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Was heißt beten?
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Was heißt beten?

Eugen Eckert
Ein Beitrag von Eugen Eckert, Evangelischer Stadionpfarrer in der Commerzbank-Arena und Referent der EKD für Kirche und Sport

Musikkonzeption: Kantor Uwe Krause • Sprecherin: Monika Hessenberg

Seit vielen Jahren begleitet mich das Gebet einer großen Frau des Mittelalters. Sie heißt Theresa von Avila. In ihrem Gebet setzt sie sich – durchaus kritisch – mit dem Älterwerden und manchen Angewohnheiten alter Menschen auseinander. Und sie bittet Gott, Entwicklungen in ihrem Leben nicht zuzulassen, die sie bei alten Menschen offenbar als problematisch kennengelernt hat. Ihr Gebet sprüht vor selbstironischer Heiterkeit, wenn sie gleich am Anfang sagt:

Gott, bewahre mich vor der Einbildung,
bei jeder Gelegenheit zu jedem Thema etwas sagen zu müssen!
Erlöse mich von der großen Leidenschaft,
die Angelegenheiten anderer ordnen zu wollen!
Lehre mich, nachdenklich, aber nicht grüblerisch,
hilfreich, aber nicht diktatorisch zu sein!
Bei meiner Ansammlung von Weisheit scheint es mir ja schade,
sie nicht weiterzugeben – aber Du verstehst, Herr,
dass ich mir ein paar Freunde erhalten möchte.

Was heißt beten? Schon vor vielen Jahren habe ich auf dem Weg zu meiner Konfirmation eine Antwort auf diese Frage gelernt, die ich nie vergessen habe: Beten heißt, von Herzen mit Gott reden. Was ich auf dem Herzen habe, kann und soll Inhalt meines Gebetes sein. Was mir auf der Seele brennt, darf ich Gott sagen: Das, wofür ich dankbar bin oder wofür ich Gottes Hilfe erbitte genauso wie das, worüber ich klage.
Das Gebet der Theresa von Avila begleitet mich ständig, seit ich angefangen habe darüber nachzudenken, wie sich mein Leben nach dem herannahenden Ruhestand gestalten soll. Ich liebe dieses Gebet so, weil es mir hilft, mit viel Humor auf die unausweichlichen Schrullen auch meines Älterwerdens zu schauen und Gott von Herzen zu bitten, selbst mit ihnen liebenswert zu bleiben. Beten als eine Auseinandersetzung mit mir selbst im Zusammenspiel mit Gott und den Mitmenschen.
So konnte ich allerdings nicht immer beten. Ich bin in einer freikirchlichen Tradition aufgewachsen, in der Beten und besonders die Gebetsgemeinschaft eine große Rolle spielen. Meine religiösen Wurzeln liegen in der Methodistenkirche. Sie formierte sich in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus einer Erweckungsbewegung um den anglikanischen Geistlichen John Wesley. Ihren Namen verdankt die Kirche übrigens der Häme Außenstehender. Denn als die Brüder Charles und John Wesley während ihres Studiums mit Kommilitonen an der Universität systematisch die Bibel zu lesen begannen, wurden sie als „the methodists“ verspottet. Die neue Bewegung aber kehrte den Spieß um und machte aus dem Spottnamen ihr Programm: Gründlich in der Bibel zu lesen, öffentlich Zeugnis über den eigenen Glauben ablegen zu können und in Gebetsgemeinschaft miteinander verbunden zu sein, gehörte zu meiner religiösen Entwicklung. In ihr war ich geborgen. Ihr verdanke ich viel, besonders meine Liebe zur Musik. In ihr war ich beheimatet.

Alles war gut, bis die Zeit kam, in der ich über meine Kirche erschrocken bin. Dieses Erschrecken begann bei einigen Dauerbetern. Kaum wurde im Gottesdienst zur Gebetsgemeinschaft eingeladen, erhoben ewig dieselben Gemeindemitglieder ihre Stimme. Und mit einer rituell wiederkehrenden Einleitung, die für mich zunehmend hohl klang, dankten sie „Gott, unserem lieben himmlischen Vater, unserem Herrn und Heiland, unserem Retter aus aller Not“ für unsere Gemeinde, für unsere Gemeinschaft, für uns, Brüder und Schwestern untereinander. Langsam begann ich zu erkennen, dass wir Methodisten uns als „Insel der Heiligen“ definierten und uns als die besonders Frommen in der Stadt abgrenzten, auch gegen die „normalen Christen“. Uns konnte man allein daran erkennen, dass wir jeden Sonntag in die Kirche gehen, ganz viel beten, dass es uns mit dem Christsein ernst ist, dass wir Gemeinschaft pflegen und konsequent unseren Glauben leben.
Dass wir andere mit dieser Haltung ausgrenzten, dass es so aussah, als wollten wir mit normalen Leuten nichts zu tun haben, gefiel mir nicht länger. Dass man bei uns sogar eine Aufnahmeprüfung ablegen musste, um dazu zu gehören, empfand ich zunehmend als überheblich und selbstgerecht. Und dann kam der Tag, als ich zum ersten Mal ernsthaft über Jesu Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner nachdachte. Der Evangelist Lukas erzählt dieses Gleichnis, in dem Jesus zu Leuten spricht, die von sich selber überzeugt sind, gerecht zu sein und die andere verachten.

Zwei Menschen gingen zum Tempel hinauf, um zu beten; der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete: Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen, die rauben, die Unrecht tun, Ehen brechen – oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme.
Der Zöllner stand am Rand und wollte nicht einmal die Augen zum Himmel erheben. Er schlug sich an die Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Ich sage euch, dieser Menschging gerechtfertigt hinunter nach Hause und jener nicht. Denn alle, die sich selbst erhöhen, werden erniedrigt werden, und die, die andere nicht zu beherrschen suchen, werden erhöht werden.

Den verächtlichen Blick auf andere, auch im Gebet, den habe ich als Jugendlicher kennengelernt. Die abfällige Bemerkung über andere, über Christen anderer Konfessionen, über Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften, eine Abwertung anderer, die einem selbst das Gefühl gibt, besser zu sein als die – wer kennt das nicht? Aber brauchen wir das wirklich? Und wenn nicht, warum tun wir es: Warum erhöhen wir selbst uns immer wieder auf Kosten anderer?
Mit meiner religiösen Herkunft im Nacken lässt das Gleichnis in mir alle Alarmglocken schrillen. Es gab Zeiten, in denen ich mich ganz nah bei dem frommen, alle Traditionen pflegenden Pharisäer gesehen habe. Angesichts der Beurteilung Jesu aber stellte ich mich dann doch lieber auf die Seite des bescheidenen und dadurch gerechtfertigten Zöllners. Zugleich sollte mir in diesem Hin und Her keinesfalls das unterlaufen, was Eugen Roth in einem Gedicht als Risiko der zu schnellen Solidarisierung mit dem Zöllner beschrieben hat:

Ein Mensch betrachtete einst näher
die Fabel vom Pharisäer,
der Gott gedankt voll Heuchelei
dafür, dass er kein Zöllner sei.
Gottlob! Rief er in eitlem Sinn,
dass ich kein Pharisäer bin.

Das Gedicht liefert mir einen ersten Schlüssel zum Verständnis des Gleichnisses Jesu. Es geht in ihm offenbar weder um eine allgemeine Beurteilung der Lebensweise der Pharisäer, noch der der Zöllner. Vielmehr geht es um die Kritik an überheblicher Selbstgerechtigkeit und Eitelkeit. Denn würde der Zöllner Gott dafür danken, nicht überheblich zu sein wie der Pharisäer, er stünde, so Eugen Roth, mit ihm auf einer Stufe.

Nun spricht Jesus im Gleichnis aber nur von der Überheblichkeit eines Pharisäers, der offenbar meint, Gott an sich erinnern zu müssen, Gott auf die Sprünge helfen zu müssen. Theatralisiert klingt sein Gebet dann so:

Hallo, ich bin’s, dein Freund, Gott. Ich bin hier, im Tempel, in deinem Haus. Naja, Du weißt ja Bescheid über mich, Du weißt, wie wichtig mir das Gebet zu Dir ist. Und außerdem faste ich zweimal in der Woche, also ein Mal mehr als ich muss. Und selbstverständlich spende ich zehn Prozent von meinen Einnahmen. Was soll ich Dir sonst noch Gutes sagen über mich? Ach so: Danke, dass ich nicht so bin, wie all die Sünder um mich her – und erst recht nicht wie dieser Zöllner da.

Es ist die Karikatur eines übersteigerten Pharisäers, mit der Jesus im Gleichnis plakativ argumentiert. Ich mache das manchmal auch so, dass ich eine Haltung karikiere, dass ich in einer Erzählung übertreibe, um den mir wichtigen Sachverhalt zu verdeutlichen. In der christlichen Auslegungsgeschichte aber war Jesu Karikatur dieses einen überheblichen Pharisäers folgenreich. Denn dieser eine musste durch die Jahrhunderte dafür herhalten, gleich alle Pharisäer schlecht zu reden. Unzählige christliche Predigten beschrieben die Pharisäer als unsympathische und unbeliebte Besserwisser, als verlogene Moralapostel, die Andere mit dem Vorwurf kleinmachten, die Gebote Gottes nicht zu halten, selbst aber keinen Deut besser zu sein. Der schlechte Ruf der Pharisäer, der bis in unsere Gegenwart wirkt, liegt darin begründet.
Die jüngere Forschung legt ganz andere Schlüsse nah. Tatsächlich war die relativ überschaubare Gruppe der Pharisäer im Volk durchaus beliebt und Jesus stand ihr auch nah. Die Pharisäer nahmen die jüdische Tradition und die hebräische Bibel glaubwürdig ernst, deutete sie alltagsnah und lebte danach.
Nein, mit seinem Gleichnis kritisiert Jesus weder die Lehre noch die Lebensweise der Pharisäer allgemein. Und selbst der Pharisäer, um den es im Gleichnis geht, lebt ja vorbildlich. Sein Problem ist, und damit nähern wir uns dem Knackpunkt der Erzählung, dass er sich zu einer überheblichen Selbstdarstellung verführen lässt:

Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die übrigen Menschen, die rauben, die Unrecht tun, Ehen brechen – oder auch wie dieser Zöllner.

Damit aber übertritt dieser Pharisäer, der ja so gewissenhaft um die Einhaltung aller Regeln und Gesetze bemüht ist, ohne es zu wollen und zu wissen ausgerechnet jenes Gebot, das Jesus in seiner jüdischen Tradition als das höchste und größte Gebot lehrt und vertritt. Es ist das Gebot der Nächstenliebe:

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt – und deinen Nächsten und deine Nächste wie dich selbst. (Mt. 22, 37 ff)

Und es ist ausgerechnet der Zöllner, der zum Lehrer des Pharisäers wird. Ausgerechnet einer von denen, die im Dienst der römischen Besatzungsmacht stehen, die sich nicht selten schamlos auf Kosten ihrer Landsleute bereichern. Alle, denen Jesus das Gleichnis erzählte, werden gewusst haben, dass ein Zöllner schon aufgrund seines Berufs gar nicht anders kann, als die Regeln des Glaubens ständig zu übertreten. Und nun steht da einer von denen ganz am Rand des Tempels und bittet mit demütiger Stimme „Gott, sei mir Sünder gnädig“. Mit wenigen Worten wird ein Zöllner zum Lehrer des Pharisäers und zum Lehrer all derer, die das bis heute Gleichnis hören.

Beten heißt: von Herzen mit Gott reden. Das habe ich als Jugendlicher gelernt und nie mehr vergessen. Darum lobe und danke ich Gott, wenn ich Schönes erlebe, wenn es mir gut geht und ich glücklich bin. Darum klage und kämpfe ich mit Gott, wenn ich Ungerechtes sehe, wenn ich zweifele und verzweifelt bin. Darum bitte ich Gott für andere Menschen und auch für mich, um die Kraft Schweres tragen zu können, um Rettung aus Notlagen, um Segen und Bewahrung. Vor wenigen Tagen las ich ein englisches Gedicht, das mir so gut gefällt, dass ich es teilen möchte. Es ist nur ein Satz:

Sometimes
all it takes
is just
one prayer
to change
everything.

„Manchmal braucht es nur ein Gebet, um alles zu verändern“. Ein solches Gebet spricht der Zöllner: „Gott, sei mir Sünder gnädig“. Dieses Gebet reicht aus, um Jesus im Gleichnis zur Pointe kommen zu lassen.

Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. (Lk 18, 14)

Diese Lektion habe ich damals gelernt, als ich anfing, über die Gebetsgemeinschaften meiner früheren Gemeinde zu erschrecken, in denen wir Anderen die Ernsthaftigkeit in der Nachfolge Jesus absprachen. Das ist schon lange her und ich weiß längst, wie groß das soziale Engagement der Methodisten ist und ihr Einsatz für den Frieden, ganz besonders in den USA. Aber meine Lektion von damals trage ich bis heute in mir: Sich davon verführen zu lassen, sich selbst zu erhöhen, sich selbst in scheinbar rechtes Licht zu rücken, sich selbst groß zu machen auf Kosten anderer und selbstüberheblich sogar Herrschaft über Menschen auszuüben, ist Unrecht in den Augen Jesu.
Theresa von Avila, diese große Frau des Mittelalters, wusste davon, dass auch mit dem Älterwerden die Gefahr verbunden ist, sich Besserwisserisch über andere zu erheben. Ihr Gebet, das ich für ein als Feuerwerk selbstironischer Heiterkeit so liebe, ist zugleich ein Lehrstück für ein Beten, das sich in keiner Weise ausgrenzend gegen andere richtet, sondern nichts im Blick hat als die Liebe zu Gott und den jeweils Nächsten. Das Gebet der Theresa von Avila endet mit den Worten:

Lehre mich die wunderbare Weisheit,
dass ich mich irren kann.
Erhalte mich so liebenswert, wie möglich.

Ich möchte keine Heilige sein –
mit ihnen lebt es sich so schwer –
aber ein alter Griesgram ist das Krönungswerk des Teufels!
Amen.

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