
Was mir Halt gibt
Ich starre auf meinen Schreibtisch - Chaos. Eine Menge Bücher, Blätter vom letzten Gottesdienst, Post, die mein Mann hier abgelegt hat, eine Cremedose und der Salzstreuer.
Ein Satz kommt mir in den Sinn: „Halte Ordnung und die Ordnung hält Dich“. Eine Mahnung meines Großvaters. Der war sehr ordentlich und wäre sicherlich in Ohnmacht gefallen bei diesem Chaos hier. „Halte Ordnung und die Ordnung hält Dich“. Das war sein Leitmotiv. Und tatsächlich: Wenn alles aufgeräumt und sauber war, hat ihn das tief zufrieden gemacht, hat ihm Halt gegeben.
Was gibt mir Halt?
Da ich ja nun nicht so ordentlich bin, frage ich mich: was gibt mir eigentlich Halt?
Während ich darüber nachdenke, klingelt das Telefon. Eine Kollegin fragt nach wichtigen Unterlagen. Ich suche. Bei ihr ist es dringend, ich finde nichts, bin verunsichert. Und wütend ich auf mein schludriges Ordnungssystem. Wenn schon Chaos auf dem Schreibtisch, dann hätte ich jetzt gerne innere Ordnung – damit ich in solchen Momenten einen kühlen Kopf bewahre.
Strenge Ordnung - auch im Kopf
„Halte Ordnung und die Ordnung hält Dich“. Wieder dieser Satz meines Großvaters. Ihm gab die Ordnung Halt – auch innerlich. Er unterschied Dinge klar in gut und böse oder richtig und falsch. Er wusste genau, wie eine Frau und wie ein Mann zu sein hat; was sie nicht anziehen, was er nicht tun darf. Daher habe ich mich häufig falsch verstanden gefühlt. Etwa als ich kein Kleid zur Konfirmation angezogen habe.
Vielleicht bin ich deswegen eher chaotisch geworden. Ich will Dinge nicht einseitig sehen und Menschen nicht in Schubladen stecken.
Der Satz meines Großvaters passt bei mir also nicht recht.
Gehalten werden - ganz ohne Ordnung
Aber wenn nun nicht die Ordnung, was gibt dann mir Halt?
Es sind Menschen, die mich in den Arm nehmen. Oder ein tröstendes Wort. Meine Kollegin, die zu mir hält im Streit, selbst wenn sie meine Position nicht teilt. Daran halte ich mich. Das gibt mir Geborgenheit. Die starre Ordnung meines Großvaters kann für mich da nicht mithalten.
Doch zurück zum Chaos auf meinem Schreibtisch: Wo ist nun der Zettel? Ich weiß es nicht. Suche, wühle zwischen Büchern und Papier. Stopp: Ich atme tief aus und wieder ein. Manchmal hilft das. Ich konzentriere mich nur auf meinen Atem. Werde ruhiger. Und freier. Und richte mich auf. Drehe mich um. Dabei gerät der Blätter-Stapel vor mir ins Wanken und ergießt sich auf den Boden. Kurz will ich schreien – dann muss ich herzlich lachen; und fange an die Blätter zu sortieren. Blatt für Blatt lichtet sich auch das Chaos in mir. Die Unterlagen tauchen nicht auf. Aber mir kommt eine Idee, bei wem ich anrufen kann und Hilfe bekomme.
Mit Unordnung leben
Meinem Großvater hat die Ordnung Halt gegeben. Mir hilft: tief durchatmen. Und mich nur darauf konzentrieren. Ganz bei mir sein, mich mit mir selbst verbinden und spüren, wem ich mit wem ich in Freundschaft verbunden bin. Und: Ich will bei all dem den Humor nicht verlieren. Das gibt mir Halt. Und lässt sich mich auch mit meiner Unordnung freundlicher leben.