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Reif für die Insel
Bild: Pixabay

Reif für die Insel

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Ober-Ramstadt

„Reif für die Insel!“ Dieser Gedanke, liebe Hörerin, lieber Hörer, war mir in den letzten Wochen immer häufiger durch den Kopf gegangen: Einfach mal alles hinter sich lassen, und nur Zeit haben für sich und den lieben Gott. Mit dieser Sehnsucht im Herzen hatte ich mich angemeldet für eine Woche im Kloster der Kommunität Iona auf dieser gleichnamigen Insel an der Westküste Schottlands. Und nun war es endlich soweit! Die kleine Fähre schaukelte über die Atlantikwellen zu „meiner“ Insel. Ich zog gutgelaunt meinen Rollkoffer an Land und machte mich gemeinsam mit etlichen anderen Menschen zu Fuß auf den Weg in Richtung Klosteranlage.

Nur 120 ständige Bewohner gibt es auf Iona, – das hatte ich vorher gelesen. Aber etwa 130 000 Menschen besuchen jedes Jahr diesen abgeschiedenen Ort. Die meisten kommen als Tagesgäste mit leichtem Gepäck, andere haben schwere Rucksäcke dabei oder einen Rollkoffer so wie ich, um länger zu bleiben. Klosterleben auf Zeit, eine Woche mal was ganz anderes erleben als zu Hause, auf der Suche nach Entspannung und Inspiration. Ich war nicht allein unterwegs mit dieser Sehnsucht und auf der Straße, die uns zum Kloster führte. Es gibt nur diese eine Straße hier auf der kleinen Insel, – verlaufen kann man sich da kaum. Nicht einmal 6 Kilometer lang ist das Stückchen Land inmitten der See und an der breitesten Stelle gerade mal zweieinhalb Kilometer breit. Und schon bald war sie zu sehen, die Klosteranlage von Iona. Was würde mich erwarten hinter diesen riesigen Natursteinmauern?

Musik: Felix Mendelsohn Bartholdy, Hebriden Ouvertüre, Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly

Die schottische Insel Iona ist klein, aber bedeutsam in Geschichte und Gegenwart. Iona gilt als spirituelles Zentrum Schottlands, als der Ort, von dem irisch-schottische Mönche seit dem 6. Jahrhundert das Christentum bis nach Mitteleuropa brachten. Das große keltische Kreuz im Eingangsbereich vor der Klosteranlage gehört zu den alten Zeitzeugen aus dieser Epoche. Es steht hier schon seit über 1200 Jahren an der gleichen Stelle. Die Bildmotive biblischer Geschichten darauf sind etwas verwittert, aber dennoch besticht das Kreuz immer noch durch seine schlichte Schönheit. Während die anderen erste Fotos machten, betrachtete ich nachdenklich die gewaltigen Natursteinmauern. Denn ich wusste, 30 Jahre lang hatten hier Mitte des letzten Jahrhunderts Theologiestudenten und arbeitslose Männer aus Glasgow und Umgebung miteinander diese Mauern wieder aufgebaut, hatten zusammen gelebt, gearbeitet und gebetet.

Die zukünftigen englischen und schottischen Pfarrer sollten etwas mitbekommen aus dem harten Leben arbeitsloser Männer und Familienväter. Und die arbeitslosen Männer sollten etwas mitbekommen von der Welt der Bibel und der Hoffnung von Menschen, die Visionen für eine gute Zukunft hatten. Ich fand diese Ideen faszinierend. Dieses Projekt hatte der evangelische Pfarrer Geoge MacLeod ins Leben gerufen. Er gründete 1938 die heutige Kommunität. Es war die Überzeugung MacLeods, dass sich christlicher Glaube im Alltag der Welt zu bewähren habe. Grenzen zwischen Gebet und Politik, zwischen Glaube und Normalwelt galt es zu überwinden. So gelang es MacLeod damals, Menschen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten zusammenzubringen. Er gab ihnen eine gemeinsame Aufgabe und ein gemeinsames Ziel. Sie bauten wieder auf, was nach der Reformation über die Jahrhunderte zerfallen war.

Die Kommunität Iona heute kennt keine monastische oder kommunitäre Exklusivität. Hier leben keine Mönche und Nonnen mehr. Die Mitglieder der Kommunität leben und arbeiten an ihrem jeweiligen Wohnort mit einer gemeinsamen offenen Regel. Sie verpflichten sich zum täglichen Gebet und der damit verbundenen Bibellektüre. Sie verpflichten sich auch zu einem verantwortlichen Umgang mit Geld und Zeit, sie treffen sich in lokalen Gruppen und einmal im Jahr für eine Woche in der Klosteranlage von Iona.

Belebt wird das Kloster Iona von jungen Menschen, die hier auf Zeit leben und mitarbeiten, – für einige Monate oder 1-2 Jahre. Einer von ihnen begrüßte uns nun als die neuen Gäste für eine Woche, ein anderer führte mich und einige andere Frauen in ein Nebengebäude und übergab uns die Schlüssel zu unseren Zimmern. Ich öffnete die Tür und – war irritiert. Ein Bett stand da von Wand zu Wand, eine Kommode mit drei Schubladen gegenüber, dazwischen nur so wenig Platz, dass ich gar nicht wusste, wie der Rollkoffer und ich gleichzeitig hineinpassen könnten. Ich atmete tief ein und aus. Das war also nun mein eigenes Reich für die kommende Woche: eine echte Klosterzelle aus alter Zeit! Nun ja, – ein Haus mit geräumigen Zimmern hatte ich ja zu Hause. Wollte ich nicht etwas anderes erleben?

Musik: Jacques Berthier, Laudate omnes gentes, Rundfunkchor Berlin unter Simon Halsey

Tatsächlich bekam ich alle Sachen aus meinem Koffer in dieser winzigen Klosterzelle von etwa 3 qm unter. Es sollte ja auch nur mein Schlafraum sein! Dann machte ich mich auf den Weg nach draußen, um mehr zu sehen von dieser Klosteranlage auf der Insel Iona. Ich kam in den sogenannten Kreuzgang mit den vielen Säulen, durch die Licht und Schatten in den umlaufenden Gang fielen. In der Mitte dieses Innenhofes stand eine moderne Bronze-Skulptur. Auf den ersten Blick erkannte ich nichts, was mich fasziniert hätte. Eine junge Frau erklärte gerade einer Gästegruppe, dass diese Skulptur von dem jüdischen Künstlers Jakob Lipchiz gestaltet worden war. Er stammte ursprünglich aus Litauen, hatte in Paris studiert, war während der Nazizeit nach Amerika geflohen und hatte dann 1959 der Kommunität dieses Kunstwerk geschenkt.

Die Jungfrau Maria ist zu sehen, die jüdische Frau und Mutter Jesu. Gehalten, durchströmt und umgeben ist sie von einem herzförmig geformten Sternenzelt. Ungewöhnlich: Das Herz steht auf dem Kopf. Ich wurde hellhörig. Die Liebe Gottes fließt gewissermaßen durch diese Frau hindurch und stellt alles auf den Kopf, den Himmel auf die Erde. Zusammengehalten wird dieses Liebesband des Himmels von einer Taube, Symbol der Heiligen Geistkraft. Sie gibt der Skulptur auch ihren Namen: Aussendung des Geistes.

Die junge Frau betonte, wie bemerkenswert sie es finde, dass ein jüdischer Künstler die Spiritualität der christlichen Kommunität Iona damals schon als so zukunftsweisend erlebt hat, dass er dem Kloster diese Skulptur schenkte. Die Inschrift des Künstlers zeugt von seiner Motivation und Glaubensüberzeugung: „ Jacob Lipchitz, Jude, treu im Glauben seiner Vorfahren, hat diese Jungfrau geschaffen für eine bessere Verständigung aller Menschen auf Erden, sodass die Heilige Geistkraft sich durchsetzen möge und verbreiten kann.“

Ich spürte den Kontrast zwischen dem alten Keltenkreuz draußen und der modernen Bronzeskulptur im Innenhof. Hinter beiden Kunstwerken standen und stehen Menschen, die hier Inspiration fanden für ihren jeweiligen Alltag. Die einen sahen noch zu ihrer Zeit das Heil einzig und allein im Zeichen des Kreuzes. Der andere wählte heute als Zeichen für seine Hoffnung die Jungfrau, die Liebe und die Geistkraft Gottes. Er konnte seinem eigenen Glauben treu bleiben und doch offen sein für die Ideen der anderen Religion. Und er hat die Vision, dass Gottes Geistkraft durch eine weltumspannende Liebe sich überall da durchsetzt, wo Menschen sich über Grenzen hinweg verstehen.

Während die Tagesgäste weiterzogen, hatte ich noch einige Minuten Zeit, die Bronzestatue auf mich wirken zu lassen. Ohne die Erklärung wäre ich achtlos daran vorüber gegangen. Nun aber konnte ich sie mit anderen Augen betrachten. Ganz langsam fing ich an, sie schön zu finden.

Musik: Felix Mendelsohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 3 in A-Dur op. 56 (die Schottische), Gewandhausorchester Leipzig unter Riccardo Chailly

Die alten Gemäuer der nach Jahrhunderten wieder aufgebauten Klosteranlage von Iona sind von innen weiß getüncht. Durch die alten trüben Scheiben kommt Licht in den Raum. Menschen sitzen da in halbrunden Mauernischen. Im Mittelalter saßen dort die Benediktinermönche, wenn sie sich miteinander ausgetauscht und beraten haben. Heute sitzen hier Menschen aus unterschiedlichen Ländern, Frauen, Männer, Jugendliche und Maggy. Sie ist erst 6 Jahre alt und das einzige Kind in dieser Runde. Sie kommt aus England und nach den Ferien in die Schule. Jetzt hat sie ein Plüschkrokodil in der Hand und soll sagen, woher sie kommt, wie ihr Name ist und was sie sich wünscht für die Woche im Kloster auf der Insel Iona.

Maggy hat die Aufgabe bekommen, jedem und jeder in der Runde einmal das Krokodil zu überreichen für eine kurze Vorstellung. – Aber da sitzen neben Mama und Oma noch so viele fremde Menschen in der Runde. Ob sie sich trauen kann, auf jeden zuzugehen? Besonders der Mann mit dem Bart scheint ihr nicht ganz geheuer zu sein.
Aber nach und nach wagt sie sich zu allen.

Da ist z.B. Fiona, die junge Frau aus Finnland. Sie hat vor einiger Zeit hier im Kloster ein freiwilliges soziales Jahr gemacht. Jetzt ist sie Studentin und will eine Woche noch einmal an schöne Erinnerungen anknüpfen, „Vertrauens-Auffrischung“, nennt sie das. Vertrauen zu Gott auffrischen, aber auch zu den Menschen, die zufällig jetzt gerade mit ihr hier sind. Die anderen hören interessiert zu. Das Wort ist vielen neu und ungewohnt: Vertrauens-Auffrischung! Aber es klingt interessant und aus dem Mund der jungen Frau so zuversichtlich, dass man den Eindruck haben kann, dass auch ihr Vertrauen zu sich selbst schon in der Vorfreude auf diese Woche aufgefrischt wurde.

Nach und nach geht Maggy auf die für sie fremden Menschen zu. Sie schaut sich konzentriert um, damit sie keinen übersieht oder vergisst. Und schließlich fällt ihr Blick wieder auf den fremden Mann mit Bart. Jetzt bekommt er das Krokodil. Es ist Thomas. Er kommt aus Deutschland und ist Lehrer. Aber die Arbeit hat ihn krank gemacht, erzählt er und schaut dabei Maggy traurig ins Gesicht. Es war alles irgendwann zu viel, zu anstrengend, zu sinnlos, sagt er, – die Ärzte haben ihm zu einer Auszeit geraten. Jetzt macht er ein Sabbatjahr und sucht – „nach den Quellen der Freude“, wie er sagt. Die sollen ihn wieder ins Gleichgewicht bringen. Es dauerte eine Weile in der Vorstellungs-Runde der Klostergäste, bis alle von sich etwas erzählen konnten. Aber es entstand auch eine Atmosphäre des Vertrauens. Und Maggy hatte tatsächlich am Ende niemanden vergessen oder übersehen von den über 25 Personen.

Wie gut es wäre, dachte ich im Anschluss an dieses Beisammensein, wenn alle Menschen diese Erfahrung machen könnten: Ich werden nicht übersehen oder vergessen, aufmerksame Zuhörer interessieren sich für mich, verteilen nicht gleich gute Ratschläge sondern nehmen wahr, was mich bewegt. Ist das nicht auch schon eine so eine Art Gotteserfahrung?

Musik: Ralph Vaughan Williams, Greensleeves, James Ehnes, Violine und Eduard Laurel, Klavier

Im Kloster der Kommunität Iona werden die Besucher in Gottesdiensten, Gesprächsgruppen und beim gemeinsamen Musizieren und Arbeiten herausgefordert, sollen auch herausgelockt werden aus den Engführungen ihres Lebens. Ihr Blick soll geweitet und geschärft werden für Menschen, die in Armut leben, die unter ungerechten Verhältnissen leiden oder aus anderen Gründen Schutz und Solidarität brauchen. Hier werden konkrete Ideen entwickelt, wie Christen zu Hause neu handeln können, weil Gottesliebe und Menschenliebe untrennbar miteinander verwoben sind. In einem Morgengebet der Kommunität wird das für mich besonders anschaulich. Ich habe mir vorgenommen, es immer mal wieder auch zu Hause zu beten, gemeinsam mit anderen, vielleicht gerade dann, wenn wir müde sind und uns reif fühlen für die Insel:

Gott sei Dank,
dass wir heute aufgestanden sind, hinein in den Aufstand des Lebens.
Die Absicht Gottes sei zwischen uns und jeder Absicht,
die Hand Gottes sei zwischen uns und jeder Hand.
Der Schmerz Christi sei zwischen uns und jedem Schmerz,
die Liebe Christi sei zwischen uns und jeder Liebe.
Gott du hast uns ans helle Licht dieses neuen Tages gebracht,
bring uns zum wegweisenden Licht der Ewigkeit.
Amen


Die Sonne schien, als wir nach einer Woche wieder die Straße entlanggingen zurück zur Fähre, um die Insel zu verlassen. Ich fühlte mich erholt und erfrischt, auch wenn nicht alles einfach gewesen war. In mir hatte sich etwas gewandelt. „Reif für die Insel“ dachte ich, als ich kam. „Auf der Insel reifen“ spürte ich als ich ging. Viele Impulse habe ich jedenfalls mitgenommen aus dieser Zeit. Manches darf nachwirken in meinen Alltag hinein, ganz im Sinne der Heiligen Geistkraft, die durch uns hindurchfließen will für eine bessere Verständigung aller Menschen auf Erden.

Ich glaube, Gott hat für jeden eine Aufgabe und wir können sie erfüllen, so wie Maggy es geschafft hat: Konzentriert, achtsam und aufmerksam, – in Kontakt kommen, auch mit denen, die uns fremd sind. Es könnte eine Gotteserfahrung daraus werden.

Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Hebriden Ouvertüre, Gewandhausorchester Leipzig, Riccardo Chailly

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