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Behütet
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Behütet

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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„Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?“ Diese kiebige Antwort gibt Kain, als Gott ihn fragt, wo denn sein Bruder Abel sei. Der kurze Disput steht im Alten Testament und hat eine Geschichte. (Gen 4,8) Kain fühlte sich ungerecht behandelt. Deshalb ging er mit seinem Bruder auf ein einsames Feld und ermordete ihn. Das Motiv: Eifersucht zwischen den Brüdern. Gott fragt ihn daraufhin, wo denn sein Bruder Abel sei. Kain reagiert mit einer Lüge: Er wisse es nicht, behauptet er frech und fügt dann als vermeintliche Rechtfertigung an: Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?

Bin ich verantwortlich für andere Menschen?

In der Geschichte von Kain und Abel ist die Schuldfrage eindeutig. Die Rückfrage wirkt geradezu sarkastisch. Was aber, wenn es nicht um eine eindeutige Schuld geht? Die Frage bleibt im Raum, und sie gilt auch für mich: Bin ich Hüter meines Bruders? Trage ich die Verantwortung für meine Schwester? Oder weiter gefasst: Inwieweit bin ich verantwortlich für das Leben anderer Menschen? Nicht nur für die Familie, ich meine grundsätzlich: für das Wohlergehen aller Mitmenschen? Auch für diejenigen, die ich nicht persönlich kenne oder nicht mag?

Niemand führt ein Leben für sich allein

Die Antwort ist gar nicht so einfach. In der Ratgeberliteratur herrscht der Tipp vor, man solle sich nicht für alles verantwortlich fühlen, sondern bei sich selbst bleiben.* Das ist gut gemeint, kaschiert aber oft nur einen Egoismus und verkennt, in welchem Maße jedes Leben in soziale Beziehungen eingebunden ist. Niemand führt sein Leben für sich allein. Ich bin immer von anderen abhängig und deshalb irgendwie auch für sie verantwortlich.

Auf der anderen Seite kann ein übergroßes Verantwortungsgefühl auch dazu führen, andere zu bevormunden. Man kennt das von Eltern, die ihre Kinder ständig gängeln und dann sagen: Ich will doch nur das Beste für dich. Verantwortung kann auch zu viel werden, dann spricht man von Überbehüten.

Der Hirte behütet die Seinen

Bin ich meines Bruders, meiner Schwester Hüter? Ich denke, die Antwort darauf hängt ganz und gar davon ab, was ich mit „hüten“ meine. In der biblischen Geschichte ist das Bild des Hirten wichtig. Der Hirte hütet ja seine Herde. Er bietet all jenen Schutz, die ihm anvertraut sind, vor den Angriffen von Wölfen und anderen wilden Tieren. Er sorgt dafür, dass alle zusammenbleiben, und sammelt wieder ein, wer verloren geht. Ein starkes Bild dafür, wie ich Verantwortung übernehmen kann für die Menschen um mich.

Hüten heißt: nicht wegschauen

Auch die Kirche hat dieses Bild vom Hirten für ihre Amtsträger übernommen, Pfarrer meint ja nichts anderes als Hirte. Insofern kann auch Kains Frage beantwortet werden: Bin ich meines Bruders, meiner Schwester Hüter? Ja, zumindest für diejenigen, die in meinem Blickfeld sind. Für die habe ich eine Pflicht zur Obacht: Nicht wegschauen, zusammenhalten und helfen, wenn es die Not erfordert.

 

* https://www.christina-kropp.de/warum-wir-uns-nicht-fuer-alles-verantwortlich-fuehlen-muessen-wie-wir-uns-schuetzen-und-bei-uns-selbst-bleiben/

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