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Ezechiel macht Mut
Bildquelle: pixabay

Ezechiel macht Mut

Sebastian Pilz
Ein Beitrag von Sebastian Pilz, Katholischer Referatsleiter Diakonische Pastoral/Seelsorge in besonderen gesellschaftlichen Herausforderungen
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Morgens kurz vor sieben Uhr. Mein Sohn Matthäus steht auf und beginnt seinen Tag mit einem lauten "Mäh". Aus seinem Zimmer heraus imitiert er das Blöken eines Schafes. Seit unserem Nordseeurlaub in diesem Jahr sind diese tierischen Laute mal hier und da aus einer Laune heraus von ihm zu hören. Der 13-Jährige, der die Körpergröße von 1,70 Meter schon passiert hat, imitiert diese Schafstimmen mit einer hohen Perfektion. Klar, dass der jüngere Bruder dieser Kunst nacheifert. So kommen aus dem Nachbarzimmer wenig später dieselben Rufe. Irgendwann gehen die beiden Zimmertüren auf und die zwei Jungs kommen laut blökend die Treppe heruntergerannt. Die Erschütterungen dieser menschlich-tierischen Schafsherde lassen meinen Tee in der Tasse zittern. Die Ruhe des morgendlichen Frühstücks stellt sich erst wieder ein, als mit Hilfe von Brot und Müsli die Schafsklänge verstummen.

So viel zu meiner Schafsherde zu Hause. Um eine andere Schafsherde geht es heute in den katholischen Gottesdiensten. Da wird eine Bibelstelle aus dem Buch des Propheten Ezechiel vorgetragen. Da heißt es wörtlich: "So spricht Gott, der Herr: Siehe, ich selbst bin es, ich will nach meinen Schafen fragen und mich um sie kümmern. Wie ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am Tag des Gewölks und des Wolkendunkels zerstreut haben." 1

Diese Bibelstelle lässt mich durch das Bild der Schafsherde gleich an meine Söhne denken. Sie sind natürlich keine Schafe. Nein, stattdessen hilft mir ihre lustige Stimmimitation bei dieser Bibelstelle. Mit der Schafherde sind beim Propheten Ezechiel nämlich die Menschen gemeint. Gott sorgt sich um sie, so wie ein Hirte um seine Schafe. Doch noch mehr beschäftigt mich in diesem Zitat das Gewölk und Wolkendunkel. Das passt aktuell zu manch dunklem Novembertag mit Schmuddelwetter. Genauso klingen da für mich die corona-bedingten Einschränkungen an. Für die Gesellschaft und die Wirtschaft sind es Tage des Gewölks und Wolkendunkels, in denen sich die Bürger kontaktbeschränkt an einzelne Orte zerstreuen müssen. Der Prophet Ezechiel kann diese aktuellen Bezüge aber nicht gemeint haben. Was hat er denn dann vor Augen gehabt, als er den Text schreibt? Dieser Frage will ich nachgehen und verstehen, weshalb diesem Text auch etwas Tröstliches innewohnt.

Musik

Der Prophet Ezechiel schreibt sein Buch in der Babylonischen Verbannung. Diese beginnt in im Jahr 597 v. Chr. Der Babylonischer Herrscher, König Nebukadnezar II., erobert Jerusalem das erste Mal. Als Folge muss die ganze gesellschaftliche Oberschicht der Israeliten auswandern. Als die Babylonier wenig später Jerusalem ganz zerstören, ist die Hoffnung der Israeliten auf Rückkehr erst einmal am Boden. Fast 60 Jahre dauert das Exil in Babylon, einer Stadt, deren Überreste im heutigen Irak zu finden sind.

Ezechiel erlebt alles hautnah mit. Seine Familie gehört zu der Oberschicht, die zuerst auswandern musste. Er schreibt also im Exil für gläubige Juden in Babylon. Er hat Menschen im Blick, die tief erschüttert sind. Diese Situation sieht er als Chance, als eine Art Denkpause. Er macht in seinem Buch deshalb zwei Punkte stark: Erstens führt er eine kritische Bestandsaufnahme durch und zweitens weist er zugleich auf das Wesentliche, das Gottvertrauen, hin.

Wenige Verse vor der zitierten Bibelstelle von Hirten und den Schafen wird das beispielhaft deutlich. Da ist nämlich von den Führenden Israeliten die Rede. Ezechiel ist mit ihrer ehemaligen Regierungsarbeit in Jerusalem unzufrieden und schimpft: „Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben! Müssen die Hirten nicht die Schafe weiden? Das Fett verzehrt ihr und mit der Wolle kleidet ihr euch. Das Mastvieh schlachtet ihr, die Schafe aber weidet ihr nicht.“ 2,so das Zitat. Die Regierungskritik ist scharf. Ezechiel bezichtigt die einst weltlichen Hirten, nur den eigenen Nutzen aus ihrem Amt gezogen zu haben. Nach Ezechiel zeichnet sich das Hirtenamt aber nicht durch Härte und Gewalt aus. Stattdessen ist es wichtig, alle Menschen im Blick zu haben und sich besonders um Schwachen und Kranken zu
sorgen. 3

Diesen schlechten Hirten stellt Ezechiel Gott als guten Hirten gegenüber. Durch diese gekonnte Gegenüberstellung im Text will der Prophet die Leser aufrütteln. Ihm geht es darum, sich am Wesen eines guten Hirten zu orientieren. Und zugleich steckt in seiner Botschaft ein felsenfestes Gottvertrauen. Ezechiel ist sich sicher, dass Gott als guter Hirt rettend eingreifen wird. Ezechiels Sicherheit in diesem Punkt ist sogar so groß, dass 60 Jahre babylonisches Exil zu einem Gewölk oder Wolkendunkel, kurzum zu einem Schlechtwetterphänomen verkommen.

Mich fasziniert diese Sicherheit im Glauben und zugleich auch die Betonung, dass nichts ohne menschliches Zutun geht. Gottes Rettung ist also kein Automatismus, sondern es braucht Menschen, die verantwortlich mitwirken.

Musik

Was nützen nun die Erkenntnisse aus dem Buch Ezechiel für heute? Schließlich ist die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen kein Exil, das von einer Großmacht einer anderen Volksgruppe auferlegt wurde. Dennoch erkenne ich in einem Punkt eine ähnliche Wirkung auf die Menschen: Die alltägliche Lebenssituation hat sich schlagartig und grundlegend geändert. Das gilt für die Menschen heute in der Corona-Pandemie genauso wie für die Israeliten damals im Exil. Ihr Prophet Ezechiel nutzte diese Situation: Er nahm das Bestehende kritisch unter die Lupe und fokussierte zugleich auf das Wesentliche.

Bei einer kritischen Bestandsaufnahme heute kommt mir in den Sinn, wie viele kleine und große Herrscher es aktuell in der Welt gibt. Die Liste jener Politiker zieht sich über den ganzen Globus, von Europa bis nach Südamerika. Auf leider zu viele von ihnen trifft die mehr als 2600 Jahre alte Einschätzung von Ezechiel zu: Diese Herrscher weiden nur sich selbst. Sie setzen ihre Interessen mit Härte und Gewalt durch und vergessen dabei die Schwachen und Hilfsbedürftigen in ihrem eigenen Volk. Jeder ist sich selbst der Nächste – dieses Sprichwort gilt nicht nur für die Herrscher, sondern zuweilen auch für viele andere Menschen. Dieser Ungeist ist teilweise auch in Deutschland wahrnehmbar. Bei einzelnen Menschen entpuppt sich dieses Denken zum Beispiel beim Streit über das korrekte Tragen eines Mundschutzes im Supermarkt.

Neben einen kritischen Blick auf Bestehendes nutzt Ezechiel die Erschütterung aber auch, um auf das Wesentliche zu konzentrieren. Derzeit müssen alle in Deutschland ihre Kontakte einschränken. Das ist, ganz praktisch betrachtet, eine unfreiwillige aber notwendige Konzentration auf das Wesentliche. Ich muss bewusst entscheiden, wer mir am Wichtigsten ist. Mit wem ich mich umgeben möchte. Gerade für Familien ist diese Entscheidung eine echte Herausforderung.

Das Wesentliche bei Ezechiel ist auch immer mit Gott verbunden. Mich fasziniert sein großes Gottvertrauen, trotz oder gerade inmitten der ausweglos scheinenden Exilsituation. Er kritisiert die Dinge manchmal zornig, aber ihm fehlt nie die positive Perspektive. Er wird nicht müde, in seinem Volk die Sehnsucht nach dem Heil wach zu halten. Der gute Weideplatz ist dafür mehrfach ein Sinnbild im Text. Ezechiels Sehnsucht ist zugleich mit einer inneren Sicherheit gepaart, dass Gott rettet, dass er der Sieger ist. Ezechiel umschreibt damit etwas, das katholische Christen an diesem Sonntag besonders feiern. Sie feiern heute das Christkönigsfest. Über diesem letzten Sonntag im kirchlichen Jahreskreis steht also die Aussage: Jesus Christus ist, und mag Not und Tod noch so groß sein, als Gekreuzigter und Auferstandener, der Sieger. Unter dem Strich am Ende der Zeiten steht also ein großes Plus.

Ich will versuchen, diese positive Perspektive von Ezechiel mit in meinen Lockdown-Alltag zu nehmen. Und weil Ezechiel auch kritische Bestandsaufnahme gezogen hat, gehört das auch bei mir dazu: Ich reise zum Beispiel gerne in Europa umher. Aktuell merke ich wie sehr mir das fehlt. Es ist nicht leicht für mich, den Urlaub einfach nur daheim zu verbringen. Um es mit der Szene meiner Kinder vom Beginn zu sagen: Mit meiner schlechten Laune bin ich es dann, der wie ein blökendes Schaf mit miesem Gesicht durch das Haus läuft. Da falle ich meiner Familie manchmal ganz schön zur Last. Das will ich ändern. Ich will wie Ezechiel positiv und mit Gottvertrauen zuversichtlich in die Zukunft gehen. Weiß ich doch, dass ich mit meiner Familie eine wunderbare Schafherde habe. Und dass Gott, so schwierig auch die gegenwärtige Zeit sein mag, uns zu einer guten Weide führt.

 


1 Ezechiel 34,11f.

2 Ezechiel 34,2f.

3 Ezechiel, 34,4.

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