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Vorbeigerauscht
Bild: Sepp/Pixabay

Vorbeigerauscht

Andrea Weitzel
Ein Beitrag von Andrea Weitzel, Katholische Schulseelsorgerin und Religionslehrerin, Hanau
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Fast angekommen. Nach gut vier Stunden entspannter Zugfahrt nähere ich mich meinem Ziel. Ein Blick aus dem Fenster bestätigt es: Ich erkenne Vertrautes. Also reihe ich mich in die Reihe der Mitreisenden ein, bereit zum Ankommen. In Gedanken schon zu Hause sehe ich den Main an mir vorbeiglitzern, ein kurzer Blick in den Hafen, hier die Unterführung, dort die Kleingärten und … Moment mal … das kollektive Stöhnen um mich herum bestätigt meinen Verdacht: Wir haben gerade unseren Halt verpasst! Draußen rauschen vertraute Straßen, Häuser, Grünflächen ungebremst an mir vorbei. Es liegt mir fern, mich in manch lautstarke Beschwerde um mich herum einzureihen. Eine entschuldigende Durchsage des Zugpersonals liefert auch prompt eine Erklärung und angepasste Reisemöglichkeiten.

Während weiterhin Landschaft an mir vorbeirauscht, merke ich, dass ich dieses Gefühl schon kenne: das Gefühl, wie im falschen Zug zu sitzen und nicht nur die Welt draußen, sondern eigentlich mein Leben an mir vorbeirauschen zu sehen, ohne anhalten, ohne ankommen zu können. Stunden, Tage, Wochen rauschen sang- und klanglos vorbei – angefüllt mit unzähligen Begegnungen, Herausforderungen, Ereignissen aller Art … schnell von einem zum nächsten - und schließlich doch eine Leere, weil alles vergangen und nichts geblieben ist.

„Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch.“ Diese Worte aus dem biblischen Buch Kohelet kommen mir in den Sinn. Ich gebe mich der resignativen Deutung dieser Worte hin. „Windhauch, Windhauch, das alles ist Windhauch.“ Nichts bleibt, alles vergeht. Das Leben rauscht unaufhaltsam vorbei.

Alles ist nur Windhauch

Halt! Da ziehe ich die Notbremse. Natürlich nicht im Zug, in dem ich ja immer noch stehe, nein, in meinem Kopf. Kohelet hat mehr zu bieten. Im 3. Jahrhundert vor Christi Geburt entstanden, erforscht Kohelet die Frage aller Fragen: Wie geht sinnvolles Leben? Dazu probiert Kohelet ziemlich alles aus. Wissen häuft er ebenso an wie Besitz. Auf vielerlei Weise sucht er sein Glück. „Unter der Sonne“, so nennt er es, beobachtet er die Menschen mit ihren Erfahrungen. Er sieht und hört zu, prüft und reflektiert. Er stellt fest, dass entgegen aller Anstrengung am Ende nichts bleibt. „Windhauch, alles Windhauch“. Doch gerade Vergänglichkeit und Ungewissheit des Lebens bringen meines Erachtens Kohelet zu einer viel tieferen Erkenntnis: Man solle das Gute und Schöne im Leben suchen und genießen – voller Dankbarkeit gegenüber Gott. Allein er sei es, der das Lebens des Menschen damit beschenke. „Genieße das Leben in vollen Zügen“ – dass mir dieser Spruch gerade jetzt in den Sinn kommt, lässt mich schmunzeln. Wobei – mit Kohelet im Hinterkopf gewinnt er an Tiefe. Denn schließlich liegt es doch an mir, meinen Lebenszug anzuhalten. Zeiten des Innehaltens zu setzen und das tägliche Vorbeirauschen bewusst zu unterbrechen. Und dann, das spüre ich, kann ich ankommen! Ganz im Jetzt und Hier, ganz in dem Moment, den mir das Leben, nein, den Gott mir schenkt.

Dem „Zuviel“ was entgegensetzen

Ich versuche es sofort, indem ich kurz die Augen schließe und tief atme. Das geht nämlich überall, selbst mitten zwischen mehr oder weniger geduldigen Mitreisenden. Und halt - schaffe ich da etwa ein zaghaftes Lächeln? Mir wird klar, der heute verpasste Halt hat mich zum Innehalten gebracht. Ich nehme mir fest vor, wenn mein Leben zukünftig rasant an Fahrt aufnimmt, gedanklich die Notbremse zu ziehen. Und bestimmt wird mir der Moment etwas bieten, das ich dankbar genießen kann.

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