
Sehnsuchtsort Japan
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts wächst ein Junge am südöstlichen Rand der ehemaligen Sowjetunion auf. Es gibt dort nicht viel, es ist eine verlorene Gegend. Wo sie endet, kommt nur noch das Meer. Der Junge geht oft zum Meer. Ihm gefällt die Weite. Bei klarem Wetter kann er sogar bis nach Japan sehen, bis zu dieser Insel, die in weiter Ferne liegt. Von den Erwachsenen hört er, dass es dort unglaublich schön sein soll. Aber Japan ist für ihn unerreichbar, nur die Reichen kommen da hin.
Dieses Japan weckt die Phantasie des Jungen. Er malt sich aus, was er alles erleben könnte, wenn er dort wäre. Am Strand findet er leere Flaschen, bedruckt mit einer fremden, kunstvollen Schrift. Müll aus Japan. Die schönsten Stücke sammelt der Junge ein und bewahrt sie auf. Ab und zu nimmt er die Fundsachen in die Hand und träumt sich an diesen anderen Ort. Dann kann er alles vergessen, das karge Leben, die Angst, die in der Luft liegt, die Enge. Japan, ein vages Ziel, ein ferner Sehnsuchtsort, real und unwirklich zugleich.
Sehnsuchtsorte sind oft real
Ein Bild für so einen Sehnsuchtsort finde ich in der Bibel. Da erzählt einer von einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Dort wohnt Gott wie ein Nachbar bei uns Menschen. Es gibt kein Leid, Gott wischt alle unsere Tränen weg. Dieser neue Himmel, diese neue Erde, für mich ist das so ein Sehnsuchtsort, der meiner Lebensreise eine Perspektive gibt. (Offenbarung 21,3ff) Ein irrealer Ort und gleichzeitig ein Ort, den ich sehe, in kleinen Momenten: Wenn mir jemand eine Sorge nimmt. Wenn nach einem Streit neues Vertrauen entsteht; Oder wenn die Kinder in meiner Straße bei der alten Nachbarin am Zaun stehen und ihr aufgeregt erzählen, was sie gerade erlebt haben. Diese kleinen Momente sind wie ein Hinweis darauf: Diesen Ort gibt es wirklich. Wie die angeschwemmten Fundsachen aus Japan, die der Junge am Strand aufgesammelt hat.
Sehnsuchtsorte machen Mut
Der Junge von damals ist inzwischen erwachsen, er hat eine Familie gegründet. In den 90er Jahren konnte die Familie nach Deutschland ausreisen. Ein Wagnis, ein Abenteuer. Deutschland war nicht Japan, aber Japan war wichtig auf diesem Weg. Der Sehnsuchtsort hat geholfen. Er hat geholfen, den Glauben an einen Ort wach zu halten, wo es sich besser leben lässt. Er hat Mut gemacht, sich auf so eine Reise einzulassen und Hindernisse zu überwinden.
Und nun ist Japan sogar zu einem erreichbaren Ort geworden, eine Reise dorthin wäre möglich. Aber darauf kommt es gar nicht an. Wichtiger ist, wie viel Lebensmut und Energie dieses ferne Japan freigesetzt hat.
Die Sehnsucht nach so einem Ort, nach einem Japan, nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde oder nach einem anderen persönlichen Ort, diese Sehnsucht kann durch ein ganzes Leben tragen.