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Aus ganzem Herzen beten - Das Vater unser in der eigenen Muttersprache
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Aus ganzem Herzen beten - Das Vater unser in der eigenen Muttersprache

Dr. Annegreth Schilling
Ein Beitrag von Dr. Annegreth Schilling, Evangelische Pfarrerin, Frankfurt
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Ich bin zu Besuch bei Frau Sojka. Vor wenigen Tagen ist ihre Mutter verstorben. Hinter uns liegt ein langes Gespräch. Ich habe viel über das Leben der Verstorbenen und der Familie Sojka erfahren. Am Ende fragt mich Frau Sojka: „Können wir zum Abschluss noch das Vater unser beten?“ Ich sage: „Ja, natürlich. Jede von uns in ihrer Muttersprache, wenn Sie einverstanden sind?“ Sie schaut mich überrascht an: „Also nicht auf Deutsch?“ „Nein“, sage ich, „wenn Sie mögen, beten Sie ruhig auf Polnisch.“

Frau Sojka zögert. Als sie in den 90er Jahren als Familie von Polen nach Hessen zogen, war sie 8 Jahre alt. Die Eltern gaben alles daran, dass ihre Kinder nicht als Ausländer galten. Manchmal unterhielten sich ihre Eltern untereinander auf Polnisch. Ansonsten wurde zu Hause nur noch Deutsch gesprochen. Auch wenn sich die Geschwister stritten, sollten sie das miteinander auf Deutsch klären. Frau Sojka erzählt: „Meine Mutter war da sehr streng. Selbst beim Beten wollte sie kein Polnisch hören. Dabei ist das doch etwas, was von Herzen kommt. Aber meine Mutter blieb dabei. Das Vaterunser, das sie jeden Abend mit uns betete, wurde – seit wir hier leben – nur noch auf Deutsch gebetet.“

Ihre Stimme wird brüchig. Frau Sojka hat Tränen in den Augen. Ich merke, wie sie mit sich ringt. Der plötzliche Tod ihrer Mutter geht ihr nahe. Sie möchte in dieser Situation alles richtig machen und nichts tun, was ihrer Mutter nicht gefallen hätte.
Frau Sojkas Mutter wollte nur das Beste für ihre Kinder und hat dabei die Sprache ihres Herzens aufgegeben. Vor allem Beten kann ich mir nicht anders vorstellen als in meiner Muttersprache. Denn Beten ist ein Gespräch mit Gott. Beim Beten wende ich mich zu Gott mit dem, was mich im Innersten bewegt. Für mich geht das nur in der Sprache meiner Kindheit.

Ich war selbst einmal für ein paar Monate im Ausland. Da bin ich regelmäßig in einen englischsprachigen Gottesdienst gegangen. Menschen aus vielen Teilen der Welt kamen hier Sonntag für Sonntag zusammen. Der Gottesdienst lief auf Englisch – bis auf eine Stelle. Wenn die Reihe an das Vaterunser kam, sagte die Pfarrerin jedes Mal: „Everybody prays in his or her own language.” Jede und jeder betet in der eigenen Muttersprache. Das gab ein Stimmengewirr, das war am Anfang ziemlich gewöhnungsbedürftig. Doch dann war es für mich wie eine Befreiung: diese Vielfalt, dieser Klang. Das hat mir gezeigt: Ich muss nicht in der Sprache beten, die ich nicht fließend beherrsche. Ich muss nicht so beten, wie es andere wollen, sondern so, wie es mir entspricht. Aus ganzem Herzen.

Ich blicke zu Frau Sojka. Vielleicht ist das der Anfang eines Lebens ohne ihre Mutter. Sich zu befreien von dem, was sie wollte. Mehr auf das zu hören, was von innen kommt.
Ich schaue Frau Sojka an und hake nach: „Also – jede in ihrer Muttersprache?“ Sie atmet tief durch. „Ja!“, sagt sie, und dann beten wir zusammen und verschieden zugleich: „Ojcze Nasz“ – „Vater unser im Himmel“. Ich genieße es, das mir so vertraute Gebet auf Polnisch zu hören, während ich selbst auf Deutsch bete.
Beim „Amen!“ treffen wir uns wieder. Wir beenden unser Gebet mit dem gleichen hebräischen Wort, d.h. wörtlich: So soll es sein. Frau Sojka lächelt mich an. Sie sagt: „Ich kann es nach so vielen Jahren immer noch auf Polnisch beten. Das hat sehr gut getan. Und ich denke, meine Mutter wäre stolz auf mich.“

Amen! denke ich. Genau so soll es sein.

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