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Menschliches, allzu Menschliches und das Kreuz
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Menschliches, allzu Menschliches und das Kreuz

Harald Seredzun
Ein Beitrag von Harald Seredzun, Katholischer Pfarrvikar, Pfarrei Sankt Maria Magdalena, Rheinhessen
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Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich in der Bibel lese. Ich schmunzle über die Offenherzigkeit, mit der die Bibel Menschliches und allzu Menschliches erzählt. Wenn zum Beispiel die menschlichen Schwächen der Apostel ganz ungeschminkt dargestellt werden.

Apostel – das sind doch eigentlich große Heilige, hehre Gestalten. Die bildende Kunst stellt sie oft dar als wahre Heldengestalten, als strahlende Lichtgestalten. Und es gibt ja wohl eine Art Sehnsucht nach Lichtgestalten, die uns als Vorbild dienen und uns Wegweisung geben sollen. In der Tat hat das Lebensende der Apostel, wie es überliefert ist, etwas Heldenhaftes. Viele haben für die Botschaft von Jesus Christus ihr Leben geopfert. Das ist wohl auch der Grund, warum in vielen künstlerischen Darstellungen die Apostel glorios und verehrungswürdig erscheinen. Die Kunst hat ihr Bild vielleicht mehr geprägt als die biblischen Erzählungen. Und sicher sind sie angesichts ihres Lebenswerkes verehrungswürdig. Aber, wie gesagt, die Bibel erzählt immer wieder vom Menschlichen und allzu Menschlichen im Leben der Apostel. So auch das Evangelium, das heute in den katholischen Gottesdiensten verkündet wird:   

Nach dem Markusevangelium (Kapitel 10, Verse 35 ff):

„Da traten die beiden Brüder Johannes und Jakobus an Jesus heran und sagten: ‚Meister, wir möchten, dass du uns eine Bitte erfüllst‘. Jesus antwortete: ‚Was soll ich für euch tun?‘ Sie sagten: ‚Wenn du das Reich Gottes aufgerichtet hast, wenn du auf dem Thron deiner Herrlichkeit erscheinst, dann lass doch einen von uns zu deiner Rechten und den anderen zu deiner Linken sitzen‘. Jesus erwiderte: ‚Ihr wisst nicht, was ihr da sagt und um was ihr bittet. Ich frage euch: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, könnt ihr die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde?‘ Sie antworteten: ‚Wir können es‘. Da sagte Jesus: ‚In der Tat, ihr werdet den Kelch trinken, den ich trinken werde, ihr werdet die Taufe empfangen, mit der ich getauft werde. Aber um den Platz zu meiner Rechten oder Linken geht es dabei nicht‘. Als die anderen zehn Apostel hörten, wie Johannes und Jakobus sich vorgedrängt hatten, waren sie über die beiden sehr ärgerlich. Da holte sie Jesus alle zusammen und sagte: ‚Ihr wisst doch, dass die Herrscher in dieser Welt ihre Völker unterdrücken, dass die Großen in der Welt ihre Macht über andere ausüben. Das soll aber bei euch nicht so sein. Wer bei euch groß sein will, der soll groß sein im Dienen. Wer bei euch der Erste sein will, der soll sein wie ein Sklave der anderen. Denn auch ich bin nicht gekommen, um mich dienen zu lassen. Ich bin vielmehr gekommen, um zu dienen und mein Leben hinzugeben als Lösegeld für die Sünden der Menschen.‘“

Musik 1: Johannes Brahms: Präludium a-Moll (CD: Klangfenster. Thomas Drescher an der Klais-Orgel in St. Stephan, Mainz, Track 2, 1.55 min).

So ging‘s also schon zuzeiten Jesu zu, und zwar in seinem engsten Kreis, mitten unter den Aposteln. Da drängen sich zwei vor, um auf Kosten der anderen Ansehen und Ruhm zu erlangen. Sie wollen so zu sagen im Reich Gottes Karriere machen. Menschlich, allzu menschlich. Wie es war zu aller Zeit, so auch bis in Ewigkeit, könnte man sagen. Aber mein Schmunzeln darüber hält nicht lange an. Zu ernst ist das, was Jesus ihnen sagt: Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, könnt ihr die Taufe auf euch nehmen, mit der ich getauft werde? – Was meint er damit?

Er spricht vom Kelch des Leidens und Sterbens. Die Szene im Garten von Gethsemane kommt mir vor Augen. Im Garten von Gethsemane hielt Jesus sich auf, bevor er verhaftet, verurteilt und zur Hinrichtung auf den Kreuzweg geführt wurde.  Die Bibel erzählt, wie Jesus von Todesangst überfallen wurde. Er zitterte und bebte am ganzen Körper. Er betete mit der ganzen Kraft seiner Seele. Er sprach: Vater, wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen – den Kelch des Leidens und grausamen Sterbens.

 

Ich muss immer wieder innehalten, wenn es um diese ganz wesentlichen und tiefen Inhalte des christlichen Glaubens geht. Die Schuld der Menschen, die Schuld jedes Einzelnen und die Schuld der ganzen Menschheit, bedürfen der Sühne. Der Kreuzestod Jesu ist laut Bibel die Sühne für die Schuld aller Menschen aller Zeiten.

Ein Gott, der Sühne verlangt? Ein Gott, der das Kreuzesopfer verlangt? Kann das ein barmherziger Gott sein? Kann Gott in seiner Allmacht, in seiner unendlichen Liebe und Barmherzigkeit nicht durch ein Wort der Vergebung alle Schuld austilgen? Darüber nachzudenken, führt mich immer wieder  an die Grenze meines Verstehens.

Manchmal versuche ich ein wenig mehr zu verstehen, anhand von alltäglichen Erfahrungen. Beispiel:

Jemand hat sich ungerecht verhalten, hat einen anderen beleidigt, seine Ehre verletzt, aber dann tut es ihm leid, und er bittet den anderen um Verzeihung. Dann kann der andere dieser Bitte entsprechen, ein Wort der Vergebung genügt, die Sache ist erledigt. Anderes Beispiel: Jemand hat einem anderen etwas kaputt gemacht, auch er bereut seine Tat und bittet um Vergebung - dann genügt ein Wort der Vergebung aber nicht, dann muss er noch etwas machen, er muss das Kaputtene reparieren, zumindest wenn das möglich ist.

Ich gebe zu: Das sind viel zu banale Beispiele, um sich den tiefsten Inhalten des christlichen Glaubens zu nähern, um zu verstehen, warum Gott nicht einfach durch ein Wort der Vergebung die Schuld der Menschen auslöschte, warum es einer Erlösungstat bedurfte. Das Kreuzesopfer ist nach biblischer Botschaft die Sühne für die Untaten der Menschen, und zwar für alle Verbrechen und Gräueltaten der Menschheitsgeschichte. Das Kreuzesopfer musste – das Wort kommt mir schwer über die Lippen – reparieren.

Ich behaupte nicht, mit dem Begriff einer Reparatur wirklich viel begriffen zu haben. Die zusammengeballte Schuld aller Menschen aller Zeiten ist eigentlich unvorstellbar. Genauso unvorstellbar ist, wie einer das alles auf sich nehmen konnte – das Kreuzesopfer als Sühnungstat bleibt für mich letztlich unbegreiflich..

Manchmal kommt mir der Gedanke: Irgendwie muss das, was durch menschliches Versagen und Handeln an Furchtbarem geschehen ist, die gute Schöpfung Gottes im Tiefsten getroffen, verletzt, beschädigt haben. Irgendwie müssen die Gräueltaten von Menschen noch viel zerstörerischer wirken, als zu erkennen ist. Irgendwie konnte selbst Gottes Allmacht und Barmherzigkeit nicht anders Vergebung und Erlösung bewirken, als durch Jesu Kreuzesopfer, das der zutiefst verletzten Schöpfung die Wandlung in Gottes Reich ermöglicht hat.  

Ich gestehe: Mein Nachdenken macht mich nicht klüger. Ich reibe mich nur umso mehr an der Grenze meines Begreifens.              

 

„Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?“ fragt Jesus die beiden Apostel. Soweit wir wissen, sind die Apostel alle Jesus nachgefolgt, auch auf dem Weg des Leidens, manche bis zur Hingabe ihres Lebens im Martyrium. Aber keiner konnte dadurch die Schuld der ganzen Menschheit sühnen. Das konnte nur das Kreuzesopfer des Gottessohnes. Die Apostel haben den Kelch des Leidens getrunken. Aber damit haben sie nicht die Erlösung der Menschheit bewirkt. Die Welt erlösen, alle Schuld in neues Leben verwandeln, alle Jammertäler ins Paradies, ins Reich Gottes verwandeln, das kann der Mensch nicht. Das braucht er auch nicht, weil es ein anderer für ihn tut.

„Ihr wisst nicht, worum ihr bittet“, sagt Jesus zu den beiden. Er nimmt die Rangelei seiner Apostel um die besten Plätze zum Anlass, um ihnen eine Lektion zu erteilen: Ihr wisst nicht, was der Kelch des Leidens bedeutet, den ich trinken werde.

Und vielleicht möchte Jesus zu mir immer wieder sagen: Du weißt nicht, wie unergründlich das Geheimnis des Kreuzes ist. Versuche nicht zu ergründen, was unergründlich ist.

Musik 2: Introitus zum Fest Kreuzerhöhung (CD: Creator Spiritus. Gregorianische Wandlungen, Thomas Gabriel, Track 2, bis ca. 3.17 min).

Jesus weiß: Das Geheimnis des Kreuzesopfers bleibt auch für die Apostel Geheimnis. Aber er nimmt den Vorstoß von Johannes und Jakobus zum Anlass, allen eine Lektion zu erteilen. Er sagt: Die Herrscher, die Machthaber unterdrücken die Völker. Und das erlebten Völker seiner Zeit, das erleben Völker auch heute. Und mancher erlebt das in seinem Alltag, auch wenn er in einem Land lebt, das nicht autoritär regiert wird.

Bei euch aber soll es nicht so sein, sagt Jesus. Warum sagt er das? Ist das für jene, die auf ihn hören, die ihm folgen nicht selbstverständlich? Offenbar nicht. Und er sagt es, weil er damit rechnet, dass es durchaus auch bei seinen Anhängern Machtstreben und Geltungssucht geben kann. Mit dem Streben nach den Plätzen zur Rechten und Linken im Reich Gottes bei den Aposteln Johannes und Jakobus fing es ja schon an. Insofern ist dieses Evangelium auch stets eine besondere Mahnung an alle, die eine Leitungsaufgabe in der Kirche haben. Die kirchliche Hierarchie ist gewiss immer wieder in der Versuchung, Macht auszuüben statt zu dienen. Aber das ist nicht nur eine Versuchung, die an Herrscher, Machthaber und Hierarchien herantritt. Ich meine, jeder kann dieser Versuchung begegnen, mit oder ohne Amt. Jeder darf sich immer aufs Neue fragen: Nutze ich meine Fähigkeiten, meine Möglichkeiten, meine Kompetenzen, meine Rolle, um mich nach vorne zu bringen, um für mich immer das Beste heraus zu holen, oder nutze ich das, was ich kann, um zu dienen?

Am Anschaulichsten ist wohl jenes Beispiel des Dienens, das im Johannesevangelium überliefert ist: Es geschieht am Abend vor Jesu Leiden, wenige Stunden vor seiner Todesangst im Garten von Gethsemane. Da lässt Jesus die Apostel Platz nehmen und fängt an, ihnen die Füße zu waschen. Petrus protestiert: Du, Herr, sollst mir nicht die Füße waschen, wenn Fußwaschung, dann umgekehrt. Ja, normalerweise ist es umgekehrt. Der Diener dient, der Herr lässt sich bedienen. Aber genau das will Jesus umkehren. Er will, dass „die da oben“ denen „da unten“ dienen und macht es selber vor. Jesus verurteilt nicht, dass jemand groß sein will. Aber er sagt, dass die Größe im Dienen, nicht im Herrschen besteht. Man kann nicht umhin, sich zu erinnern, dass das Wort Diener auf Latein Minister heißt. Wer „oben“ ist, wer regiert, soll dienen. Aber eben nicht nur der, der „oben“ ist. Einander dienen, das soll nach Maßgabe des Beispiels und der Worte Jesu Kennzeichen eines christlichen Lebens sein.

Musik 3: Ignace de Sutter / Jürgen Henkys / Thomas Drescher, „Holz auf Jesu Schulter“ (CD: „… bis das Lied zum Himmel steigt“, Arrangements zum Gotteslob, Track 5, bis ca. 2.05).

Jesus macht unmissverständlich klar: Wer groß sein will, muss sich klein machen. Wer dient, der ist groß in seinen Augen. Die Größe, die Würde des Dienens, das ist zudem nicht nur christliches Gedankengut. Je höher der Bambus wächst, desto tiefer neigt er sich, sagt ein Sprichwort, das aus Indien stammt. Das Streben nach Macht und Herrschaft kennt man überall. Es ist eine allgemein menschliche Versuchung, im Großen wie im Kleinen. Sich neigen, dienen will immer neu erlernt sein.

Sich neigen, das bedeutet für mich auch immer wieder: Ich neige mich vor dem Geheimnis des Kreuzes, das die Menschheit von Schuld erlöst hat. Und ich kann nur leise erahnen, wie tief Jesus sich neigte, indem er sich seiner Gottheit entäußerte und Mensch wurde. Wie tief er sich in die Welt und das Leben der Menschen neigte, um den Menschen zu einer großen Hoffnung zu erheben, die Leid und Schuld und Tod überwindet.

Er ist gekommen, um zu dienen. Und bei jedem Gottesdienst, den ich feiere, wird mir bewusst: Gottesdienst, das ist nicht zuerst mein Dienst vor Gott. Gottesdienst ist vielmehr Gottes Dienst, sein Dienst an mir.

Musik 4: Wolfgang Amadeus Mozart, Kirchensonate No. 7 / Sonate KV 224 (CD: Mozart Messen, Track 22, max. 4.30).

 

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