
Passionsgeschichten
In der Fastenzeit oder auch an den Kar-Tagen höre ich jedes Jahr die Passionen von Johann Sebastian Bach. Und ich glaube, ich bin damit nicht allein: In den Wochen vor Ostern werden die Matthäuspassion und die Johannespassion vielerorts in vollen Kirchen und Konzerthäusern aufgeführt.
In großartiger Musik erzählen diese Werke das Leiden und Sterben von Jesus. Die Musik bewegt mich immer wieder, sie zeugt für mich von einem tiefen Verständnis für die Botschaft der Liebe und Hingabe Gottes.
Für mich gibt es schwierige Passagen
Aber es gibt auch Stellen, die für mich schwierig sind: Das sind vor allem Passagen, in denen es um den Prozess gegen Jesus geht und wie dort jüdische Menschen dargestellt werden. Vor allem in der Johannespassion sind „die Juden“ pauschal die Feinde Jesu, sie klagen ihn an, fordern kalt und feindselig seinen Tod, verspotten und verachten ihn.
„Die Juden aber schrien“, heißt es immer wieder. Und: „Wir haben ein Gesetz und nach dem muss er sterben“, „Weg, weg mit ihm. Kreuzige ihn!“ Die Musik setzt diese Worte dramatisch in Szene, die Gegnerschaft und Feindseligkeit, die „den Juden“ zugeschrieben wird, findet in der Musik einen starken Ausdruck.
Bach vertont das Johannesevangelium
Was Bach hier vertont, sind die Texte der Bibel, des Johannesevangeliums. Das Bild, das sie von „den Juden“ vermitteln, ist irritierend. Es ist vor allem irritierend, wenn man sich die Wirkungsgeschichte vor Augen hält: „Die Juden“ trügen die Schuld am Tod Jesu, sie verweigerten sich seiner Botschaft, sie seien die Mörder des Gottessohnes – das waren jahrhundertelang Kerngedanken christlicher Theologie und zugleich die Wurzel christlicher Judenfeindschaft, die zu Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt gegen jüdische Menschen führte. Gerade in der Karwoche kam es oft zu gewaltsamen Übergriffen gegen jüdische Gemeinden.
Und wer die biblischen Texte heute hört, kann auch nicht ausblenden, dass Judenhass und Antisemitismus traurige Gegenwart sind. Ich denke an die furchtbaren Gewalttaten des 7. Oktobers, und ich denke an den wachsenden Antisemitismus, auch bei uns: Jüdinnen und Juden berichten von verbalen und auch tätlichen Übergriffen, von der Angst, sich als Jüdin, als Jude zu erkennen zu geben, die Zahl antisemitischer Straftaten nimmt deutlich zu; Judenhass, so der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, werde immer häufiger und schamloser ausgelebt.
Ein neues Verhältnis zum Judentum
Nach 1945 haben sich viele christliche Kirchen auf den Weg gemacht, ein neues Verhältnis zum Judentum zu suchen, das die jüdischen Wurzeln des Christentums anerkennt und die jüdische Religion und Kultur wertschätzt. Es gab und gibt vielfältige Bemühungen um den jüdisch-christlichen Dialog. Christinnen und Christen können jedoch nicht aufhören, das Johannesevangelium zu lesen; Werke wie die Passionen Bachs können nicht umgeschrieben oder aus Kirchen und Konzerthäuser verbannt werden.
Aber ich finde, es bleibt eine Aufgabe für Christinnen und Christen, sich mit den herausfordernden Seiten ihrer Heiligen Schrift auseinanderzusetzen, genauso wie mit den judenfeindlichen Traditionen im Christentum. Und: Christinnen und Christen müssen immer wieder klarmachen: Jesus war Jude, das Christentum ist ohne das Judentum und seine Traditionen überhaupt nicht zu verstehen, es steht auf seinen Schultern.
Antisemitismus entgegentreten
Sich mit der eigenen judenfeindlichen Tradition im Christentum auseinandersetzen: Das ist notwendig, auch um Judenfeindschaft und Antisemitismus heute entgegenzutreten. Und Jesus als Jude und in seiner jüdischen Tradition sehen: Das ist notwendig, um Jesus und seine die Botschaft besser zu verstehen.