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Freundschaft in Zeiten von Corona

Freundschaft in Zeiten von Corona

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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Es ist eigentlich immer blöd, wenn Leute ohne Rücksicht durch die Gegend niesen, doch in den letzten Wochen ist es besonders unangenehm. Aber auch wenn Leute ein blasses oder rotes Gesicht haben, sitzen sie seit ein paar Wochen oft ganz allein da. Wenn es einem eh schon schlecht geht, kann das schnell zum Spießrutenlauf werden. Mir ist dazu eine Bildergeschichte des französischen Zeichners Sempé wieder eingefallen, die ich schon lange mag: Marcellin Caillou.

Marcellin hätte ein glückliches Kind sein können wie alle anderen, aber er hatte eine seltsame Krankheit: Er wurde immer rot – ganz ohne Grund. Eine Fee im Wald half nicht, ein versierter Doktor auch nicht, er wurde immer rot und zog sich aus Scham die Mütze über beide Ohren. Wenn er im Bus fuhr, wurde er plötzlich rot. Wenn er am Fluss saß und angelte oder beim Spazierengehen, auch da wurde er rot. Es gab nur wenige Momente, in denen es ihm nichts ausmachte: Als der Lehrer in der Schule sagte, Marcellin hat abgeschrieben, wurden alle anderen auch rot, weil sie dachten, auch sie seien erwischt worden. Nur Marcellin blieb diesmal weiß. Trotzdem wurde Marcellin immer einsamer, weil die anderen Angst hatten, er hätte eine ansteckende Krankheit. So war Marcellin bald sehr allein.

Eines Tages kam er von der Schule nach Hause und hörte auf der Treppe jemand niesen. Es kam aus der Nachbarwohnung, in die eine neue Familie eingezogen war. Marcellin folgte dem Niesen und stand vor einem anderen Jungen im gleichen Alter: „René Rateau“, stellte der sich vor, und sagte: „Nein, ich bin nicht erkältet.“ Und er erzählte ihm seine Geschichte: er spielte Violine, wunderbar, die Leute hörten ihn gern. Bloß dies eine Problem hatte er, ständig zu niesen, ohne Grund. Und so müsse er viele Stücke unterbrechen, selbst bei Konzerten in feiner Gesellschaft hätte sein Niesen schon gestört. Wenn er am Fluss saß und vor sich hin träumte, flogen beim ersten Niesen alle Vögel weg. Der Doktor fand keine Erklärung, selbst ein Zauberer konnte nicht helfen. Beim Lernen der Buchstaben in der Schule lasen alle von der Tafel das „A“. Nur bei ihm kam ein „A, A, A, Atschi“ heraus.

Marcellin störte das nicht. Ihm gefiel der kleine René, die beiden verstanden sich und wurden schnell beste Freunde. Der eine nieste, der andere wurde rot. René spielte Marcellin auf der Geige vor, und Marcellin zeigte René seine neuen Sportübungen. Sie wurden unzertrennlich. Wo Marcellin mit einem roten Kopf auftauchte, da erklang bald ein Hatschi, denn René war nicht weit.

Eine schöne Freundschaft. Die beiden ergänzen sich nicht da, wo sie stark sind, sondern weil sie Verständnis haben für die Schwäche des Anderen.

Das unberechenbare Virus verlangt uns viel ab. Klar, es geht darum, vorsichtig zu sein, aber nicht darum, andere auszugrenzen. Verbundenheit und Nähe lassen sich weiter zeigen, auch mit den erhöhten Regeln zum Schutz der Gesundheit. Schlimm wäre, wenn das Virus am Ende auch unsere Solidarität angreift. Besser wäre es umgekehrt: Der gemeinsame Kampf gegen das Virus wird hoffentlich alte Freundschaften vertiefen oder lässt vielleicht sogar neue entstehen.

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