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Blickachsen und Perspektivwechsel

Blickachsen und Perspektivwechsel

Andrea Maschke
Ein Beitrag von Andrea Maschke, Katholische Pastoralreferentin in Bad Homburg / Friedrichsdorf
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Jede Woche komme ich auf dem Weg von einer Arbeitsstelle zur anderen durch den Bad Homburger Kurpark. Der Weg durch den schönen Landschaftsgarten, der sich mit den Jahreszeiten verändert, tut eigentlich immer gut: Bewegung, Durchschnaufen, Kopf frei bekommen.

Gerade ist der Weg durch den Park aber anders als sonst. Denn seit wenigen Wochen ist wieder Blickachsen-Zeit. Die „Blickachsen“, das ist eine Kunstausstellung im öffentlichen Raum, die alle zwei Jahre und jetzt schon zum 12. Mal stattfindet. Eine sehr zugängliche Ausstellung, es gibt keine Zäune, keinen Eintritt, jeder darf schauen, sogar nach Laune fotografieren und sich den Kunstwerken nähern, sehr demokratisch. Anfangs fand diese „Blickachsen-Ausstellung“ nur in Bad Homburg statt, inzwischen sind einige der Kunstskulpturen auch an anderen Orten zu sehen, in Frankfurt etwa, in Eschborn oder im Kloster Eberbach.

Der Ursprung und die Idee zu dieser besonderen Ausstellung liegen aber im Bad Homburger Kurpark, wahrscheinlich weil es dort seit der Planung des Parks vor über hundert Jahren schon Blickachsen gab, vom Kurhaus über die Wiese zur großen Fontaine im See etwa, oder die langen, teils geschwungenen, teils kerzengeraden Wege entlang. Einige der Kunstwerke nutzen diese alten Achsen und verfremden sie - und auf einmal ändert sich die Perspektive.

Da ist auf der langen Allee, die durch den halben Park führt, eine Stahlkonstruktion gespannt, auf der alte Jacken und Jacketts hängen[1]. Auf den allerersten flüchtigen Blick aus einiger Entfernung erinnert es an die kilometerlangen Wäscheleinen früherer Werbespots für Waschmittel, nur dass die Wäsche nicht weiß ist. Auf den zweiten Blick frage ich mich, wessen gebrauchte, alte Kleidung das ist, und es kommt mir eher vor wie ein Gedenken an Menschen, die nicht mehr da sind. Die Jacken hängen so hintereinander, als legten sie sich die Arme auf die Schultern, wie in einer Art Polonaise, als teilten sie das gleiche Schicksal. Die Leichtigkeit des ersten Blicks ist verschwunden und ist der Neugier und einem leichten Schaudern gewichen.

Augenzwinkernder kommt eine Röhre daher, die von dem Frankfurter Künstlerduo Winter und Hörbelt aus 900 Getränkekisten gebaut wurde. Jeder ist eingeladen, hinein zu steigen und - bewusst und damit auch anders - aus der Röhre auf den Teich mit der Wasserfontäne zu schauen.[2]

Mein Lieblingskunstwerk sind dieses Jahr große rote Bälle: hoch oben in den Baumgabeln hängen sie und scheinen fast eingewachsen – wie sind die dort hinauf gekommen? [3]

Perspektivwechsel sind etwas Erfrischendes, finde ich. Gewohntes anders sehen. Bei den Blickachsen geschieht das spielerisch. Vielleicht eine nette Übung. Denn Vertrautes anders sehen, das geht ja nicht nur in der Kunst. Auch politische Demonstrationen können mich dazu bringen, mich auf einen Perspektivwechsel einzulassen: die Friday for Future-Demos zum Beispiel. Die jungen Leute fordern ja genau das: Ändert den Blick auf die Welt! Ändert euer Verhalten! Ich finde den Gedanken bestechend: „Wieso sollen wir lernen, wenn ohne Kursänderung unsere Welt in einigen Jahren vielleicht gar nicht mehr im jetzigen Zustand existiert?“. Das relativiert auch mein eigenes tägliches Schaffen. Immer-So-Weiter ist eindeutig falsch. Wie muss und kann ich leben, wenn ich mich auf diese Perspektive wirklich einlasse?

Oder was bedeutet es für meinen Alltag, wenn ich die christliche Aussage: „Jeder Mensch hat von Gott Würde und Wert“ zu meiner „Blickachse“ erkläre? – So ähnlich formuliert es ja auch das deutsche Grundgesetz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und trotzdem verliere ich das im Alltag immer wieder aus dem Blick.

Manche Perspektivwechsel haben weitreichende, konkrete Konsequenzen, die im Bad Homburger Kurpark machen zunächst einfach Spaß!

[1] Kaarina Kaikkonen, There must be a way out of here, 2019

[2] Winter/Hoerbelt, Donnerstags ist alles gut, 2019

[3] Anne Thulin, Double Drbble IV, 2019

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