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Der schwarze Punkt
Bild: Privat

Der schwarze Punkt

Andrea Wöllenstein
Ein Beitrag von Andrea Wöllenstein, Evangelische Pfarrerin, Marburg
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Eine Lehrerin kommt in die Klasse und verteilte ein Aufgabenblatt. Es hat nur einen schwarzen Punkt in der Mitte der Seite. "Schreibt bitte auf, was ihr dort seht!" Die Schüler*innen sind verwirrt. Kein Text? Keine Fragen? Aber sie fangen an zu schreiben... Am Ende der Stunde sammelt die Lehrerin alle Antworten ein und liest vor. Alle ohne Ausnahme haben den schwarzen Punkt beschrieben. Seine Position in der Mitte des Blattes, seine Lage im Raum, sein Größenverhältnis zum Papier usw.

Nun lächelt die Lehrerin und sagt: "Ich wollte euch eine Aufgabe zum Nachdenken geben. Niemand hat etwas über den weißen Teil des Papiers geschrieben. Jeder hat sich auf den schwarzen Punkt konzentriert – und das gleiche geschieht in unserem Leben. Wir haben ein weißes Papier erhalten, um es zu nutzen und zu genießen, aber wir konzentrieren uns immer auf die dunklen Flecken."

Das neue Jahr ist wie dieses weiße Blatt. In seinem Zentrum ist ein schwarzer Punkt, um den dreht sich alles. Zugegeben: So ganz klein ist er nicht. Eher schon ein Fleck. Und jung ist er auch nicht mehr. Wir haben ihn vom alten Jahr geerbt. Manchmal habe ich den Eindruck: Es geht uns wie den Schülerinnen und Schülern in der Geschichte. Alles konzentriert sich auf diesen dunklen Punkt und die Flecken drum herum. Alle Nachrichten, alle Gespräche. Immer geht es um Corona. Und: ja - das beschäftigt uns in vielen Lebensbereichen. Bestimmt unser Denken und Planen. Aber es gibt noch eine andere Wirklichkeit als die Zahlen der Corona Neuinfektionen, als Absagen und Ängste. Die große weiße Fläche um den Punkt herum: Unsere Freund*innen, unsere Familie. Die Natur, die gerade noch Winterschlaf hält, und trotzdem vieles zum Staunen bereithält. Eine Christrose zum Beispiel, die sich bei uns vor der Haustür selbst ausgesät hat und nun zwischen den Platten auf dem Weg blüht. Die Erfahrung, dass wir geführt und begleitet werden. Dankbarkeit für die großen und kleinen Geschenke des Lebens. Musik, Spannende Bücher. Zauberhafte Gedichte. Manchmal öffnet eine einzige Zeile eine andere Welt.

Das neue Jahr lädt ein, dass wir dieser Wirklichkeit Raum geben. Denn Kraft und Lebensmut kommen nicht aus Problemen, sie wachsen aus Schönheit.

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