
Eine Kirche der Augen
Gemeinsam mit dem Gemeindepfarrer stehe ich vor der Jakobuskirche in Großauheim. Der Schulgong der gegenüberliegenden Josefschule klingt herüber. Und schon höre ich sie kommen: Eine unserer 5. Klassen hat sich auf dem Weg gemacht. Der Klang ihrer hellen Stimmen und unüberhörbaren Fröhlichkeit zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Ich schließe kurz meine Augen – und sauge das Glück dieses Moments ein.
Da steht die quirlige Gruppe erwartungsvoll vor uns. Wir werden mit ihnen die Jakobuskirche entdecken. Alle Schülerinnen kommen aus umliegenden Orten, nur wenige haben bereits einmal ein Auge in die Kirche geworfen.
Wir bitten die Schülerinnen, ihre Augen zu schließen und als lange Schlange gemeinsam die Kirche zu betreten. Aufmerksam tun sie das und spüren die Besonderheit unseres Vorhabens und dieses Ortes. Jenen nehmen sie sofort wahr, auch ohne Augen: Sie riechen den, wie sie es nennen „Kirchengeruch“, eine Mischung aus Weihrauch, Kerzenwachs, altem Gemäuer und den Menschen, die die kleine Kirche besuchen. Sie spüren den glatten Steinboden unter ihren Füßen. Bemerken die sich ändernden Lichtverhältnisse und die kühle Temperatur auf ihrer Haut. Ganz still werden sie angesichts der sie einhüllenden Ruhe. So verharren wie einen Moment. Dann öffnen alle ihre Augen.
Ein Moment stiller Bewunderung
Was ich dann sehe, erstaunt mich jedes Mal: Wie angewurzelt bleiben die Schülerinnen stehen – und starren mit weit geöffneten Augen direkt in die vielen Augen, die sie von überallher anzublicken scheinen.
Sie blicken in die Augen der unzähligen Engel, die sich in der Kirche tummeln. In ihnen zeigt sich ein Gedanke des Barock: Vor gut 250 Jahren wollten die Erbauer der Jakobuskirche - ganz Kinder ihrer Zeit - ein Stück Himmel auf Erden abbilden. Wohl als Trost angesichts persönlicher Not und politischer Zerrissenheit. Gegen Tod und Krieg setzten sie die Aussicht auf himmlisches Heil mit viel Gold, vielen Schnörkeln und vielen kindlichen Engeln, den Putten.
Sie blicken unterschiedlich, diese Engel: manche entsetzt, ängstlich, nahezu gruselig, andere fröhlich, verspielt und glücklich. Die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle zeigt sich da. Ja, die Augen der Engel sind „Spiegel der Seele“.
Die Engel als Spiegelbild des Menschen
Mir gefällt der Gedanke: Die Engel zeigen vieles von dem, wie Menschen sind und was sie fühlen können. Wir entdecken darin eine Einladung: Hier in der kleinen Kirche wird uns vor Augen geführt, dass wir zu Gott kommen können, wie wir sind. Wir dürfen unsere Augen öffnen und den Blick freigeben auf das, was uns im Innersten bewegt.
Sicherlich ist es genau das, was Menschen in Kirchen tun: ihre Sorgen loslassen oder für geglückte Lebenssituationen danken. Nur, in der Jakobuskirche zeigt sich diese Einladung ein bisschen deutlicher und damit, so hoffen wir, wird diese Kirche unseren Schülerinnen zu einem guten Lernort für ihren Glauben.
Vielleicht merkt sich das die eine oder andere. Vielleicht sucht und findet sie irgendwann hier oder anderswo einen Engel, dessen Blick ihr aus der Seele spricht. Ich jedenfalls habe meinen Engel des Tages gefunden: derjenige, der so herrlich gelassen mit einem Palmzweig vom Seitenaltar herunterwinkt.