
Gott malt niemals über
„Papa, kann Gott wirklich alles?“, fragte mich neulich meine Tochter. Sie ist fünf Jahre alt und ein aufgewecktes Mädchen. Abends beten wir, lesen in der Kinderbibel und tauschen uns oft darüber aus. Der Glaube an Gott beschäftigt sie und auch einige Tage nach solchen Gesprächen kann es sein, dass sie mit einer überraschenden Frage um die Ecke kommt. Kann Gott also wirklich alles? Ja, sage ich unumwunden. Gott hat uns alle gemacht, er liebt uns und will, dass es uns gut geht. Und er ist allmächtig und gütig. Gott kann alles! Meine Tochter denkt über die Antwort nach und sucht nach eigenen Worten und Bildern, diesem Gott näher zu kommen.
Ausmalen will gelernt sein!
In diesem Moment sitzen wir am Tisch im Esszimmer und während wir uns unterhalten, malt meine Tochter ein Bild aus. Links und rechts neben ihr stapeln sich hunderte Bilder, Zettel und Malbücher – und natürlich ihre Kiste mit den Buntstiften. Sie liebt es zu basteln, zu malen und ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. In dieser Situation also denkt sie über meine Antwort nach. Plötzlich schaut sie auf und strahlt: „Gott malt also niemals über?“ Ich muss lachen und finde ihre Schlussfolgerung genial: Gott malt niemals über.
Für meine Tochter gibt es nichts Ärgerlicheres, als beim Ausmalen zu übermalen. Für sie ist es wichtig, dass diese Regel unbedingt eingehalten wird, und sie ist auch streng mit mir, wenn ich mal aus Versehen etwas nicht richtig ausmale. Aber mit Gott ist das anscheinend anders: Er malt nicht über! Was Gott malt, das ist richtig. Was er macht, das ist gut. Besser hätte ich es gar nicht zusammenfassen können.
Gott macht keine Fehler
Aber ich weiß natürlich, dass es nicht bei dieser Frage und sicher nicht bei dieser Antwort bleiben kann. Denn weitere Fragen drängen sich auf: Wenn Gott wirklich allmächtig und gut ist, wie kann dann diese von ihm geschaffene Welt oft so schlecht sein. Ein Blick in die Nachrichten genügt, um festzustellen: In dieser Welt wird ständig übermalt! Und Gott scheint das zuzulassen. Es ist die alte Frage, mit der auch das Alte Testament beginnt: Wie konnte aus dem paradiesischen Urzustand eigentlich Leid, Sünde und Tod werden? Die Antwort ist bekannt und verlegt die Verantwortung dafür zum Menschen, der seine Freiheit missbraucht, der nicht nach dem Gesetz der Liebe lebt, sondern der Kultur des Todes folgt. Hat Gott also vielleicht mit der Schöpfung des Menschen ordentlich übergemalt? Ist die menschliche Freiheit zu groß geraten, sodass sie sich von Gott sogar abwenden kann? Ich denke nicht: Gott denkt groß vom Menschen, so groß, dass er selbst Mensch wird. In Jesus Christus, so glaube ich, ist Gott selbst auf Augenhöhe zu den Menschen gekommen, um ihnen ihre Verantwortung und ihre Größe wieder neu bewusst zu machen: In Freiheit der Liebe Gottes folgen, damit wirkliches Heil und wirkliche Erlösung geschehen.
Die Freiheit überlassen
Gott nimmt uns – um im Bild meiner Tochter zu bleiben – nicht die Buntstifte weg und malt nur noch selbst aus. Er lässt uns vielmehr die Freiheit, das Bild unseres Lebens und unserer Zeit selbst auszumalen. Dabei ist er aber auch heute nicht der ferne Gott – sondern derjenige, der uns besser kennt als wir uns selbst. Er ist der Gott, der absoluten Nähe zu den Menschen. Gott selbst malt nicht über, aber er will auch, dass wir nicht übermalen. Wie das geht, hat Gott uns selbst in Jesus Christus gelehrt.