
Wie eine Adlermutter
Der kleine Adler hat Angst wie noch nie in seinem jungen Leben. Unter dem Nest: ein schwindelerregender Abgrund. Er spürt, wie er aus dem Nest gedrängt wird – ausgerechnet von seinen Eltern. Heftig flattert er mit den kleinen Flügeln. Wie soll er denn so schnell selbst fliegen lernen?
Was trägt in der Trauer?
Diese Angst des kleinen Adlers beschrieb mir ein Mann. Seine Mutter war gerade gestorben. Er sagte: Er fühle sich aus dem Nest geworfen. Er ist zwar längst erwachsen. Doch jetzt muss er nochmal neu fliegen lernen. Als Pfarrerin habe ich häufig mit Menschen zu tun, die trauern. Ich höre ihnen zu. Und manchmal überlege ich mit ihnen, was nun trägt.
Für diesen Mann war es das Bild des Adlers. Bei Adlern ist das nämlich so: Die Mutter schubst ihre Kinder aus dem Nest. Dann schwebt sie über ihren Jungen und beobachtet genau deren Flugversuche. Wenn sie merkt, dass eins müde wird, lässt sie sich blitzschnell unter sie fallen und das Jungtier kann sich auf den starken Flügeln der Adlermutter ausruhen.
Das Bild der Adler hat ihm in der Trauer geholfen
So war es auch bei diesem Mann: Seine Mutter hat ihn großgezogen, ihn sicher und selbstständig gemacht, dass er flügge wurde. Aber wenn das Leben hart war, war sie weiterhin da – nicht mit starken Flügeln, sondern mit Geduld klugen Worten. Dann hat er sie angerufen, sich mit ihr ausgetauscht. Er spürte, dass sie ihn versteht. Dass ihre Liebe ihn trägt – wie abgründig das Leben auch manchmal ist. Sie waren einander vertraut - das hat geholfen.
Vielleicht erzählt deshalb auch die Bibel von der Adlermutter. Dort heißt es: „Gott ging mit ihnen um wie eine Adlermutter, die ihre Jungen fliegen lehrt: Die scheucht sie aus dem Nest, begleitet ihren Flug, und wenn sie fallen, ist sie da. Sie breitet ihre Schwingen unter ihnen aus und fängt sie auf – Ja, so ist Gott.“ (5. Mose 32, 11+12, freie Übertragung).
Ein Halt, der mich trägt, wenn meine eigenen Kräfte nicht mehr reichen
Der Mann, dessen Mutter ich beerdigt habe, mochte diese Worte. Er meinte: „An der Liebe seiner Mutter habe er gespürt, wie Gott sein kann. Fürsorglich. Tragend. Und jetzt, nach ihrem Tod, stelle er sich vor: jetzt trägt Gott seine Mutter. Gibt auf sie acht wie ein Adler auf die Jungen. Und wenn es jetzt wieder einmal schwer wird für ihn, sind sie beide da: Sie und Gott. Und tragen mit – auf starken Flügeln.
Diese Vorstellung berührt auch mich. Ich nehme das Bild mit für Zeiten, bei denen mein Leben unsicher ist und ich das Gefühle habe: ich wanke und falle. Dann werde ich mich den Adler erinnern. Und weiß: Es gibt Kräfte, die mich auffangen. Breite Schwingen unter mir. Ein Halt, der mich trägt, wenn meine eigenen Kräfte nicht mehr reichen. Sodass ich ausruhen kann. Und dann mit neuer Kraft losfliegen.