
Der zerbrochene Teller
Rumms, da war es geschehen: Einem lauten Scheppern und Klirren folgte völlige Stille. Schlagartig ruhten rund 50 Augenpaare auf mir. Meinen Blick senkte ich peinlich berührt – und sah das Malheur: Eben noch hatte dieser Teller im obersten Fach des Regales gestanden – allerdings, anders als vermutet, nur lose auf einem Standfuß. Den hielt ich noch unversehrt in der Hand, wohingegen der Teller zerbrochen zu meinen Füßen lag. Zerborsten nicht in unzählige Teile, sondern fein säuberlich zersprungen in zwei Hälften.
„Na, prima“, dachte ich, „das geht ja gut los!“ Den Einstieg ins Keramikbemalen mit meinen Freundinnen hatte ich mir anders ausgemalt. Auf meine Freundinnen jedoch ist Verlass. Zielstrebig bahnte sich schon eine ihren Weg zu mir durch die anderen Gäste im Atelier. Schnell schnappte sie sich die Hälften und erhielt kurz darauf die Information, dass das öfters vorkomme und die beiden Teile vor dem endgültigen Brennvorgang zusammengefügt werden könnten. Erleichterung machte sich in mir breit. Beruhigt griff ich mir Farben und Pinsel und gab am Ende zwei bemalte Tellerhälften ab.
Zwei Hälften ergeben ein Ganzes
Und genau diese beiden Hälften erhielt ich bei der sehnsüchtig erwarteten Abholung zurück. Leider war das Zusammenfügen doch nicht möglich gewesen. Und so stand er erstmal in der Küche, dieser zerbrochene Teller. Mein erster Impuls war, ihn zu entsorgen: Was taugt ein Teller aus zwei Teilen? Allein die Tatsache, dass er während einer Aktion mit meinen Freundinnen entstanden ist, rechtfertigte zunächst sein Bleiben.
Brüche gehören zum Leben
Und tatsächlich bringt mich sein täglicher Anblick zum Nachdenken. Denn greifbar erinnern mich die beiden zerbrochenen Teile an alles Zerbrochene und Bruchstückhafte meines Lebens. Da gibt es zerbrochene Freundschaften und Beziehungen, geplatzte Ideen und Wünsche, die Begrenztheit meiner Fähigkeiten und Leistungen. Einiges kommt zusammen, was in meinem Leben Risse und Bruchstellen hinterlassen hat – und mich, die perfektionistisch Veranlagte, von Zeit zu Zeit an meine Grenzen bringt. Aber die gibt es nun mal. Die sind von Grund auf menschlich. Ob ich jedoch endgültig daran zerbreche oder sie in mein Leben integriere, das liegt in meinen Händen. Und daher widerstehe ich tapfer dem Gedanken, die beiden Bruchstücke mitsamt seinen Erinnerungen irgendwo hinten im Schrank oder gar dem letzten Winkel meines Gedächtnisses zu verstecken.
Auch das Leben ist zerbrechlich
Und allmählich verstehe ich, welch großen Wert dieser zerbrochene Teller ganz persönlich für mein Leben und meinen Glauben bekommt. In der Bibel spricht der 2. Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth vom Glauben als einem „Schatz in zerbrechlichen Gefäßen“. Ich erkenne darin die Verwundbarkeit des menschlichen Lebens und das kostbare Vertrauen auf Gottes Kraft genau dann, wenn ich an meine eigenen Grenzen komme.
Ich kenne ja diese Erfahrung, dass mein Glaube mir über manche Lebensbrüche hinweggeholfen hat. Dass er mir letztlich hilft, an schweren Situationen eben nicht zu zerbrechen und mein Leben als wertvoll zu erachten – auch wenn es alles andere als perfekt komplett ist. Aber dafür brauche ich immer mal eine Erinnerung. Und deshalb steht der zerbrochene Teller nun gut sichtbar in meinem Wohnzimmer.
Und ich bin mir sicher, meine Freundinnen werden sich mit mir freuen, wenn sie bei ihrem nächsten Besuch den zerbrochenen Teller entdecken und ich ihnen jetzt davon erzählen kann, wie kostbar er für mich geworden ist.