Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Negativitätseffekt
Foto: freepik/senivpetro

Negativitätseffekt

Dr. Ursel Wicke-Reuter
Ein Beitrag von Dr. Ursel Wicke-Reuter, Evangelische Pfarrerin, Vellmar
Beitrag anhören:

„Ihr glaubt nicht, was mir gerade passiert ist.“ Aufgebracht erzählt uns eine Freundin, wie ihr jemand die Vorfahrt genommen hat. Nur ihre Vollbremsung hat einen Unfall verhindert. „Und der Typ ist einfach weitergefahren.“ „Die Leute werden immer rücksichtsloser“, ergänzt eine andere. Auch sie hat eine Geschichte parat. Kaum ist sie fertig, legen die anderen nach. Bis es einer zu viel wird. Sie hält dagegen und berichtet von gegenteiligen Erfahrungen, zum Beispiel von der jungen Frau, die ihr an der Engstelle den Vortritt lässt. Diese Freundin ist überzeugt: die meisten Verkehrsteilnehmer halten sich an Regeln und nehmen Rücksicht.

Damit hat sie recht. Nur: das vergessen viele schnell. An mir selbst kann ich das beobachten. Ich merke mir den Autofahrer, der mich knapp überholt hat und vergesse, wie viele andere Rücksicht auf mich nehmen. Die Wissenschaft hat sogar einen Namen dafür: Negativitätseffekt.

Der Negativitätseffekt hat Nachteile

Eine Erklärung könnte sein, dass wir diese Eigenschaft von unseren Vorfahren geerbt haben. Vor tausenden von Jahren musste man sich merken, welche Pflanze Bauchschmerzen verursacht oder welches Tier gefährlich ist. Der Fokus auf diese Gefahren hat Menschen damals das Leben gerettet.

Heute ist das anders. Wir haben andere Quellen für solches Wissen. Auch Regeln, die für einen sicheren Lebensrahmen sorgen. Natürlich lernen auch wir durch negative Erlebnisse. Aber der Nutzen ist längst nicht mehr so groß. Für uns hat der Negativitätseffekt eher Nachteile. Denn wenn wir uns zu viel damit beschäftigen, wie uns jemand respektlos behandelt oder wo etwas schlecht läuft, dann werden wir missmutig. Wir bekommen ein falsches Bild von der Wirklichkeit – übersehen, wie viele Menschen uns freundlich begegnen und hilfsbereit sind. Das beschädigt das Vertrauen, es belastet den Umgang miteinander.

Dagegen steuern

Wie kommen wir aus dieser Nummer heraus? Ich glaube, ein erster Schritt ist das Wissen um diesen Effekt. Wenn ich mir klarmache, dass sich die unangenehmen Erlebnisse gern in meinem Kopf festsetzen, dann kann ich gegensteuern. Psychologen empfehlen dazu ein Tagebuch der guten Erlebnisse.

Für mich ist es hilfreich, abends meinen Tag ins Gebet zu nehmen. Ganz naiv erzähle ich Gott, was ich erlebt habe, lasse mich trösten, wenn mich jemand geärgert hat, und hole vor allem die schönen Erlebnisse noch einmal hervor. Manchmal vergesse ich darüber, was schwierig war. Und so kann ich am nächsten Morgen besser in den Tag starten – ohne die Frage, wer mir wohl heute die Vorfahrt nimmt.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren