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Ein Brief von weither
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Ein Brief von weither

Michael Becker
Ein Beitrag von Michael Becker, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Es kam plötzlich. Und Jörg hatte sich wieder lieb. Er staunt selber. Die letzten Monate waren eher traurig. Sein Selbstwert rutschte in den Keller, wie er meint. Äußerlich war alles in Ordnung. Familie, Freunde, da fühlt er sich aufgehoben. Wenn nur die Arbeit nicht wäre, dachte Jörg. Der gleiche Trott: Aufstehen, hingehen, Uniform anziehen und an der Pforte sitzen. Anstrengend war es nicht. Anstrengend war, nicht zu ermüden beim immer gleichen. Er mochte die Menschen, die ihn grüßten und ein- und ausgingen in der Firma. Auskunft gab er gerne. Nach fünfzehn Jahren kannte er jeden Handgriff. Wie automatisch lief alles ab. Jörg hatte das Gefühl, er sei schon überflüssig. Tief innen empfand er immer weniger. Abgestumpft kam er sich vor. Und dann war es plötzlich anders.
Jörg liest Illustrierte, wenn mal wenig los ist. Erst sieht er durch die Fenster der Pforte in den Hof. Wenn er nicht gebraucht wird, schaut er in bunte Blätter. Meistens nach zehn Uhr am Morgen, wenn er gefrühstückt hat. So auch vorgestern. Auf einmal steht da ein kleines Gedicht. Jörg ist kein großer Leser, erst recht nicht von Gedichten. Aber das springt ihm ins Auge. Wegen der Bilder daneben. Ausgelassene Menschen. So alt wie er, Mitte fünfzig. Zufrieden mit sich. Also das, was Jörg gerade nicht ist. Wo ein Bild ist, liest man gerne mal. Zumal die Zeilen seltsam gedruckt sind, wie oft bei einem Gedicht. Halblaut liest er sich vor: 

Um groß zu sein, sei ganz: verstelle
Und verleugne nicht, was dein.
Sei ganz in allem. Und leg dein ganzes Sein
In dein geringstes Tun.

Ricardo Reis, Poesia (Fernando Pessoa, 1888 - 1935)

Einmal klingelt das Telefon. Jörg tut seinen Dienst. Dann liest er nochmal und nochmal. Jedesmal berührt es ihn mehr. Es kommt ihm vor wie ein Brief von weither. Der meint mich, denkt er. Was nicht sein kann. Die Zeilen sind achtzig Jahre alt. Trotzdem wie neu, denkt Jörg. Er steht auf und geht ein paar Schritte. Kennt das Gedicht schon fast auswendig, jedenfalls diese Zeile: Um groß zu sein … leg dein ganzes Sein in dein geringstes Tun. Das tu‘ ich doch, denkt er. Und wächst innerlich. Als stiege er aus dem Keller. Zufall ist das nicht, das Gedicht. Er will mir etwas sagen, denkt Jörg. Er soll sich wieder mehr lieb haben. Weil er Gott wichtig ist, scheint ihm.

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