
Glauben heißt Erinnern
Es gibt Tage, an denen darf man nicht spurlos vorbei gehen. Heute ist so ein Tag:
Am 24. April 1915, also genau vor 110 Jahren, begann der Völkermord an den Armeniern. An diesem Tag bahnte sich der erste große Genozid des 20. Jahrhunderts an. Im damaligen Osmanischen Reich wurden Christen verfolgt und verhaftet. Es waren vornehmlich Armenier, aber auch aramäische, syrische und griechische Christen. Sie wurden von Fanatikern als Ungläubige diskreditiert und für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht: Man gab ihnen die Schuld am wirtschaftlichen Niedergang, an zunehmender Gewalt und angeblicher Überfremdung.
Mehr als 1 Million Menschen wurden zum Opfer
Am Anfang trieb man die Armenier zusammen und führte sie in Deportationszügen durch das Land. Sie sollten abgeschoben werden, vertrieben. Und dann verschwanden sie spurlos, viele endeten in Massengräbern. Mehr als 1 Million Menschen fielen den Massakern zum Opfer. Opfer eines nationalistischen und religiösen Wahns.
Warum es Gedächtnistage braucht
Warum sollte man heute noch an dieses Ereignis erinnern? Gedächtnistage sind mir wichtig. Sie kämpfen an gegen das Vergessen. Sich an das Vergangene erinnern und daraus Lehren für die Zukunft ziehen - das ist eine wichtige kulturelle Leistung. Du brauchst Erinnerung für deine eigene Zukunft. Da geht es nicht um irgendwelche in Stein gehauenen Denkmale, sondern um die Geschichten. Die haben mich im Leben zu dem gemacht, der ich heute bin. Wenn ich mich an das Vergangene erinnere, wird Geschichte lebendig. Daraus kann ich Kraft schöpfen für meine Zukunft.
Aus Erinnerung wächst der Impuls für Neues
Der christliche Glaube ist unmittelbar mit dieser Erinnerungskultur verbunden. Jedes religiöse Ritual ruft zurück, was vergangen ist, um daraus Kraft zu ziehen für die Gegenwart. So erinnert das Abendmahl an Jesu letztes Essen mit den Jüngern. Wenn Christen dieses Ritual feiern, wird das Ereignis gegenwärtig. Indem sie Brot und Wein miteinander teilen, erinnern sie nicht nur an das Treffen der Jünger, sondern erleben die Gemeinschaft selbst mit ihren Sinnen. So wächst aus der Erinnerung der Impuls für etwas Neues. Die Gemeinschaft der Jünger im letzten Mahl wird wieder wach und überträgt auf mich die Kraft, die aus dem Miteinander und der gegenseitigen Fürsorge wächst.
Wir leben von der Geschichte
Die Kultur des Erinnerns ist deshalb kein abstraktes Denkmal, sondern ein persönlicher Impuls für mich und mein kommendes Leben. Der christliche Glaube ruft das Alte in Erinnerung und fragt zugleich nach dem Neuen.
Und das heißt an diesem Tag, dem 24. April, für mich: Ich erinnere den Genozid an den Armeniern. Deshalb bin ich sehr bedacht, wenn wieder Menschen verfolgt und abgeschoben werden sollen, weil sie nicht ins Schema passen. Nieder wieder Pogrome, sagt mir das Gedächtnis, und zeigt mir: Wir leben von unseren Geschichten, von den schlechten nicht minder als von den guten.
* osteuropa.lpb-bw.de/armenien-geschichte