
Perspektivwechsel
Es gibt eine Situation, für die ich meinem Sohn bis zum heutigen Tag dankbar bin. Die Sache ist fast zehn Jahre her, wir haben damals in Brüssel gelebt. Die Kinder waren noch klein, zwei und vier Jahre alt.
Wir planten, zu Ostern zu meinen Eltern nach Oberbayern zu fahren. Mein Mann hatte zuvor beruflich im Rhein-Main-Gebiet zu tun, daher wollte ich allein mit den Kindern im Zug von Brüssel nach Frankfurt fahren, dort meinen Mann treffen, um dann gemeinsam mit dem Auto weiterzureisen.
Alles ging schief
Ich hatte die Reise sorgfältig geplant, rechtzeitig alles gepackt und mit einigem Zeitpuffer ein Taxi bestellt, das sollte das Gepäck, den Kinderwagen, die Kinder und mich zum Bahnhof bringen. Die Fahrt zum Bahnhof wurde zu einem mittleren Albtraum: Das Taxi kam zu spät, kaum eingestiegen eröffnete mir der Fahrer, dass die Gegend rund um den Bahnhof völlig verstopft sei, wir würden auf keinen Fall den Zug erreichen.
Ich sollte es mit der Metro versuchen, er würde mich zur nächsten Station fahren. Ich stimmte notgedrungen zu. Doch damit begannen die Schwierigkeiten erst. Am Eingang zur Metro wollte ich mit meiner elektronischen Fahrkarte ein Drehkreuz passieren, aber das Kartenlesegerät akzeptierte meine Karte einfach nicht. Ich versuchte dann, eine Einzelfahrkarte an einem Automaten zu kaufen, aber auch das klappte nicht.
Ich wurde nervös
Ich wurde zunehmend nervös, die Uhr tickte, ich wollte den Zug unbedingt erreichen, es hing ja auch die lange Weiterreise nach Bayern dran. Glücklicherweise bemerkte jemand neben mir meine Schwierigkeiten, gab mir einfach spontan seine Fahrkarte, und ich konnte das Drehkreuz samt Kindern und Gepäck passieren.
Und zum Glück haben mir dann auch gleich zwei junge Männer geholfen, den Kinderwagen die Treppen zum Bahnsteig hinunterzutragen. Endlich in der Metro, waren meine Nerven schon arg strapaziert, aber ich hatte noch Hoffnung, den Zug zu erreichen.
Aber die Metro blieb im Tunnel stehen, ich saß auf Kohlen, fast eine halbe Stunde steckten wir fest. Am Bahnhof angekommen, war der Zug nach Frankfurt abgefahren. Die nächste Direktverbindung ging vier Stunden später. Der ganze sorgfältig ausgeklügelte Plan war hinfällig, und vor allem: ich hatte vier lange Stunden Wartezeit mit den Kindern vor mir.
Essenspause
Um die Zeit zu überbrücken, bin dann erstmal in einen Imbiss gegangen, habe alle Ernährungsgrundsätze über den Haufen geworfen und Pommes frites und Limonade für die Kinder bestellt. Mein Sohn konnte sein Glück kaum fassen. Mit strahlenden Augen schaute er auf Fritten und Limo, lachte über das ganze Gesicht und sagte: „Mama, danke, dass du das gemacht hast!“ Das ganze nervenaufreibende Drama war für ihn offenbar das belanglose Vorgeplänkel für ein leckeres Mittagessen! Ich war völlig perplex – und musste dann einfach nur lachen.
Dann ging es bergauf
Von da an lief der Tag gut: Nach dem Essen und einem Rundgang durch den Bahnhof, schlief die kleine Tochter im Kinderwagen zufrieden ein, mein Sohn und ich studierten die verschiedenen Zugtypen. Die weitere Reise klappte problemlos, wir kamen spät, aber wohlbehalten bei meinen Eltern in Bayern an.
Ich muss an diese Geschichte oft denken, wenn ich gestresst bin, wenn die Zeit drängt, wenn ich merke, dass ein Plan nicht funktioniert. Ich muss daran denken, dass ein Plan auch aufgehen kann, wenn nicht alles glattläuft, und dass man manchmal eine Sache auch ganz anders sehen kann.
Vor allem aber denke ich an das strahlende Gesicht meines Sohnes und die wunderbare Fähigkeit, nicht an das zu denken, was vorher war und nachher sein könnte, sondern einfach nur den Moment zu sehen und sich zu freuen. Danke, mein lieber Junge, dass du das gemacht hast.