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Antonia Werr und die Chance des Neubeginns
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Antonia Werr und die Chance des Neubeginns

Helmut Schlegel
Ein Beitrag von Helmut Schlegel, Franziskanerpater, Exerzitienbegleiter und Geistlicher Begleiter, Frankfurt
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Der Zettel war handgeschrieben und hing an einer Straßenlaterne, an der ich zufällig vorbeikam. Darauf war zu lesen: „An Menschen, die zur Risikogruppe gehören. Wenn Sie Hilfe brauchen beim Einkaufen oder anderen Besorgungen: wir sind eine Gruppe von Jugendlichen, die Sie gerne unterstützen. Reißen Sie einfach an diesem Zettel eine Telefonnummer ab und rufen Sie an. In jedem Fall wird Ihnen eine oder einer von uns helfen.“

Mutmachzeichen

Ich habe mich über diesen Zettel einfach gefreut. Und mir ist bewusst geworden: Ich erlebe ständig solche Mutmachzeichen. Ich begegne jeden Tag Menschen, dir mir spontan zur Seite stehen. In meiner Erinnerung sind Gesichter aufgetaucht: Erzieherinnen und Lehrer, Nachbarinnen und Kollegen, Angehörige, Freundinnen und Freunde. Da sind auch Menschen, deren Namen ich gar nicht kenne: die Autofahrerin, die mich als Fußgänger freundlich über den Zebrastreifen winkt, der Kollege, der gegen böse Gerüchte Stellung bezieht, die Jugendliche, die sich für den Rempler in der U-Bahn entschuldigt. Viele standen nur am Rand meines Weges und haben mir ein Zeichen gegeben. Andere spielen eine zentrale Rolle. Menschen, die mir Mut machen: Für mich gehören dazu auch Menschen aus der Geschichte. Oder jene die wir „Heilige“ nennen. Ich denke dabei weniger an jene Frauen und Männer, die auf frommen Bildern mit Heiligenschein dargestellt sind. Die meisten Heiligen sind unbekannt. Darunter sind Christinnen und Christen und auch Andersgläubige. 

Musik 1: Clara Schumann, Complete Piano Works, CD 1, Nr. 5, Romanze B-Moll, 00:00 – 01:44

In dieser Morgenfeier werden Sie Musik von zwei Komponistinnen des 19. Jahrhunderts hören: von Clara Schumann und Fanny Hensel Mendelssohn. Das passt gut zu der Frau, die ich Ihnen vorstellen werde: Antonia Werr, eine heilige Frau des 19. Jahrhunderts. Sie ist zwar keine offizielle katholische Heilige, aber wer sie kennenlernt, spürt bald: Auf derlei Anerkennung hat sie in keiner Weise Wert gelegt. 

Jetzt erst recht!

Antonia Werr ist ihr Name. Sie ist eine katholische Ordensgründerin. Das ist für mich allerdings nicht das herausragende Merkmal. Im 19. Jahrhundert gab es Dutzende Ordensgründerinnen. Diese Frauen haben gesehen, wie bedrückend die sozialen Folgen der Industrialisierung waren: massive Arbeitslosigkeit, unzureichende Krankenversorgung, Mangel an Schulen und Bildungseinrichtungen, Seuchen. Große Teile der Bevölkerung lebten in extremer Not - auch bei uns in Deutschland. Die Ordensgründerinnen haben gegen die Not ihrer Zeit angekämpft. In der Regel waren sie aber dabei sehr loyal gegenüber ihrer ganz und gar von Männern geprägten katholischen Kirche. Viele von ihnen haben sich einfach dem Diktat der kirchlichen Behörden unterworfen. Nicht so Antonia Werr. Sie verstand sich als gläubige Katholikin, aber sie ist keine Sekunde lang von der Spur ihres persönlichen Gewissens abgewichen. Sie hatte eine Vision von einem Leben nach Jesu Vorbild, und dieser Vision ist sie konsequent gefolgt. Antonia Werr hat, wo sie es für nötig fand, auch den höchsten kirchlichen Stellen den Kampf angesagt. Als sie durch einen befreundeten Priester dem Generalvikar von Würzburg ihre Absicht vortragen ließ, eine Einrichtung für strafentlassene Frauen zu gründen, da wischte dieser den Plan mit einer abschätzigen Handbewegung vom Tisch. Darauf reagierte Antonia Werr so: 

„Der Herr Generalvikar hatte also mit allen seinen kränkenden Reden nichts anderes bezweckt, als das, dass er meinen Mut reizte, wie den einer Löwin, der man die Jungen rauben will (...) Nicht einen Fingerbreit gehe ich wegen dieser Demütigungen von meinem Ziel ab; nicht einen Augenblick fällt es mir ein, um es zu erreichen, den Weg der Heuchelei und falscher, erhaben scheinender Frömmigkeit zu gehen, oder jemanden deshalb zu schmeicheln. Nie! Gewiss nicht! Lieber trage ich das Kleid der Bettlerin und werde arm, blutarm, als dass ich von dem abgehe, was ich als das Rechte, das Wahre erkenne!“ (AKO, 56. W–P 54, [18.11.1854], 164.)

Musik 2: C. Schumann, CD 1, Nr. 15, Soirées Musicales, 00:00 – 01:05

Ich kannte Antonia Werr bis vor wenigen Wochen nur dem Namen nach. Ihre selbstbewusste Persönlichkeit und ihr kämpferisches Auftreten haben mich neugierig gemacht. Wer ist diese taffe Frau, die es im 19. Jahrhundert gewagt hat, einem Generalvikar die Stirn zu bieten?  

Geboren wurde sie am 14. Dezember 1813 in Würzburg. Ihr Vater starb zwei Tage vor ihrer Geburt an Typhus, nachdem er sich beim Krankendienst angesteckt hatte.

Antonia und ihr "eigener Weg"

Ihre Mutter hatte danach sieben Kinder zu versorgen. Diese Situation hat Antonia gewiss geprägt und schon früh ihr Bewusstsein für die soziale Not ihrer Zeit geschärft. Als die Jüngste blieb sie bei ihrer Mutter Agnes bis zu deren Tod. Dann folgte sie ihrem inneren Ruf. Sie war fasziniert vom Weg Jesu, von seinem unbedingten Gottvertrauen und der radikalen Menschenliebe, die ihn zu den Menschen am Rand der Gesellschaft und der etablierten Religionsgemeinschaft führte. Antonia Werr suchte lange, wie sie Jesus folgen und der sozialen Not ihrer Zeit entgegenwirken konnte. Es gab in der Mitte des 19. Jahrhunderts schon etliche religiöse Gemeinschaften, die sich etwa in der Krankenpflege, der Kinderhilfe oder der Armenführsorge engagierten. Antonia Werr entschied sich für keine der bestehenden Kongregationen, sondern ging ihren ganz eigenen Weg. Sie hatte eine Gruppe entdeckt, die durch alle sozialen Raster fiel: Frauen, die straffällig geworden waren und die man nach Abbüßung ihrer Strafe aus der Haft entlassen hatte. Sie hatten es wegen mehrfacher Diskriminierung damals besonders schwer. Selbst in kirchlichen Kreisen war es verpönt, sich um strafentlassene Frauen, Landstreicherinnen und Prostituierte zu kümmern. Mit ihrer Vergangenheit standen sie sogar außerhalb des Gesichtsfeldes christlicher Caritas. Sie galten - selbst wenn ihr Delikt ein einfacher Diebstahl war - als geächtet und ausgestoßen.

Aus einem Brief, den Antonia Werr schrieb, kann entnommen werden: Nicht wenige dieser Frauen wurden durch ihre missliche Lage in den Suizid getrieben. Sie schrieb:

„In Würzburg wurde mir von einigen Personen zugeredet, mich lieber für verwahrloste Kinder zu entscheiden; aber meine erste und Hauptidee war stets die, ein Institut zu gründen, wo jene unglücklichen Seelen Aufnahme finden sollten, die (...) bereits das tiefe Elend schon kennen gelernt und keine andere Hoffnung mehr haben als den Tod, der ihrem Elend ein Ende macht. (Archiv Kloster Oberzell, 7. W-P 53 [ca. 12.] /14.12.1853, 35)

Musik 3: C. Schumann, CD 1, Nr. 17, Etude As-dur, 00:00 – 01:44.

Eine menschenwürdige Perspektive

Gegen kirchlichen und staatlichen Widerstand setzte Antonia Werr ihren Plan durch, den strafentlassenen Frauen eine menschenwürdige Perspektive zu bieten. Inzwischen hatte sie vier Frauen gewonnen, die mit ihr das Projekt starten wollten. Mit Unterstützung des befreundeten Freiherrn von Pelkhoven mietete sie das so genannte „Schlösschen“ in Oberzell bei Würzburg und konnte an Pfingsten 1855 das Haus für strafentlassene Frauen eröffnen. 

Bei der Kirche stieß nicht nur dieses Projekt auf Widerstand, sondern auch die Tatsache, dass sie als Frau es wagte, ein Resozialisierungskonzept für die betroffenen Frauen zu entwerfen. Antonia Werr hatte die Vision eines spirituellen Heilungsweges für Frauen, begleitet von Frauen. Dabei war sie keine Frauenrechtlerin im heutigen Sinn. Tatsächlich gab es schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine erste Frauenbewegung: Sie kämpfte für das Wahlrecht oder für das Recht auf Bildung und Erwerbstätigkeit. Aber in kirchlichen Kreisen waren solche Gedanken noch völlig tabu. Dort hatten allein Männer das Sagen. Antonia Werr ging es in ihrem Einsatz für Frauen nicht nur um ein soziales, sondern vor allem um ein geistliches und pastorales Konzept. Eine französische Karmelitin hatte sie angeregt, ein eigenes Gebetbuch zu schreiben. Allerdings wusste sie: Ein von einer Frau verfasstes geistliches Buch hatte keine Chance auf kirchliche Anerkennung. Also bat sie den Franziskanerpater Franz Ehrenburg, der sie beim Schreiben des Buches beraten hatte, um die Herausgabe in seinem Namen. Wörtlich begründete sie diesen Schritt so: 

„Da ich als Frauenzimmer in der Kirche keine Stimme habe, folglich so viel als tot bin, so muss doch jemand seinen Namen hergeben, und er hat das Recht darauf; denn er hat geholfen. Ich war der Schmied, der aus dem Groben schmiedete, er polierte es.“(AKO, 56. W–P 54 [18.11.1854], 166–167.)

Keine Chance

Ich entdecke in dieser pragmatischen Lösung auch einen Schuss Humor und Schalkhaftigkeit: Der Schmied schickt den Polierer zur Genehmigungsbehörde für das Produkt! Dass die bischöfliche Behörde allerdings auch den Franziskanerpater abservierte, traf Antonia Werr umso tiefer. Ihr Gebetbuch durfte auch unter dessen Namen nicht veröffentlicht werden.

Musik 4: C. Schumann, CD 1, Nr. 10, Prélude F-Moll, 00:00 - 01:33

Das gleiche Recht

Antonia Werr war sensibel genug, um zu spüren: die straffällig gewordenen Frauen waren weitgehend unverschuldet auf Abwege gekommen. Bei vielen waren es die familiären Verhältnisse, bei anderen waren es Armut und Hunger, die sie zum Diebstahl oder zur Prostitution zwangen. Antonia wollte ihnen ihre menschliche Würde zurückgeben und sie spüren lassen: Ihr seid wie alle anderen Menschen Gottes geliebte Kinder. Schritt für Schritt hat sie die Frauen darauf vorbereitet, in einer Lebensbeichte zu erfahren: Ich habe ein Recht zu leben - als Frau. Auch als straffällig gewordene Frau darf ich mich von Gott geliebt und geheilt wissen. Mehr und mehr spürte sie: Es ist wichtig, dass Frauen von Frauen begleitet werden. Und diese haben die geistliche Kompetenz dazu. Wieder wurde sie beim Bischöflichen Ordinariat angezeigt und wieder wehrte sie sich vehement. Ja, sie setzte diesen pastoralen Ansatz - Frauen begleiten Frauen - als Bedingung dafür, das Projekt fortzuführen. Und sie setzte sich durch. Dass dies im konservativen Katholizismus des 19. Jahrhunderts möglich war, grenzt an ein Wunder. In welches „Sperrgebiet“ sich Antonia Werr begeben hatte, zeigt die Aussage der Kirchenhistorikerin Relinde Meiwes: 

Die Versuche von Frauen, sich auch im seelsorglichen Bereich gewisse Kompetenzen anzueignen, wurden von der Kirche [...] nicht geduldet. Sobald sie die Autorität der kirchlichen Hierarchie, das heißt in der katholischen Kirche immer die Autorität der Männer antasten, kam es zu Konflikten; und die Kompetenzüberschreitungen der Frauen wurden zu verhindern versucht.“(Meiwes, Relinde: „Arbeiterinnen des Herrn“. Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main: Campus Verlag GmbH 2000, 66–67.)

Musik 5: Fanny Mendelssohn-Hensel, Klavierwerke, Nr. 9, Andante G-dur, 00:00 – 01:32.

Das monatliche Weihnachten-feiern

Es gibt bis heute Ordensschwestern, die in den Spuren dieser besonderen Frau des 19. Jahrhunderts, den Spuren von Antonia Werr weitergehen. Was mir an der Gemeinschaft besonders gefällt, ist das monatliche Weihnachten-feiern. Sie haben richtig gehört. Die Gründerin hat ihrer Gemeinschaft ins Stammbuch geschrieben: An jedem 25. des Monats wird Weihnachten gefeiert. Und ganz bewusst nennt Antonia Werr ihre Gemeinschaft „Kongregation der Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu“.

Dass dies keine versponnene Frömmigkeitspraxis ist, zeigt ihr Konzept der Resozialisierung. Antonia sieht in der Menschwerdung Gottes die offene Türe zur Menschwerdung des Menschen. Wie ihr großes Vorbild Franz von Assisi nimmt sie den Menschen Jesus in Blick. Das Kind, das bedürftig ist, die Flucht vor der Verfolgung, die langen Jahre des Erwachsenwerdens, die harte Arbeit als Bauhandwerker, das Scheitern seiner Botschaft an der Hartleibigkeit religiöser Institutionen, sein gewaltsames Sterben. Antonia spürt: Dieser Weg des Menschseins Gottes ermutigt uns, den eigenen Weg der Menschwerdung zu gehen. Sie spürt: Geboren werden ist kein einmaliger Vorgang. Unsere Geburt vollzieht sich jeden Tag. Geburt ist die Chance, immer wieder neu anfangen zu dürfen. In der Konsequenz gibt es kein für immer verkorkstes Leben. Es gibt keinen Menschen, den wir für immer abschreiben dürfen. 

Musik 6: F. Mendelssohn-Hensel, Nr. 12, Allegro Vivace H-dur, 00:00 – 01:50.

Das Fest des Anfangs

Im Grunde darf ich jeden Tag Geburtstag feiern. Dabei geht es nicht um die Glückwünsche und die Geschenke. Es geht um das Fest des Anfangs. Ich habe immer die Freiheit, neu zu beginnen. Nichts muss so sein, wie es immer schon war. - Ich finde diesen Gedanken auch in den biblischen Texten wieder. So etwa in der Apostelgeschichte, die vom Beginn der jungen Kirche nach der irdischen Zeit Jesu erzählt. Heute wird in den katholischen Gottesdiensten der folgende Abschnitt daraus gelesen:

Als Jesus in den Himmel aufgenommen worden war, kehrten sie von dem Berg, der Ölberg genannt wird und nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück. Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben. (...) Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern.“ (Apg 1, 12-14)

Ein völlig neuer Anfang. Kein Jammern: Jesus ist uns genommen und ohne ihn geht nichts. Nein, die Christinnen und Christen der ersten Zeit gehen ins Gebet und hören, was Gott ihnen mit auf den Weg gibt. Die Jesusgeschichte geht weiter - aber doch anders. Ihre eigenen Kräfte sind nun gefragt. Und das Vertrauen auf die Heilige Geistkraft. 

Keine Festlegung auf die Vergangenheit

Jeder Tag ein Geburtstag. Auch Gott wird jeden Tag neu geboren - in mir, in uns. Dieser Gedanke fasziniert mich. Ich wünschte mir, ich könnte das öfter beherzigen. Nicht nur für Menschen, die schuldig geworden sind, für uns alle ist es eine befreiende Wahrheit: Ich bin nicht, die oder der ich immer war. Ich bin mehr als gestern und vorgestern und all die Jahre. Ich wünsche auch uns in der Kirche die Gewissheit: Wir sind nicht festgelegt auf die Vergangenheit. Das gilt nicht zuletzt für die Frage der Übertragung von Ämtern und Verantwortung an Frauen. Kirche kann und muss sich wandeln. Christus wird in ihr täglich neu geboren. Antonia Werr ist eine Vorkämpferin auf dem Weg der Gleichstellung von Frauen und Männer in der Kirche. Sie ist wirklich ein Vor-Bild. Die Schwestern in ihrem Orden feiern bis heute an jedem 25. im Monat Weihnachten. Morgen ist der 25. Mai. Ich werde mitfeiern. 

Musik 7: F. Mendelssohn-Hensel, Nr. 1, Wanderlied, 00 .00 – 02:30

 

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