Volkes ausgesucht hatte, wie die Bibel berichtet.

Es verletzt in besonderer Weise die Würde eines Menschen, wenn jemand aus Spott und Hohn umbenannt wird. Umbenennungen spiegeln meist auch die Machtverhältnisse. Sie sind manchmal mit viel Geld verbunden. Wir kennen das, wenn Fußballstadien umbenannt werden, weil die Sponsoren genannt werden müssen: Commerzbank – Arena statt Waldstadion in Frankfurt oder AOL – Arena statt Volksparkstadion in Hamburg. Die Führer der französischen Revolution haben 1789 alle Tage und Monate umbenannt, um deutlich zu machen, wer zu sagen hat.

Ähnlich ging es auch bei den Städten: Stalingrad statt Wolgograd in Russland oder Karl-Marx-Stadt statt Chemnitz in der früheren DDR. Heute wird von Namenskämpfen aus der Ukraine berichtet: Orte, Städte, die russische Ortsschilder erhalten sollen, um zu beweisen, wer die neuen Herren sind. Und umgekehrt, wo die russischen Namen nicht mehr genannt werden dürfen. Namen haben Macht, und nicht immer gehen Menschen sorgsam damit um.

Wie gut, dass es viele Beispiele gibt, wo sie das tun – mit Respekt jemanden mit Namen anzureden. Mit Respekt die Toten zu erinnern. Wie bei der Aktion der Stolpersteine.
Ein weiteres Beispiel, wo inzwischen sorgsam mit Namen umgegangen wird, hat etwas mit Friedhöfen zu tun. Im früheren Ostpreußen, in Pommern, an Orten, aus denen Deutsche während und nach dem Krieg vertrieben wurden, gibt es viele Friedhöfe, die verrotten und kaum mehr zur Erinnerung taugen. Seit einigen Jahren sind Initiativen entstanden, diese Friedhöfe zu pflegen, soweit es noch geht. Mit der christlichen „Aktion Sühnezeichen“ kann man/frau sich für kürzere oder längere Zeit an solcher Pflege beteiligen.

Diese Beispiele sind inspiriert von der biblischen Botschaft, wie liebevoll Gott mit Namen umgeht. Mit meinem und mit dem jedes Menschen. Er ruft beim Namen. Unsere Namen sind aufgehoben bei ihm, nicht Schall und Rauch, sondern bleibende Erinnerung. Von Gott beim Namen gerufen, das hat für Juden und Christen eine weltweite Perspektive. So sagte es der Prophet Jesaja:

„Ich will von Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln,
ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte nicht zurück!
Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde,
alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.“


Gott ruft in die Völkerwelt hinein. Er ruft Menschen beim Namen, die noch nichts von ihm wissen, die bestimmt nicht christlich aufgewachsen sind. Die Namen bleiben bekannt und aufgehoben – Gott sei Dank!

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