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Die vier Wesen mit den vielen Augen
Bild: bernard jean caron_pixabay

Die vier Wesen mit den vielen Augen

Dr. Ansgar Wucherpfennig
Ein Beitrag von Dr. Ansgar Wucherpfennig, Jesuitenpater, Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt
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Die Kathedrale von Chartres ist für mich eine der beeindruckendsten Kirchen auf der ganzen Welt. Berühmt ist die Rosette des Kirchenfensters oder das große Labyrinth im Kirchenschiff, auf dem die Pilger im Mittelalter symbolisch den Weg nach Jerusalem abliefen. Und berühmt sind auch die Portale. Über dem Westportal erscheint der auferstandene Christus von Licht umgeben. Um den Auferstandenen sind vier Wesen dargestellt. Sie haben vier unterschiedliche Gestalten: ein Löwe, ein Stier, ein Mensch oder Engel und ein Adler. Ihren Kopf haben sie alle dem auferstandenen Christus zugewandt. Sie tragen Flügel und sind überall von Augen übersät. Die Flügel machen deutlich, dass es sich nicht um irdische, sondern um himmlische Wesen handelt. Denn himmlische Lebewesen bewegen sich fliegend fort.

Außen und innen voller Augen

Die Darstellung in der Kathedrale von Chartres nimmt auf eine Schriftstelle in der Johannesoffenbarung bezug. Im Himmel sieht der Seher Johannes da Folgendes: „In der Mitte des Thrones und rings um den Thron waren vier Lebewesen voller Augen, vorn und hinten. Das erste Lebewesen glich einem Löwen, das zweite einem Stier, das dritte sah aus wie ein Mensch, das vierte glich einem fliegenden Adler. Und jedes der vier Lebewesen hatte sechs Flügel, außen und innen voller Augen. Sie ruhen nicht, bei Tag und Nacht, und rufen: Heilig, heilig, heilig ist der Herr, der Gott, der Herrscher über die ganze Schöpfung; er war und er ist und er kommt“ (Offb 4,6–8). Die vielen Augen bedeuten, dass die Lebewesen Tag und Nacht nicht müde werden, sondern ihre Freude daran haben, Gott zu loben.

Wilde und gezähmte Lebewesen

In den westlichen Kirchen sind diese Lebewesen als die vier Evangelisten gedeutet worden. Deshalb sind sie häufiger in Kirchen zu sehen. Ihre ursprüngliche Bedeutung ist aber eine andere: Sie stehen jedes für eine unterschiedliche Art von Lebewesen. Der Löwe für die wilden Tiere, der Stier oder Ochse für die gezähmten Haustiere, der Mensch für die Menschen und der Adler für die Vögel. Alle sind sie vereint, um Gott für die Auferstehung Jesu zu loben.

Brüllen, Muhen oder Zwitschern

Alle Lebewesen, die ganze Schöpfung lobt Gott, das ist eine feste Überzeugung der Bibel: „Alles, was atmet, lobe den Herrn, Halleluja!“ (Psalm 150,6) So lautet der letzte Vers in den Psalmen und fasst damit alle 150 Psalmen vorher zusammen. Die Menschen loben Gott mit Liedern und Worten. Die anderen Lebewesen loben Gott durch ihr Art, zum Beispiel durch ihr Brüllen, ihr Muhen oder Zwitschern. Das drücken auch die vier Lebewesen aus. Die wilden und zahmen Tiere und die Vögel loben Gott. Die Menschen sind noch nicht einmal besonders unter ihnen hervorgehoben, sondern erst an dritter Stelle genannt.

Alles, was atmet, lobt Gott

Morgen ist der „Internationale Tag der biologischen Vielfalt“. Es ist gut, sich da an die biblische Überzeugung zu erinnern: Nicht nur die Menschen, sondern alles, was atmet, lobt Gott. Wenn ich mit Christinnen und Christen dann am Sonntag Pfingsten feiere, möchte ich Gott für seinen heiligen Geist danken. Nicht nur Menschen hat Gott seinen Geist geschenkt. Es ist der Lebensatem, den er jedem Wesen auf der Erde gegeben hat, um Gott in seiner Art zu loben.

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