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Assisi, Franziskus und der Wolf von Gubbio
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Assisi, Franziskus und der Wolf von Gubbio

Dr. Alfred Mertens
Ein Beitrag von Dr. Alfred Mertens, Professor emeritus im Kirchendienst, Priester im Ruhestand, Mainz
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Erst vor wenigen Tagen bin ich aus Assisi nach Hause zurückgekommen. Freunde hatten mich eingeladen, sie dorthin zu begleiten. Für mich war es das erste Mal; bisher hat es mich eher in den Nahen Osten gezogen.

Jetzt also Assisi. Es war mir von Anfang an klar: Diese Reise würde etwas ganz anderes werden als meine bisherigen Reisen. Assisi, das sollte für mich vor allem der heilige Franziskus sein. Aber auch – jetzt werden Sie vielleicht lachen – das Gebiet des Wolfs von Gubbio. Von ihm erzählt die Legende:

„Etwas Wundersames … geschah bei der Stadt Gubbio. Da war nämlich zu Lebzeiten des seligen Vaters Franz in der Umgebung jener Stadt ein Wolf, der war von schreckhafter Größe und in seinem Hunger von grimmiger Wildheit. Er verschlang nicht nur Tiere, sondern auch Männer und Frauen, so dass er alle Bürger … in Angst versetzte, und alle gingen bewaffnet, wenn sie die Stadtmauer verließen.
Gott aber wollte den Bewohnern der Gegend die Heiligkeit Franzens kundtun. Da nämlich der selige Vater gerade nach Gubbio kam, empfand er Mitleid mit den Leuten und beschloss, dem Wolf entgegenzutreten. … Der heilige Franz setzte seine Hoffnung auf den Herrn Jesus Christus … und so schritt er, nicht mit Schild und Helm gewappnet, sondern unter dem Schutz des heiligen Kreuzzeichens vor das Stadttor … und ging ohne Furcht dem Wolf entgegen.
Und siehe, der schreckliche Wolf rannte mit offenem Rachen auf den heiligen Franz zu. Der selige Vater aber machte über diesen das Zeichen des Kreuzes, und die göttliche Kraft, die von ihm ausging, zähmte den Wolf; er hielt plötzlich inne, und der schaurig aufgesperrte Rachen schloss sich. Franz rief ihn her und sprach: ‚Komm zu mir, Bruder Wolf! Im Namen Christi befehle ich dir, weder mir noch sonst jemand einen Harm zu tun!‘
Und wunderbar, auf das Kreuzzeichen hin …  und wie der Heilige ihm geboten, kam das Untier gesenkten Kopfes heran und legte sich gleich einem Lamme zu seinen Füßen.“

Franziskus, der einen Wolf zähmt! Das war ihm nicht gerade in die Wiege gelegt worden. Er war ein reicher Kaufmannssohn, der eigentlich das väterliche Geschäft übernehmen sollte. Dann aber hatte er in dem kleinen Kirchlein von San Damiano ein Erweckungserlebnis, das sein ganzes Leben umstürzen sollte. Das Kirchlein war damals halb verfallen. Bei einem Besuch hatte Franziskus dort vom Kreuz her eine Stimme gehört: „Franziskus, baue meine Kirche wieder auf!“ Und so machte sich Franziskus daran, mit seinen bloßen Händen das Kirchlein wiederherzustellen – bis ihm die Stimme bedeutete, es ginge nicht nur um dieses kleine Kirchlein, sondern um die ganze Kirche, in Assisi, in Italien, in Europa, ja überall. Sie hatte damals, zu Lebzeiten des heiligen Franziskus, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, schwere Schäden erlitten.

So wurde Franziskus schließlich zum großen Erneuerer der Kirche. Viele Menschen verbinden mit ihm die Szene, wie er seinem Vater alles Hab und Gut zurückgab, im wahrsten Sinne des Wortes splitternackt vor ihm und seinem Bischof stand und sich schließlich mit einer geflickten Kutte begnügte.

Hören Sie bitte jetzt und auch nachher Teile aus den Peer-Gynt-Suiten von Edvard Grieg; er hat von 1843 bis 1907 gelebt.

Musik 1: E. Grieg, Suite; aus CD „Festliche Bläser- und Orgelmusik in St. Wolfgang“, Dieburg; mit den Mainzer Dombläsern und Albert Schönberger an der Klais-Orgel von 1991; Nr. 17; 3,04 Min.

„Baue meine Kirche wieder auf!“ Diese Worte, die der heilige Franziskus einst in dem baufälligen Kirchlein von San Damiano gehört und die er zunächst einmal missverstanden hatte im Sinne einer buchstäblichen Wiederherstellung – diese Worte können viel mehr bedeuten. Mit ihnen kann die Kirche an allen Orten und zu allen Zeiten gemeint sein. Sie darf ja nie nur eine Kirche sein, die sich selbstgenügsam um mehr oder minder kleine Gruppen von Christen bemüht. Die Kirche soll für die Menschen da sein, für alle Menschen, gleich welchen Glaubens oder Nicht-Glaubens, gleich welcher Hautfarbe oder Rasse. Die Kirche muss sich der Welt, in der sie lebt, öffnen. Tut sie es nicht, wäre sie im Grunde überflüssig. Oder um im Bilde zu bleiben: Dann wäre sie eine Ruine wie einst San Damiano in Assisi und sie müsste dringend wieder „aufgebaut“ werden.

Das ist – wie gesagt – immer und an vielen Orten nötig. In diesen Tagen und Wochen vielleicht besonders in Brasilien, in der Amazonas-Region. Dieses Gebiet mit seinen riesigen Urwäldern ist zurzeit besonders gefährdet. In wenigen Tagen wird die sog. „Amazonas-Synode“ beginnen. Da will die katholische Kirche die Fragen und Probleme um dieses Gebiet und um die Menschen dort in einer großangelegten Konferenz zum Thema machen, in einer Synode eben. Immer wieder werden die Indigenen die wichtigen Gesprächspartner sein. Die Bischöfe des Gebiets und wer auch immer sonst an der Synode beteiligt sein wird, sollen ganz unmittelbar über die Fragen und Probleme informiert werden, über die sie verhandeln wollen; ein Ausweichen in allgemein-gültige fromme Floskeln soll nicht möglich sein – hoffentlich gelingt das!

In einem Dokument zur Vorbereitung der Amazonas-Synode, das der Vatikan im Juni dieses Jahres veröffentlicht hat, heißt es wörtlich:

„Statt die Gemeinschaften ohne Eucharistie zu lassen, sollte man die Kriterien für Auswahl und Vorbereitung der Geistlichen ändern, die die Eucharistie feiern dürfen. … Bei gleichzeitiger Betonung, dass der Zölibat ein Geschenk für die Kirche ist, wird vorgeschlagen, für die entlegensten Gegenden der Region die Möglichkeit der Priesterweihe für Älteste zu prüfen, bevorzugt für Indigene, die von ihren Gemeinschaften respektiert und akzeptiert sind, auch dann, wenn sie schon eine Familie gegründet haben.“ Außerdem solle die Kirche „die Art von offiziellem Amt“ identifizieren, „das Frauen übertragen werden kann, um so die zentrale Rolle zu würdigen, die Frauen heute in der amazonischen Kirche spielen.“ 

„Priesterweihe für Älteste …, bevorzugt für Indigene …, offizielles Amt, das Frauen übertragen werden kann ..:“ Das sind Töne, die man, soweit ich mich erinnern kann, bisher noch nie aus dem Vatikan gehört hat. Ich kann mir nur wünschen, dass es nicht bei diesen „Tönen“, bei den Worten bleibt, dass ihnen Taten folgen. Ich kann mir freilich auch nicht vorstellen, dass der Stein, einmal ins Rollen gekommen, an den Grenzen Amazoniens stehen bleibt; früher oder später wird er das Abendland erreichen.

Musik 2: CD wie oben unter „Musik 1“; Nr. 14; 2,49 Min.

„Baue meine Kirche wieder auf!“ Dieser Auftrag, den vor mehr als 800 Jahren der heilige Franziskus in dem halb zerfallenen Kirchlein von San Damiano in Assisi gehört hat, hat viele Gesichter: Sie soll eine Kirche für die Menschen sein, in den Regenwäldern Amazoniens ebenso wie bei uns in Deutschland.

Das ist, so scheint mir, gar nicht so einfach, hier bei uns in Deutschland die Kirche „aufzubauen“, dass sie wirklich eine Kirche für die Menschen ist. Das hieße ja, dass die Menschen

sie auch wollen, dass sie sich in ihr zu Hause fühlen, im Bau aus Steinen sowohl als auch in der oft so gescholtenen „Institution“. Stattdessen gibt es in unserem Land eine stetig steigende Zahl von Menschen, die die Kirche abgeschrieben haben. Nun könnte man natürlich sagen: Totgeglaubte leben bekanntlich besonders lange. Aber die Aussichten für die Zukunft der Kirche an Sprichwortweisheiten festzumachen, das ist doch wohl ein allzu billiger Trost.

Ich möchte stattdessen lieber fragen: Was braucht die Kirche – und da das alles ja nicht nur für die katholische Kirche gilt: Was brauchen die Kirchen in Deutschland heute besonders? Eine ganze Reihe von Menschen ist der Meinung, dass da viel zu viel an den äußeren Strukturen herumgebastelt wird. „XXL-Gemeinden“, wie man sie manchmal nennt, also übergroße Gemeinden, mit immer weniger Priestern oder Pfarrern, mit einer schrumpfenden Zahl ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – ist da überhaupt noch viel möglich?

Der heilige Apostel Paulus gehörte seiner Zeit nicht zu den Menschen, die leicht aufgegeben hätten. Er ist nicht müde geworden, fast durch die ganze damals bekannte Welt zu reisen; er hat Gemeinden gegründet; er ist mit ihnen in Kontakt geblieben; er hat sich über ihre Fortschritte gefreut; er konnte aber auch mit bewegten Worten zurechtweisen, wenn er sein Missionswerk in Gefahr sah. Dabei ging es ihm nie um einen unerleuchteten Aktivismus, stets wies er auf das hin, was für ihn das einzig Wesentliche war. So konnte er über seine rastlose Tätigkeit schreiben:

„Ihr erinnert euch, Brüder und Schwestern, wie wir uns gemüht und geplagt haben. Bei Tag und Nacht haben wir gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen.“ 

Aber sofort fügte er hinzu, was für ihn noch entscheidender war:

„Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft hätte und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte …, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts. … Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.“ 

Musik 3: CD wie oben unter „Musik 1“ Nr. 19; 2,48 Min.

Schließlich noch einmal: der Wolf von Gubbio aus den Legenden um den heiligen Franziskus von Assisi. Er hatte das damals stadtbekannte Ungeheuer gezähmt. Und so zeigt sich: selbst die wildesten Bestien lassen sich zähmen.

An dieser Stelle soll der Wolf von Gubbio als Symbol stehen für alles, was einen zunächst einmal, beim ersten Hinschauen, überfordert, was Angst macht; aber er könnte auch für Entwicklungen stehen, die sich im Nachhinein sogar als durchaus willkommen erweisen. So geht es zum Beispiel, wenn manche Kirchengemeinden keinen eigenen Pfarrer mehr bekommen; es ist geradezu eine Lust zu sehen, wie sich da und dort Gläubige engagieren und die Menschen zu einem kirchlichen Leben zusammenführen, das – zusammen mit einem Pfarrer – kaum lebendiger sein könnte.

Der Wolf von Gubbio möge also zunächst einmal die Ängste der Menschen „wegbeißen“, die das Leben so vieler heute belasten – nicht nur in Assisi und Umgebung, sondern auch bei uns. So könnte er ein echter Helfer werden.

So wie es die Legende erzählt:

„Wie (der Wolf) so vor ihm dalag, sprach zu ihm der heilige Franz: ‚Bruder Wolf, du richtest viel Schaden in dieser Gegend an und hast schlimme Übeltaten verbrochen. … Darum verdienst du, dass man dich als Räuber und bösen Mörder einem schrecklichen Tod überliefert. … Aber jetzt, Bruder Wolf, will ich zwischen dir und den Leuten Frieden machen.‘ …
Da gab der Wolf mit Bewegungen des Schwanzes und der Ohren, mit Gebärden und Kopfnicken zu erkennen, dass er auf den Vorschlag des Heilligen eingehe, worauf dieser … beifügte: ‚Bruder Wolf, … du musst mir ein Pfand geben, dass ich mich auf das, was du versprochen hast, verlassen kann. … Und der Wolf hob die rechte Tatze und legte sie zutraulich und sanft in die Hand des heiligen Franz. …

Schließlich starb Bruder Wolf an Altersschwäche. Die Bürgersleute waren über seinen Tod sehr traurig. Denn wenn er so friedlich und in sanfter Geduld durch ihre Stadt ging, erinnerte er sie an die wundersame Tugend und Heiligkeit des seligen Franz.“

Der heilige Franziskus hat mit seinem weiten und offenen Herzen nicht nur für den Wolf von Gubbio ein gutes Wort gehabt. Um wie viel mehr für die Menschen. Die heilende Kraft des Heiligen hat nicht aufgehört zu wirken. Das bezeugen die vielen Tausende, Pilger und Touristen, die Jahr für Jahr zu seinem Grab in Assisi kommen und sich von dieser wunderbaren Gestalt anrühren lassen. Seine Fürsprache möge die Amazonas-Synode begleiten. Ich wünsche mir aber auch, dass der heilige Franziskus die christlichen Kirchen in unserem Land bei dem heute so notwendigen „Wiederaufbau“ des christlichen Lebens unterstützt und dass er den Menschen hilft, ihre Ängste zu überwinden und – trotz allem – zuversichtlich in die Zukunft zu schauen.

Musik 4: CD wie oben unter „Musik 1“; Nr. 26: A. Schönberger, Improvisation über „In dir ist Freude“; 8,00 Min. bzw. ausblendend..

 

 

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