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Jetzt! Wenn Zeit und Ewigkeit einander berühren
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Jetzt! Wenn Zeit und Ewigkeit einander berühren

Stephan Krebs
Ein Beitrag von Stephan Krebs, Evangelischer Pfarrer, Langen

Es gibt Momente, in denen öffnet die Seele ihre Türen ganz weit. Äußerlich muss dafür gar nicht viel passieren. Aber im Inneren fühlt sich das Leben plötzlich viel intensiver an als sonst. Man versinkt ganz und gar im Hier und Jetzt. Dieses Erlebnis lässt sich als Glücksgefühl beschreiben. Aber man kann darin auch mehr erkennen: eine Berührung mit dem Urgrund des Seins, mit Gott.

Intensive JETZT-Erlebnisse sind zu einer wichtigen Sehnsucht geworden. So soll sich das Leben möglichst oft anfühlen. Wirklich neu ist das allerdings nicht. Solche JETZT-Erlebnisse haben Menschen vermutlich schon immer als schön empfunden. Mir scheint aber: Heute bedeuten sie noch mehr als früher. Sie sind zu einer wichtigen Währung für den Sinn des Lebens geworden. Gut ist das Leben erst, wenn es möglichst viele dieser vollendeten Augenblicke aufzuweisen hat. Die Folge: Viele spüren einen dauernden Erlebnishunger. Um ihn zu stillen, pressen sie möglichst viel in ihre Tage hinein: das Wochenende voller Pläne, Urlaube möglichst oft und exotisch. Immer in der Annahme, dass man dabei mehr intensive Hier-und-Jetzt-Erlebnisse hat als zu Hause. Auch sonst wird vieles hochstilisiert – der Einkauf soll zum unvergesslichen Shopping-Ereignis werden, der Heiratsantrag eine filmreife Hollywood-Inszenierung, das Jubiläum ein einzigartiges Erlebniskunstwerk.

Leider hat dieses Streben nach der Optimierung der eigenen Lebenszeit einen Haken. Egal was ich tue: Der Hunger nach dem intensiven JETZT vergeht nicht. Er lässt sich nicht dauerhaft stillen. Was hat es mit der Jagd nach dem JETZT auf sich? Das möchte ich nun genauer herausfinden.

Musik: “Short ride in a fast machine” (John Adams)

Der Hunger nach intensiven JETZT-Erlebnissen ist bei vielen groß. Gerne möchte ich ihn etwas genauer verstehen. Zuerst frage ich: Wie fühlt sich dieses intensive JETZT an? Ein Freund erzählte mir von einem solchen Moment auf einer Reise durch Peru. Dabei waren er und seine Freundin zum ersten Mal weit weg von zu Hause. Sie sitzen in einem klapprigen Bus, der sich über eine Passstraße in das Gebirge der Anden hochschraubt. Um sie herum tut sich eine grandiose Bergkulisse auf. Hinter den Bergen, geht glutrot die Sonne unter. Zu dieser großartigen Szenerie passt perfekt die Musik, die der Busfahrer abspielt. Da erfasst meinen Freund plötzlich dieses unglaubliche Glücksgefühl, ein Augenblick, um darin zu versinken – am liebsten für immer. Natürlich möchte er diesen Moment mit seiner Freundin teilen. Er schaut sie an, sucht den Blickkontakt. Doch sie kauert neben ihm – lustlos lässt sie ihren Kopf hängen, genervt von der staubigen Luft und vom ewigen Schaukeln des Busses. In diesem Moment, so erzählt mein Freund, wurde ihm klar: „Das ist nicht die richtige Frau für mich. Denn sie kann diesen Moment nicht mit mir teilen.“ Jäh wendet sich sein intensives JETZT-Erlebnis.

Zum Glück bleibt man damit nicht immer allein. Man kann solche Momente gemeinsam erleben – und dann werden sie oft noch viel intensiver. Das erleben die Jünger von Jesus, das berichtet die Bibel in der Geschichte über Pfingsten. (Apostelgeschichte 2) Sie beginnt ganz kümmerlich: Die Jüngerinnen und Jünger Jesu sitzen verängstigt zusammen. Irgendwo in Jerusalem haben sie sich in einem Haus getroffen und wissen nicht weiter. Jesus ist gen Himmel gefahren. Die Jünger hat er einfach zurückgelassen. Nun finden sie sich wieder – ohne Jesus, ohne seinen Schutz, ohne seine Leitung. Was sollen sie tun? Sie haben keine Ahnung. Da geschieht das, was die Bibel als Pfingstwunder beschreibt. Aus dem Himmel ertönt ein Brausen. Feuerzungen kommen von oben und legen sich auf das Haus und auf die Jüngerinnen und Jünger. Leute aus der Umgebung laufen herbei und wollen sehen, was da passiert.

Die Jünger gehen vor das Haus und fangen an, mit diesen Leuten zu sprechen. Sie kommen aus aller Herren Länder, denn Jerusalem ist zu jener Zeit ein internationaler Schmelztiegel der Völker, Kulturen und Sprachen. Dennoch verstehen alle, was die Jünger sagen. Jeder in seiner Sprache. Eigentlich unmöglich! Ein Wunder. Aber das ist noch nicht alles. Sie verstehen nicht nur die Worte, die die Jünger in ihrem Galiläa-Dialekt aussprechen. Sie verstehen auch deren tieferen Sinn. Sie werden davon im Innersten berührt. Herz und Verstand öffnen sich für das, was sie über Jesus Christus hören. Sie spüren die Kraft, die jetzt gerade von den Jüngern ausgeht.

In diesem Moment hat noch niemand so recht verstanden, was passiert: Der Heilige Geist Gottes ist zu ihnen gekommen, um den Graben zwischen Gott und den Menschen zu überwinden. Diese Pfingstgeschichte beschreibt einen vollendeten Augenblick der Gemeinschaft. Und deutet sie als direkte Berührung mit dem Heiligen Geist Gottes.

Musik: “Summer of Life” (Johan Wagenaar)

Ich bin intensiven JETZT-Erlebnissen auf der Spur. Um sie besser zu verstehen, frage ich nun: Was ist dieses JETZT überhaupt? Es ist der Moment, der eben jetzt ist. Und der eigentlich jetzt auch schon wieder vorbei ist, weil ihn ein neues Jetzt verdrängt hat. Das Jetzt ist kurz, es dauert nur etwa 2,7 Sekunden. Das haben Forscher herausgefunden. Das, was wir im Durchschnitt als Jetzt erleben, als kompakten Augenblick, als emotionale und gedankliche Sinneinheit, das dauert ungefähr 2,7 Sekunden. So lang ist die kürzeste musikalische Sinneinheit. Und ungefähr so lange schauen wir auch am Straßenrand auf ein Plakat, bevor wir entscheiden, ob wir uns dafür interessieren oder nicht – einen Augenblick lang eben.

Vergangenheit und Zukunft sind lang. Aber die unmittelbare Gegenwart ist dieses Jetzt mit seinen gerade einmal 2,7 Sekunden. Es ist zwar eine sehr kurze, aber ungeheuer aktive Zeit. Doch die physikalische Messung der Zeit reicht nicht aus, um das Jetzt wirklich zu verstehen. Einen Schritt weiter bringt uns die Philosophie. Denn sie unterscheidet zwischen der physikalisch messbaren Zeit und der Bedeutung der Zeit. Dafür haben schon die alten griechischen Philosophen Worte gefunden: Für sie war Chronos das unbeirrbare Schlagwerk der Minuten und Tage. Davon unterschieden die Philosophen den Kairos: die mit Sinn und Bedeutung angefüllte Zeit. In ihr kann aus dem kleinen 2,7-Sekunden-Jetzt ein tiefes, nahezu ewig anmutendes JETZT-Erlebnis werden. Ein Augenblick, in dem die Zeit und die Ewigkeit einander berühren. So hat es der Philosoph Sören Kierkegaard formuliert.

Fragt sich: Wie wird aus einem kleinen, unbedeutenden Chronos-Jetzt ein großes, Sinn-erfülltes Kairos-JETZT? Darauf gibt es eine naturwissenschaftliche Antwort. Sie lautet: Durch Flow – übersetzt etwa: im Fluss. Aber der deutsche Fachbegriff für den Flow lautet eigentlich „Schaffens-Tätigkeits-Funktionslust“. Das klingt kompliziert, verrät aber schon etwas über seinen Sinn. Deshalb noch einmal dieses lange Wort: „Schaffens-Tätigkeits-Funktionslust“.

Die erlebt jemand, der ganz ergriffen ist von dem, was er gerade tut. Er kann es auch, es fasziniert ihn und es fordert ihn ganz heraus. Oft erleben das Sportler im Wettkampf, Ärzte im Operationssaal oder Wissenschaftler bei einem wichtigen Experiment. Risikosportarten wie Drachenfliegen und Motorradfahren haben diesen Kick. Segler, Skifahrer und Tänzer gehen ebenfalls oft ganz im Hier und Jetzt auf. Auch wer intensiv meditiert oder betet, kann einen Flow erleben.

Allerdings: Oft nehmen sie das in diesem Moment gar nicht bewusst wahr. Dafür sind sie viel zu erfüllt von dem, was sie gerade tun. Erst im Nachhinein verstehen sie, dass sie in einem Flow waren, also einen intensiven JETZT-Moment erlebt haben.

Einen eigenen Blick darauf eröffnen die Religionen. Religiöse Menschen öffnen sich im Flow für Gott. Christen werden von seinem Geist berührt, werden eins mit Gott. In diesen Momenten verbinden sich höchste Intensität mit innerer Leere. Man wird ganz frei und offen für das JETZT. In solchen Augenblicken verliert Chronos, das Schlagwerk der Zeit, seine Bedeutung, denn jegliches Zeitgefühl wird außer Kraft gesetzt. Das Hier und JETZT ist auf geheimnisvolle Weise verknüpft mit seinem Gegenteil, dem Für immer und ewig.

Musik: Suite Siciliene aus „Pelléas et Mélisande“ (Gabriel Fauré)

Ich bin intensiven JETZT-Erlebnissen auf der Spur. Woher kommt die Sehnsucht nach solchen vollendeten Augenblicken? Mir scheint: Sie ist dem Menschen von Grund auf eigen. Er sehnt sich nach etwas, das er schon sehr früh verloren hat – vielleicht schon bei der Geburt. Damit meine ich dieses einfach in sich ruhende Dasein – ohne Distanz zum eigenen Leben – losgelöst von Raum und Zeit. Wann ist es verloren gegangen? Und warum?

Darum geht es in der vielleicht berühmtesten Geschichte der Bibel. Sie steht gleich am Anfang und entwirft das Bild vom Paradies, einem üppigen und immerwährenden Garten. Darin leben die Menschen zusammen mit Gott sorgenfrei vor sich hin. Doch Adam und Eva, die biblischen Urahnen der Menschheit, sind damit nicht zufrieden. Sie wollen mehr. Deshalb essen sie vom verbotenen Baum der Erkenntnis. Dafür straft sie Gott, indem er sie verbannt – aus seiner Nähe, aus dem Garten, aus einem sorgenfreien Leben jenseits von Raum und Zeit.

Dieses Zerwürfnis mit Gott steckt jedem Menschen in den Knochen: Getrennt von Gott, getrennt vom Einfachdasein. Stattdessen hineingeworfen in ein anstrengendes Leben, das auf den Tod zugeht. Und irgendwo in der Seele steckt eingebrannt das Wissen: Es war einmal anders. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat dieses Drama in einem starken Satz zusammengefasst: „Gott ist die ewige Gegenwart, die wir nicht haben können.“ Zurückzukehren in diese ewige Gegenwart Gottes, zurück zu einem Ursprung, den die Seele bis heute erahnen kann – das wäre die Mutter aller JETZT-Erlebnisse. Insofern ist die Sehnsucht nach dem JETZT ein Aufstand gegen die Vergänglichkeit, getragen von dem Verlangen wieder in die ewige Gegenwart Gottes einzutauchen.

Musik: „In paradisum“ aus „Requiem“ (Gabriel Fauré)

Die Sehnsucht nach dem intensiven JETZT ist uralt. Fragt sich: Warum ist diese Sehnsucht heute besonders stark geworden? Mir scheint: Weil sie die einzige Währung für den Sinn des Lebens ist, die viele heute noch haben. Früher gab es dafür noch andere Währungen. Da gehörte man einem Stand an, der gab einem Sinn und Halt. Man war Arbeiter, Bürgerlicher oder Adliger und war stolz darauf. Oder man war möglichst diszipliniert, fleißig und reich.

Eine weitere Währung war der Glaube. Man war evangelisch, katholisch oder jüdisch. Was dazu gehörte, tat man und fand darin seinen Sinn. Dazu gehörte auch, eine Hoffnung zu haben, die über den Tod hinausreichte. Davon konnte man sich noch ganz viel versprechen. Das Leben im Hier und Jetzt war lediglich eine Zeit der Bewährung. Man wusste: Da kommt noch was. Um auf dieses strahlende Kommende hinzuweisen, verwendet die Bibel oft das Wörtchen Jetzt. So auch der Evangelist Lukas in seinen Seligpreisungen: „Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden. Selig seid ihr, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen. Freut euch an jenem Tage und tanzt, denn siehe euer Lohn ist groß im Himmel.“ (Lukas 3) Diese Hoffnung hat schon viele Gläubige durch die Mühen des Lebens getragen. Sie wussten: Das Leben ist nur der Weg zu jenem Augenblick, indem sie bei Gott lachen und tanzen werden.

Doch diese Hoffnung ist heute vielen verloren gegangen. Geblieben ist die Sehnsucht nach den JETZT-Momenten. Die müssen nun allerdings alle in diesem Leben stattfinden, am besten also Jetzt. So gesehen ist jeder Moment, der scheinbar achtlos verstreicht, eine vertane Chance, ein unwiederbringlicher Verlust. JETZT-Jäger fürchten sich davor, etwas zu verpassen. Sie sehen die vielen vergangenen Jetzt-Momente. Und sie sehen die künftigen Jetzts. Es sind unzählig viele. Doch nur wenige davon werden zum Zug kommen. Alle anderen landen auf der Müllhalde des Lebens: verpasst, übersehen, nicht gelebt. Das passiert ständig und überall. Auch jetzt. Wer Radio hört, entscheidet sich damit gegen eine CD, gegen den Fernseher und auch gegen die Stille.
Das mag banal klingen. Aber darin steckt für viele ein großes Drama. Ihnen fällt es schwer, mögliche JETZTs einfach verstreichen zu lassen. Sie wollen möglichst viele davon leben. Am liebsten alle. Nur nichts verpassen! Aber das geht nicht. Wer es dennoch versucht, gerät unter enormen Druck: Erlebnisoptimierungsstress. Der verhindert womöglich gerade das, was er anstrebt. Wer nichts verpassen will, wird das Wichtigste womöglich verpassen.

Musik: „Jeu des princesses avec les pommes d’or” aus „Der Feuervogel“ (Igor Stravinsky)

Am Ende meiner Suche nach dem intensiven JETZT-Gefühl steht noch eine wichtige Frage: Kann man einen solchen Moment selber schaffen? Das ist scheinbar möglich, aber schwierig. Das zumindest legen die ungezählten Ratgeber, psychologischen Programme und Selbstoptimierungs-Trainings nahe. Unverzichtbar ist dabei wohl die Fähigkeit, sich ganz auf das zu konzentrieren, was jetzt gerade dran ist. Aber schon das fällt vielen schwer. Sie sind im Kopf meist schon einen Schritt weiter: Beim morgendlichen Waschen denken sie bereits an das Frühstück. Beim Frühstück sind die Gedanken schon bei der Arbeit. Dort eilen die Gedanken zum Feierabend voraus. Und abends beim Fernsehen checken viele nebenbei noch ihre Emails. Da hat es das JETZT ziemlich schwer.
Man kann sich für intensive JETZT-Momente bereit machen. Etwa mithilfe Meditation. Religionen verfügen über Methoden. Dazu gehören Gebete, die in die innere Versenkung führen können.

In der muslimischen Kultur gibt es den Tanz der Derwische. Die drehen sich so lange im Kreis, bis sie in einen religiösen Trance-Zustand verfallen. Christliche Orden haben dafür Exerzitien entwickelt. Das sind Übungen für Körper und Geist: Singen und Schweigen, Gebet und Gymnastik. Das kann helfen, alle Sinne und Gedanken zu fokussieren. Man wird frei und offen für eine Begegnung mit Gott, für eine Berührung seines Heiligen Geistes. Ob das Ersehnte dann auch eintritt, weiß vorher allerdings niemand. Zuverlässig selbst erzeugen kann man JETZT-Erlebnisse wohl nicht. Und festhalten schon gar nicht. Mir scheint sogar: Wer allzu eifrig nach dem intensiven JETZT sucht, wird es eher vertreiben als finden. Am Ende ist das intensive JETZT ein Geschenk. Für mich schenkt Gott darin Berührungspunkte. Das sind einstweilen nur kurze Momente. Aber immerhin: Sie geben bereits einen Vorgeschmack auf das, was noch möglich ist. Das dauerhafte JETZT wird man erst erleben können, wenn man ganz und für immer bei Gott ist. Denn Gott ist das ewige JETZT.

Musik: Suite „Andantino quasi Allegretto“ aus „Pelléas et Mélisande“ (Gabriel Fauré)

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