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Aufbruchszeit
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Aufbruchszeit

Johannes Meier
Ein Beitrag von Johannes Meier, Evangelischer Pfarrer und Journalist, Kassel
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In ein paar Tagen geht es los. Sie ist aufgeregt. Voller ängstlicher Vorfreude. Sie schläft unruhiger als sonst. Nur noch vier Nächte im eigenen Bett. Eigentlich ist ja alles gut vorbereitet. Unzählige Male ist sie die Packliste durchgegangen, hat überlegt, was wirklich mit darf und was zu Hause bleiben muss. Gut vier Monate wird sie unterwegs sein. Das ist schon etwas anders, als ein normaler Sommerurlaub.

Margot ist 64, vor kurzem hat sie ihren Job in der Stadtverwaltung an den Nagel gehängt. Jetzt will sie auf die Reise ihres Lebens gehen. Ganz allein mit einem kleinen Motorrad, für das sie keinen extra Führerschein machen musste. Ihr „alter grauer Lappen“ erlaubt noch das Fahren von Zweirädern bis 125 Kubikzentimetern. Das muss nun reichen. Die Route steht schon lange fest. Immer gen Osten: Durch Polen und die Ukraine, durch Kasachstan und Kirgisistan, übers Pamir-Gebirge nach Tadschikistan, immer weiter bis zum Iran, dann durch die Türkei und schließlich zurück durch den Balkan und Süd-Ost-Europa. 18.000 Kilometer. In Margots kleinem Dokumentenmäppchen stecken sechs verschiedene Visa – zusammen mit dem Reisepass, der Kreditkarte und ein paar Dollar-Scheinen, wenn es unterwegs mal keinen Bankautomaten geben sollte. Fünf Paletten Katzenfutter stapeln sich im Flur. Die Nachbarin kommt vorbei. Letzte Absprachen zur Fütterung und zum Gießen der Blumen: „Und die Post lege ich Dir dann einfach hier in die Kiste.“ –  Sie umarmen sich etwas länger als sonst. „Pass auf Dich auf und komm gut wieder heim! Gott befohlen!“

Am nächsten Morgen ist es dann soweit: Margot zieht die Haustür ins Schloss und holt ihre 125er aus der Garage. Sie verzurrt den großen, gelben Packsack, legt Nierengurt, Handschuhe und Helm an. Langsam rollt sie die steile Hofabfahrt zur Dorfstraße hinunter. Ein Blick nach rechts zum Schäfer-Hof, ein Blick nach links zur alten Kirche. Alles frei. Und dann gibt sie Gas und fährt einfach los.

Sommerzeit ist Aufbruchszeit. Vielleicht nicht gleich für vier Monate oder 18.000 Kilometer. Aber doch raus aus dem Alltag, mal etwas Neues sehen, den Horizont weiten. In einer Woche schon sind Ferien! Wohin werden Sie aufbrechen?

Sommerzeit ist Aufbruchszeit: „Man entdeckt keine neuen Erdteile, ohne den Mut zu haben, alte Küsten aus den Augen zu verlieren“, sagt der Schriftsteller André Gide. Auch Margot musste diesen Mut erst einmal aufbringen, um dann tatsächlich loszufahren mit ihrem kleinen Motorrad und neue Erdteile wie Zentralasien zu entdecken. „Der Aufbruch ist das Schwierigste, das Unterwegssein ist leicht und schön“, verrät sie mir auf der Strecke. Im Pamir-Gebirge und später noch einmal im Iran habe ich Margot auf ihrer Reise begleitet, um einen Dokumentarfilm über sie und ihre ungewöhnliche Tour zu drehen. Auf der übrigen Wegstrecke hat sie auch selbst mit dem Handy oder der Helmkamera gefilmt. Aus 234 Stunden Filmmaterial ist nun ein knapp zweistündiger Film geworden, der im September deutschlandweit in die Kinos kommt. „Über Grenzen“ wird er heißen, eben weil Margot auf ihrer Reise nicht nur die Grenzen von 18 Ländern überquert, sondern auch die zwischen Menschen fremder Sprache und Kultur – und vor allem ihre eigenen. Man bangt mit ihr, wenn sie sich mit dem Motorrad Bergpässe des Pamir-Gebirges in weit über 4.000 Metern Höhe hinaufquält, von Schnee und Regen überrascht wird, immer wieder stürzt – und sich doch immer wieder aufrappelt.

Über Grenzen gehen. Wer hier nur an Extremsportler und andere Adrenalin-Junkies denkt, liegt falsch. Neu aufbrechen, das kann man auch als Rentnerin, das können Junge wie Alte, Starke genauso wie Schwache. Und niemand sagt, dass man dafür Motorrad fahren und Gebirgspässe überqueren muss. Kein Aufbruch gleicht dem anderen. Aufzubrechen, das heißt ja zunächst nichts anderes als: Neu in Bewegung kommen! Einfach losfahren wie Margot – oder losgehen.

2265 Mal steht „ging“ oder „gehe“ in der Bibel. Propheten und Apostel sind immer im Aufbruch begriffen, in Bewegung. Sie heilen, predigen, segnen, fluchen, fliehen. Und immer ist ihre Bewegung Begegnung.

Da gehen Zwei einfach los und tragen ihren gehbehinderten Freund bis zu einem Haus, in dem Jesus zu Gast ist. Weil sie dort mit der Trage nicht durch die Tür kommen, klettern sie rauf aufs Dach, machen ein Loch und seilen ihren Freund hinunter direkt vor Jesus Füße. Bewegung setzt kreative Energie frei! Und die führt zum Erfolg: Jesus sieht das Vertrauen und heilt den Freund. Steh auf, sagt er zu ihm, nun setz auch Du Dich in Bewegung, auf geht’s in Dein neues Leben, nimm Dein Bett und geh!

Menschen brechen auf und erleben Veränderung und Ermutigung. Im wohl bekanntesten Psalm heißt es: Und ob ich schon wandere durchs finstere Tal, fürchte ich kein Unglück, dein Stecken und Stab trösten mich.

Sommerzeit ist Aufbruchszeit! Aber die passende Ausrüstung nicht vergessen. Was brauchen Sie, um wieder neu in Bewegung zu kommen?

Sommerzeit ist Aufbruchszeit. Urlaub ist Zeit, nach Gott zu suchen. Im Alltag versandet oft die Quelle, aus der ich Kraft schöpfe. Kein Blick mehr für die Weite des Himmels und die Tiefe des Herzens. So viel ist zu tun und so wenig Zeit, zu sein. Auch darum: Aufbrechen! Zu mir selbst, zu meinem inneren Zuhause, zu Gott, der mir nahe ist.

Margot, die weltreisende Rentnerin, die mit ihrem kleinen Motorrad „Über Grenzen“ fährt, hat genau das erfahren. „Der Aufbruch ist das Schwierigste“, sagt sie – und meint damit das Zurücklassen von Gewohnheiten und Verpflichtungen. Bin ich als Ortsvorsteherin nicht eigentlich unentbehrlich im Dorf? Wird mein kleiner Enkel mich nicht vermissen? Wie kommen die Katzen klar? Und was werden die Leute aus der Theatergruppe und dem Russisch-Volkshochschulkurs sagen? – Doch nun sitzt Margot viele tausend Kilometer weiter auf einem Felsvorsprung und schaut in die Weite des Wakhan Valleys. Tief unten windet sich ein Fluss durch das braun-graue Gestein, in der Ferne leuchten weiß die schneebedeckten Gipfel des Hindukusch. Und all die Fragen nach den Verpflichtungen und der vermeintlichen Unentbehrlichkeit sind auf einmal ganz weit weg. „Der Aufbruch ist das Schwierigste, das Unterwegssein ist leicht und schön“, sagt sie. Und auch darum ziehe ich aus, um heimzukehren – zu mir selbst.

Sommerzeit ist Aufbruchszeit.
Die Dichterin Hilde Domin hat wunderbare Worte dafür gefunden:

Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es ein Grab
unserer Mutter.


Sommerzeit – Zeit aufzubrechen. Egal ob im Kopf, mit den Füßen oder im Herzen. Ich bin sicher: Gott geht mit und macht Mut zu neuen Wegen.

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