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Aufbruch - Stillstand - Rückschritt

Aufbruch - Stillstand - Rückschritt

Reiner Jöckel
Ein Beitrag von Reiner Jöckel, Pastoralreferent, Frankfurt
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Der heutige vierte Sonntag in der Fastenzeit trägt den Namen „Laetare“, zu deutsch: „Freut euch!“ Das bedeutet: die Aufforderung zur Umkehr in der Fastenzeit soll in meinem Leben etwas Befreiendes und Frohmachendes bewirken. Umkehr meint nicht unbedingt, dass ich nun eine 180 Grad-Wende machen soll. Umkehren kann ich auch, wenn ich zu etwas Neuem aufbreche, oder sogar auch: wenn ich zunächst still stehe oder einen Schritt zurück mache.

Aufbruch — Stillstand — Rückschritt. Vermutlich hat das jeder schon einmal erlebt und fast jedem fallen dazu auch konkrete Erlebnisse, Begegnungen und Gefühle ein. Man kann sich diesen drei Lebenssituationen, in denen es um Umkehr und Veränderungen im Leben geht, kaum entziehen und sie kommen regelmäßig wieder.

Ein mutiger Aufbruch, eine neue Aufgabe etwa, die mich herausfordert. Ganz aktuell ist das für mich zum Beispiel der begonnene, so genannte „Synodale Weg“ in der Katholischen Kirche. Laien und Kleriker denken ernsthaft über Zukunftswege der Kirche nach und wollen hoffentlich konkrete und notwendige Reformschritte anpacken. Und sollte das Feuer des Anfangs kleiner werden, so ist immer wieder neue Orientierung notwendig. Manchmal erlebe ich so einen Aufbruch auch im eigenen Leben: Es bewegt sich vieles zu langsam oder scheinbar nichts. Aber stehenbleiben, resignieren: das wäre auf Dauer ein Rückschritt.

Unter Umständen fehlte es auch mir in entscheidenden Situationen an Durch-halte­vermögen. An Offenheit für das scheinbar Unmögliche und an Achtsamkeit. Was hier vom einzelnen Menschen erlebt wird, das gilt wie gesagt auch für Institutionen. Zum Beispiel für die Kirche. In einem Artikel mit dem Titel „Die Kirchen zwischen Aufbruch und Rückschritt" lese ich:

‚Aufbrüche bedeuten immer Abschiede, sind oft mühsam und schmerzlich. Vor allem Institutionen widersetzen sich dem Wandel ... Die Angst vor dem unberechenbaren Geist Gottes ist bei den meistenAmtsträgern so stark,dass sie bei den Kirchenreformen lieber auf die altbewährten Traditionen und auf theologiefremde Beratungsunternehmen setzen. Auf keinen Fall will man Aufbrüche, die echte Brüche oder gar Abbrüche bedeuten...und so pendelt die Geschichte der Kirchen permanent zwischen Hoffnungen und Ängsten, Weite und Enge, Freiheit und Unterdrückung".

(aus: Erich Zenger, „So viel Aufbruch war nie" in: „Themenheft 2009" der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit; Bad Nauheim, 2009, 5.10ff)

Zwischen diesen Polen erlebe ich auch mein eigenes Leben. Solange ich lebe, solange gibt es wohl auch in mir immer wieder Hoffnungen und Ängste, Weite und Enge, Freiheit und Unterdrückung.

Für mich ist es dann wichtig zu erkennen: Wie können aus Ängsten wieder Hoffnungen werden? Wie kann in einer allzu engen Sichtweise ein breiterer Horizont in den Blick geraten? Und wie kann ich etwas, was ich lange in mir unterdrückt habe, auf sinnvolle Weise lebendig werden lassen? Was kann ich selbst dazu beitragen und was bewirken andere Menschen? Jeder kennt ein Gewissen und manchmal kann es irren. Aber gibt es auch so etwas wie eine „innere Stimme" in mir, die mir sagt, wo es langgeht und mich immer wieder aufbrechen lässt? Aber wie kann ich lernen, auf sie zu hören?

Musik 1: G. Gurdjieff, Woman’s Prayer in: „Chants, Hymns and Dances“

Zu Beginn dieses Jahres hab ich wieder an sogenannten „Exerzitien im Alltag“ teilgenommen. Einmal pro Woche trifft man sich zu Gesprächen über Glaubensfragen und meditativen Impulsen, welche die Teilnehmer dann jeweils eine Woche lang begleiten. Nachdem ich selbst jetzt seit einem Jahr in Rente bin, habe ich eine der Teamerinnen gefragt: „Was kann ich denn nun mit der neuen gewonnenen Zeit anfangen? Irgendetwas ‚Großes‘ im Leben, eine besondere Aufgabe möchte ich noch einmal verwirklichen.“ Sie hat mir lapidar geantwortet: „Du brauchst nichts Großes zu verwirklichen, geh' in deine eigene Tiefe. Da wirst du alles sehen und hören, was wirklich wichtig ist und wo es in der Zukunft weitergehen kann". Und daraufhin habe ich mich entschlossen, für eine Woche „Schweigeexerzitien" zu machen. Es bedeutete, täglich sieben Stunden auf einem Meditationsbänkchen zu sitzen und auch den ganzen Tag über zu schweigen. Eine Woche lang. Die Erfahrung von Gemeinschaft und das Arbeiten zwischendurch haben das Sitzen erleichtert, so dass ich sehr dankbar für diese Erfahrung bin.

Ein Text, der mich in dieser Woche begleitet hat, stammt von dem deutschen Mystiker „Meister Eckhart". Er schrieb:

Geh in deinen eigenen Grund.
Inwendig, im Innersten deiner Seele‑

Da ist dein Leben Und da alleine lebst du!

Das also ist der Ort, wo ich die „innere Stimme" hören kann: in meinem Inneren.Das Stillsitzen auf dem Meditationsbänkchen ist also kein Stillstand, sondern kann mit der Zeit tatsächlich ein neuer Aufbruch werden. Stille wird zum Ruf auf einen neuen Weg. Zu einer „Berufung", wenn Sie so wollen.

„Berufung" — das scheint ein antiquierter Begriff zu sein, den man nur aus der Bibel kennt oder wenn es in kirchlichen Zusammenhängen um Priester- und Ordensnachwuchs geht. Ich finde aber: „Berufung" ist auch etwas, was jeden Menschen betrifft. Für mich ist sie diese Art „innere Stimme". Sie kann sich auch in meinem Gewissen melden und begleitet mich auf meinem Lebensweg als Orientierungsmaßstab.

Wenn ich im Schweigen gelernt und erfahren habe auf die „innere Stimme" zu hören, dann kann sie mich vor Rückschritten und unnötigem Stillstand bewahren. Ich spüre dann, ob mein Handeln meinem inneren Wesen entspricht oder ob ich nur momentanen Impulsen oder bloßem Wunschdenken gefolgt bin.

Ein wichtiges Kriterium, an dem ich ablesen kann, ob ich meine „innere Stimme" gehört habe, ist das plötzliche Gefühl einer „ruhigen Wachheit". Immer, wenn ich den Eindruck habe, ich bin auf „meinem Weg", dann fließt es durch mich hindurch wie beim Tanzen. Ein Schub von Energie und Vitalität ergreift und packt mich. Es geht dabei nicht um kleine Details und Nebenaspekte des Lebens, sondern um den gesamten Lebensentwurf, der gelassen in den Blick geraten darf.

Der Kirchenlehrer Augustinus prägte einmal vor 1600 Jahren in einem Gebet den Gedanken: „Herr, lass mich mich selbst so erkennen, wie ich von dir erkannt bin"! In diesem Sinn wäre dann jene „innere Stimme", der Weg zur der Selbsterkenntnis, zu meiner persönlichen Umkehr wie Gott mich gemeint hat. Und da komme ich auch ganz zu mir selbst. Da ist mein „eigener Grund" und da kann ich lebendig werden.

Musik 2: T. Merula, Alemana in: „Timeless“

Allein beim Hören auf meine „innere Stimme" möchte ich nicht stehenbleiben. Wozu ruft sie in mir? Das Schweigen in der Stille muss immer wieder in mein alltägliches Leben rückgebunden sein. Denn es geht mir nicht nur darum, ruhig zu werden. Ich möchte auch einer gesunden Unruhe in Gehör verschaffen. Andere Menschen, ein unerwartetes Gespräch und achtsamer Umgang mit dem Leben überhaupt, die helfen mir, nicht bei mir selbst stehen zu bleiben. Ich erkenne daran, dass in meinem Leben etwas in Bewegung geraten ist, sich verändern will und mein Engagement einfordert.

Ein kleines Gedicht ist mir in diesem Zusammenhang wichtig geworden. Es stammt von der im letzten Jahr verstorbenen Bremer Lyrikerin Irmela Dening. Es trägt die Überschrift: „Mir ist nicht erlaubt ruhig zu sein".

Mir ist nicht erlaubt ruhig zu sein
vor den Leiden, die wir den Kommenden antun
vor den Schmerzen der Erde.
Mir ist geboten ruhig zu sein
wo das Geheimnis der Wirklichkeit angreift,
mich fordert zu seinem Zweck:
ihm zu dienen unter Verzicht auf Macht
verzagt und dennoch mit Ja.

(aus: Irmela Dening, In dieser Stunde. Gedichte, Aachen 2008, 5.15)

Soweit das Gedicht von Irmela Dening. Ich frag mich im Anschluss an dieses Gedicht von ihr: Ruhe und Unruhe, was ist wann notwendig? Werde ich das eine vom anderen unterscheiden können? In welchen Situationen, auf dem so genannten „Synodalen Weg“ etwa, ist es eher notwendig, unruhig zu werden und nicht gleichgültig zu sein? Wo geht es darum, sich zunächst zu besinnen und sich von jenem „Geheimnis der Wirklichkeit", einfordern zu lassen? „Verzagt, aber dennoch mit Ja".

Denn in allem, was sich im gegenwärtigen Moment an Gedanken und Gefühlen zeigt, liegt eine Möglichkeit zum Wachsen und Reifen. Für viele Menschen ist dieses „Geheimnis der Wirklichkeit" Gott. Das göttliche Mysterium erfahren zu dürfen, ist eine Grundsehnsucht des Menschen. Jesus z.B. hat beides zusammen gesehen - die Begegnung mit Gott und das Engagement für andere Menschen. Auch für mich gehört beides zu jener „inneren Stimme" und meiner persönlichen Berufung dazu. Zu meiner Spiritualität - zu der Weise, wie ich geistig und spirituell leben möchte.

Musik 3: K. Bjornstad, Solace Rainbow Version in: „The Rainbow“

So viele Stimmen und Geräusche dringen täglich an mein Ohr. Wie kann ich da meine innere Stimme wahrnehmen? Eine berühmte Geschichte aus dem Alten Testament ist für mich sehr aufschlussreich.

Sie handelt von einer Berufung: der Beauftragung des Moses am brennenden Dornbusch durch den Gott Israels. Marc Chagall zum Beispiel hat diese Geschichte in einem beeindruckenden Bild dargestellt. Das Wichtigste der Situation ist schnell geschildert: Es ist ein ganz normaler Tag im Leben des Moses. Er weidet die Schafe. Da sieht er plötzlich einen brennenden Dornbusch, der dennoch nicht verbrennt. Er möchte sich in der Stille der Wüste diese außergewöhnliche Erscheinung anschauen, als plötzlich eine Stimme aus dem Dornbusch zu ihm spricht: „Komm nicht näher! Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden!" (Exodus 3,5) Es ist der geheimnisvolle Gott, der in der Stille zu ihm spricht, und er sagt von sich selbst „Ich bin der Ich-bin-da".

Und wie er da ist, mitten im Leben, das macht er auch gleich deutlich: „Ich habe das Elend meines Volkes In Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie aus der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen, in dem Milch und Honig fließen."

Und Moses soll genau das für Gott tun: die Israeliten aus der Knechtschaft der Ägypter befreien. Zur echten Berufung gehört demnach beides: politisches Engagement und Ergriffenheit vom „ganz Anderen“: Gott ergreift die Initiative. Er ist die innere Stimme, die sich zu Wort meldet. Fliehen oder Bleiben? Wird sein Wort in meiner Stille zum Aufbruch?

Diese Fragen stelle ich mir auch. Jedenfalls muss ich selbst auch heute - mit dem Auge und dem Ohr Gottes - aufmerksam sein: Worunter leiden Menschen, wo kann ich helfen dabei, dass sie sich befreien? Wozu und wohin ruft mich meine „innere Stimme"? Das kann auch heute die innere Stimme meiner Berufung sein. Dieser inneren Stimme folgen: Das bedeutet auch Umkehr in der Fastenzeit für mich. Und es ist eine innere Umkehr, die Freude machen kann, passend zum Sonntag heute: Laetare! Freut euch!

Musik 4: G.Gurdjieff, Prayer, in: Chants, Hymns and Dances

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