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Du siehst mich
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Du siehst mich

Doris Joachim
Ein Beitrag von Doris Joachim, Evangelische Pfarrerin, Referentin für Gottesdienst im Zentrum Verkündigung, Frankfurt

Es stärkt, von Gott freundlich angesehen zu werden. Das zeigt die Geschichte der biblischen Sklavin Hagar. Auch ein Beitrag zum Motto des Deutschen Evangelischen Kirchentags im Mai 2017 in Berlin und Wittenberg

Ein echter Hingucker ist das Plakat: Leuchtend orange. Darauf ein Gesicht mit großen Knopfaugen. Der Mund lächelt. Er ist aus Buchstaben gezeichnet und bildet den Schriftzug: Du siehst mich. Dieses Plakat kann man jetzt in Berlin und in anderen Städten an einigen Häusern und Kirchen finden. Bald werden noch viel mehr solcher fröhlicher Gesichter zu sehen sein. In 31 Tagen beginnt der Deutsche Evangelische Kirchentag in Berlin und Wittenberg. Und das ist das Motto. Du siehst mich. Es bezieht sich auf einen Bibelvers aus dem 1. Buch Mose. Eine Frau namens Hagar hat das zu Gott gesagt: Du siehst mich!

Doch wie das Auge Gottes sehen die Augen auf den Plakaten eigentlich nicht aus. Eher ein bisschen wie die Augen und das Gesicht von Ernie aus der Sesamstraße. Der Freund von Bert. Das sind diese beiden liebenswürdigen Figuren, die einem die Welt erklären können wie kaum jemand, und die es immer schaffen, miteinander auszukommen, auch wenn sie sich streiten. Der Vergleich mit den Augen Gottes ist etwas gewagt. Aber wer weiß schon, wie die aussehen? Manche Kritiker des Kirchentagsplakates finden es kindisch und zu wenig ernst. Aber mir gefällt das. Diese leuchtenden Augen erklären mir, wie Gott ist: Freundlich und liebevoll. Ernste oder strenge Augen haben wir schon genug.

Das ist typisch für den Evangelischen Kirchentag – diese Mischung aus fröhlicher Leichtigkeit und ernsten Themen. Das wird auch dieses Jahr in Berlin und Wittenberg so sein. Es wird um die Reformation gehen, die vor 500 Jahren in Wittenberg begann. Und es wird um Hagar gehen, diese Frau aus Ägypten, die das gesagt hat, oder jedenfalls so ähnlich: Du bist ein Gott, der mich sieht. So steht es in der Bibel. Die Geschichte um Hagar ist bitter und ernst. Und gleichzeitig erzählt sie davon, wie tröstlich und stärkend es ist, liebevoll angesehen zu werden. Es steht zwar nichts davon in der Bibel, dass Gott gelächelt hat. Aber ich kann mir die Freundlichkeit Gottes nicht ohne ein Lächeln vorstellen.

Wie wichtig es für die seelische Gesundheit ist, lächelnd angesehen zu werden – das hat das Experiment des US-amerikanischen Entwicklungspsychologen Edward Tronick gezeigt. Er nennt den Versuch: The Still Face. Das stille – oder besser: das starre – Gesicht. Der Versuch geht so: Eine Mutter scherzt und lacht mit ihrem Baby. Das Kind lacht und jauchzt zurück. Nach einer Weile schaut sie das Kind völlig ungerührt an, kalt und starr. Auch spricht sie nicht mehr mit ihm. Das Kind reagiert schockiert. Es versucht, mit Lächeln die Mutter zur Reaktion zu bewegen, greift nach ihr aus, schaut weg, schaut wieder hin. Dann beginnt es sich zu winden und zu weinen. Die Verzweiflung ist groß. Das dauert zwei Minuten. Dann nimmt die Mutter wieder Kontakt auf, lächelt und herzt das Kind. Schnell beruhigt es sich und lacht und jauchzt. Die Welt ist wieder in Ordnung. Das ist zum Glück nur ein kurzer Versuch, um zu zeigen, wie wichtig es ist, liebevoll angesehen zu werden.

Ganz und gar nicht in Ordnung sind die Welt und die Seele eines Kindes, wenn es solchen innigen Kontakt länger nicht hat. Wenn es nie oder nur selten liebevoll angesehen wird, sondern kalt und ohne Gefühl. Erwachsenen geht es da nicht viel anders. „Ich seh dir in die Augen, Kleines.“ Der klassische Satz aus dem Film Casablanca, dieser wunderbare Streifen mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann. Liebevoll gesagt. „Ich seh dir in die Augen, Kleines.“ Und Trost ist da.

Hagar hat beides erlebt: den kalten Blick von Menschen und den tröstenden Blick Gottes. Ihre Geschichte will ich erzählen, gleich nach der Musik.

Hagar war eine ägyptische Sklavin. Sie gehörte Sara. Und Sara war die Ehefrau von Abraham. Die Geschichte dieser Drei steht ganz am Anfang in der Bibel, im ersten Buch Mose. Abraham und Sara sind die Stammeltern der Israeliten. Sie gelten als Vorbilder des Glaubens, vor allem Abraham. Wenn es um Frauen geht, macht Abraham allerdings keine gute Figur. Nicht bei seiner Frau Sara und auch nicht bei deren Sklavin Hagar. Um die Geschichte von Hagar besser zu verstehen, muss erst von Abraham und Sara erzählt werden.

Abraham ist Oberhaupt eines Nomaden-Clans. Nirgendwo ist er zu Hause. Immer wieder neu muss er mit den Fürsten der Gastländer um Bleiberecht verhandeln. Er hat Vieh, Sklavinnen und Sklaven und seine Ehefrau Sara. Die – so heißt es in der Bibel – ist so schön, dass er Angst hat, ihretwegen Ärger mit den jeweiligen Fürsten zu kriegen. Man könnte ihn töten, um sich an seine Frau heranzumachen. Es ist eine Hungersnot, die ihn nach Ägypten treibt. Und weil der Pharao ein Auge auf die schöne Sara geworfen hat, sagt Abraham zu ihr: Sag, du wärst meine Schwester. Sara wird nicht gefragt. Sie hat keine Wahl. Und Pharao nimmt sie sich zur Frau. Im 1. Buch Mose wird das so erzählt:

"Da wurde Sara in das Haus des Pharao gebracht. Und er tat Abraham Gutes um ihretwillen; und er bekam Schafe, Rinder, Esel, Knechte und Mägde, Eselinnen und Kamele. Aber Gott plagte den Pharao und sein Haus mit großen Plagen um Saras, Abrahams Frau willen. Da rief der Pharao Abraham zu sich und sprach zu ihm: Warum hast du mir das angetan? Warum sagtest du mir nicht, dass sie deine Frau ist? Warum sprachst du denn: Sie ist meine Schwester, sodass ich sie mir zur Frau nahm? Und nun sieh, da hast du deine Frau; nimm sie und zieh hin.“ (1. Mose 12,16-19)

Rinder und Kamele für eine Frau. Kein Wort darüber, wie Sara das gefunden hat. Verschachert wie eine Prostituierte wegen der Feigheit ihres Mannes. Leider wird nichts darüber erzählt, ob Gott auch dem Abraham die Leviten gelesen hat. So viel Emanzipation war den Schreibern der Bibel wohl nicht möglich. Aber: Dass das, was Abraham Sara antut, Unrecht ist, das ist klar. Gott sieht es. Er ergreift Partei für die missbrauchte Frau. Später dann auch bei Hagar. Vielleicht ist Hagar eine der Sklavinnen, die der ägyptische Pharao dem Abraham schenkt. Jedenfalls wird sie Eigentum der Sara.

Und Sara hat ein weiteres Problem. Sie kann keine Kinder bekommen. Dabei hatte ihr Mann von Gott großartige Verheißungen bekommen. Er würde Kinder haben, und seine Nachkommen würden ein großes Volk werden. Aber es kommt kein Kind. Und Sara wird immer älter. Die biologische Uhr tickt. Vielleicht hat sie Angst, dass Abraham sie verstößt. Kinder zu haben – das war damals nicht nur im Orient die einzig denkbare Lebenserfüllung für Frauen. Das hat Sara tief verinnerlicht. Die Verzweiflung ist groß. Und sie kommt auf die Idee, durch Hagar doch noch zu einem Kind zu kommen. Wir würden heute sagen, sie als Leihmutter zu benutzen. Damals war das bei Unfruchtbarkeit durchaus üblicher Brauch. Die Bibel erzählt:

"Und Sara sprach zu Abraham: Siehe, Gott hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abraham gehorchte der Stimme Saras. Da nahm Sara, Abrahams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abraham, ihrem Mann, zur Frau. Und er ging zu Hagar, die ward schwanger." (1. Mose 16,2-4a)

Hagar wird nicht gefragt. Sie hat keine Wahl. So wie Sara keine Wahl hatte, als sie von Abraham an den Pharao verkauft wurde. Zwei Frauen werden ihrer Würde beraubt. Sie werden zu Sexualobjekten degradiert, ohne eigenes Recht auf sexuelle Lust. Sie dürfen nicht selbst bestimmen, wen sie zum Mann nehmen möchten. Soetwas kann hart machen und kalt. Da wird der Raum für Freundlichkeit eng. Still faces – starre Gesichter bekommen Menschen auch, wenn ihnen Schreckliches angetan wird.

Das alles wird erzählt, als sei das ganz normal. Aber für Gott ist das nicht normal. Diese Geschichte über Hagar und Sara ist auch eine Geschichte der Parteinahme Gottes für sexuell ausgebeutete Frauen. Gott sieht nicht weg. Er sieht hin. Immer. Auch heute.

Hagar, die ägyptische Sklavin von Sara, wird also schwanger. Und auch Hagar hat verinnerlicht: Die einzige Lebenserfüllung einer Frau ist es, Kinder zu gebären. Da hat sie jetzt ihrer Herrin Sara etwas voraus. Es kommt zum Konflikt:

"Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. Da sprach Sara zu Abraham: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Gott sei Richter zwischen mir und dir. Abraham aber sprach zu Sara: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir’s gefällt. Da demütigte Sara sie, sodass sie vor ihr floh." (1. Mose 16,4b-6)

Abraham hält sich mal wieder fein raus. Er übernimmt keine Verantwortung. Und Sara hätte es besser wissen müssen. Sie weiß, wie das ist, als Frau gedemütigt zu werden. Aber Opfer können auch Täter oder Täterinnen werden. Es wird nicht genau erzählt, was Sara mit Hagar anstellt. Aber es muss so schlimm sein, dass es die schwangere Frau riskiert zu fliehen, und zwar in die Wüste. Das ist selbstmörderisch. Aber das ist ihr wohl egal. Sie muss völlig außer sich sein. Wenn die Verzweiflung groß ist, geht man zu Fuß durch Wüsten oder fährt mit Schlauchbooten über Meere. Nur weg aus der Qual.

"Aber der Engel Gottes fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste (…). Der sprach zu ihr: Hagar, Saras Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sara, meiner Herrin geflohen." (1. Mose 16,7+8)

Mich berührt, wie es da heißt: Der Engel Gottes fand sie. Da ist etwas Zartes, das ich kaum in Worte fassen kann. Gott findet diese Frau wie einen Schatz. Ein Mensch, der es wert ist, beim Namen genannt zu werden. Denn das fällt auf: Abraham und Sara sprechen immer nur von der Sklavin beziehungsweise von der Magd, wie Martin Luther übersetzt. In der Gestalt seines Engels nennt Gott sie aber mit ihrem Namen. Hagar! Sie ist nicht die Sklavin oder eine Ware oder eine Ausländerin. Sie ist Hagar. Ein Mensch mit einer Geschichte, mit einer Sehnsucht nach Leben und Glück wie jeder Mensch auf dieser Welt. Ich höre die Sorge in Gottes Stimme, und ich stelle mir sein freundliches Gesicht vor. So sieht er mich auch an.

Oft sind es die einfachen Worte, die einen Menschen ins Leben zurückbringen. Woher kommst du? Wohin gehst du? Ich sehe dich. Jetzt kann Hagar erzählen. Der Schrecken löst sich, wenn sich die Zunge löst. Verzweiflung wird kleiner. Trost ist da.

Dass Gott mit einer Frau spricht, ist recht selten in der Bibel, noch dazu wenn diese Frau eine Geflüchtete aus einem fremden Land ist. Das macht dieses Gespräch so besonders. Es ist auch noch nicht zu Ende.

"Und der Engel Gottes sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. Und der Engel Gottes sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel Gottes zu ihr: Siehe du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn Gott hat dein Elend erhört." (1. Mose 16,9-11)

Sie soll wieder zurückgehen. Zurück zu Sara, die ihr die Würde raubt. Gott sagt nicht: Gehe dorthin, wo es dir gut geht. Ich werde für dich und dein Kind sorgen. Nein, sie muss zurück. Ich finde das unerträglich und bin enttäuscht von Gott. Meint er es doch nicht gut mit Hagar? Ich suche nach einer Erklärung. Und die finde ich nicht bei Gott, sondern bei denen, die die Geschichte aufgeschrieben haben. Sie waren mutig. Sie haben Gott mit einer ägyptischen Sklavin reden lassen. Sie haben gesehen, dass die, die doch eigentlich Vorbilder des Glaubens sein sollten, menschlich versagt haben. Sie haben Partei ergriffen für missbrauchte und misshandelte Frauen.

Aber eine patriarchale Gesellschaft völlig verändern, das konnten sie dann doch nicht und es ging ihnen auch nicht darum. Hagar muss zurück. Eine alleinerziehende Frau ohne Mann hatte damals keine Überlebenschance. Aber sie geht in der Gewissheit: Meine Würde habe ich von Gott. Er hat mich angesehen. Das stärkt. Und vielleicht hat Gott auch gelächelt. Aber das Ungewöhnlichste an der Geschichte kommt noch.

Die Sklavin Hagar im Gespräch mit Gott in der Wüste. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Und nun kommt noch etwas Ungewöhnliches.

"Hagar nannte den Namen Gottes, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss habe ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht." (1. Mose, 16,13)

Hagar ist der einzige Mensch in der Bibel, der Gott direkt einen Namen gibt. El Roi – so heißt das auf Hebräisch. Gott, der mich sieht. Das ist auch deswegen erwähnenswert, weil Hagar nicht zu den Israeliten gehört.

Hagar wird die Stammmutter vieler Völker rund um das Volk Israel. Die biblischen Autoren werden das ganz bewusst so erzählt haben. Denn damit ist deutlich: Wir und die Nachbarvölker – wir sind durch Abraham miteineinander verwandt. Gott sieht auf die anderen genauso wie auf uns. Und eine aus einem anderen Volk, eine Ägypterin war würdig, Gott einen so wunderbaren Namen zu geben. El Roi – Gott, der mich sieht.

Hagar ist dann tatsächlich wieder zurück zu Abraham und Sara. Sie hat ihren Sohn Ismael geboren. Der Konflikt mit Sara aber schwelt weiter. Und er eskaliert, als Sara gegen alle Erwartungen doch noch einen eigenen Sohn bekommt, den Isaak. Nun gefährdet der Sohn der Hagar das Erbe von Saras Sohn. Darum wird Hagar mit ihrem Sohn verstoßen. Die beiden werden in der Wüste ausgesetzt. Wieder findet Gott sie, halbverdurstet, und er rettet sie. Hagar und Ismael – so heißt es in der Bibel – leben weiter auf der Sinai-Halbinsel. Hier verliert sich ihre Spur.

In der islamische Tradition wird Hagar als Stammmutter der arabischen Völker gesehen. Sie wird bei den Muslimen hoch geschätzt und geehrt. Es wird erzählt, dass sie mit ihrem Sohn Ismael bei Mekka lebte. Abraham habe sie oft besucht. Er und Ismael haben die dortige Pilgerstätte errichtet, die Ka’aba.

Bis heute sind diese Überlieferungen wichtig. Sie werden auch Thema des Evangelischen Kirchentags in gut vier Wochen sein: Wir haben einen gemeinsamen Gott, der uns sieht. Juden, Christen und Muslime. Das verbindet sie, auch wenn sie sich in manchem Punkten bitter streiten. Auch wenn sie sich an manchen Plätzen der Erde bekämpfen oder verfolgen.

Die Bibel hält fest: Gott sieht uns. Es gibt am Ende der meisten evangelischen Gottesdienste Segensworte aus dem Alten Testament, die das spürbar machen:

"Gott segne dich und behüte dich.
Gott lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig.
Gott erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden."

(nach 4. Mose 6,24-26)

Martin Luther hat zum Segen gemeint, dass die so von Gott Angeschauten „keck, licht (…) und gar als neue Menschen“ erscheinen (zitiert nach Kristian Fechtner, Diskretes Christenum, S. 92). Das hilft gegen böse oder starre Blicke. Und es macht fröhliche Menschen, wie hoffentlich demnächst auf dem Kirchentag. Augen, die andere freundlich ansehen, sind Antworten auf Gottes segnenden Blick. Sie machen die Welt heller. Sie helfen, Frieden zu stiften.

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