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Wer ist mein Nächster
Helfende_Haende/GettyImages/Tempura

Wer ist mein Nächster

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer, Kassel
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Wer ist mein Nächster, wer meine Nächste? Diese uralte Frage ist aktuell und brisant. Das auslösende Moment ist der Krieg in der Ukraine. Er ist nicht weit entfernt. In Europa wird ein Land von der russischen Armee angegriffen, der es um Eroberung und Vernichtung geht. Gerade zivile Ziele haben sie im Visier, die Stromversorgung, die Infrastruktur, darunter auch Wohnhäuser.

Muss ich helfen oder nicht?

Wie sollen wir uns da verhalten? Offenbar gibt es in der Bevölkerung unterschiedliche Haltungen, auch innerhalb der Kirchen. Die einen fordern einen harten Kurs, der die militärische Unterstützung der Ukrainer beinhaltet. Andere beschwören den Frieden und wollen nicht selbst in den Konflikt hineingezogen werden. Hinter dieser Entscheidung verbirgt sich die alte Frage: Wer ist mein Nächster? Und wie verhalte ich mich ihm gegenüber? Muss ich helfen, auch wenn mein eigenes Leben davon beeinträchtigt wird?

Der Barmherzige Samriter - der Fremde, der hilft

Es gibt im Neuen Testament eine Geschichte, die sich damit beschäftigt. Fast alle kennen die Erzählung von dem barmherzigen Samariter, der einem überfallenen Menschen hilft, obwohl er ihn nicht kennt und auch keine Beziehung zu seinem Volk hat. Der Samariter ist der Fremde, der hilft, während andere vorbeigehen und trotz wohlmeinender Worte nichts tun.

Die Frage ist nicht, wer mein Nächster ist, sondern ob ich selbst ihm zum Nächsten werde

Das Gleichnis Jesu wäre zu einfach ausgelegt, wenn wir es schlicht als Apell deuten, allen Menschen unter allen Umständen zu helfen. So einfach ist es nicht. Das Erstaunliche an der Geschichte ist nämlich der Perspektivwechsel: Jesus hätte einfach sagen können, derjenige, der überfallen, ausgeraubt und verletzt wird, ist dein Nächster. Aber er sagt es nicht. Stattdessen fragt er, wer von den drei Menschen, die vorbeigegangen sind, zum Nächsten wird: Die beiden, die vorbeigehen, oder der dritte, der hilft. Also: Die Frage ist nicht, wer mein Nächster ist, sondern ob ich selbst ihm zum Nächsten werde.

Keine Frage der Verwandtschaft

Die Nächstenliebe beschreibt keine Beziehung, sie lässt sich nicht danach beurteilen, ob jemand mit mir verwandt ist, oder was ich bisher mit ihm zu tun hatte. In alten Kulturen war das genau festgelegt und ist es bei vielen noch. Die Nächsten, das waren zunächst die Mitglieder der Familie, beziehungsweise des Stammes. In dieser Sicht konnte genau abgewogen werden: Nein, der gehört nicht zu uns, der spricht nicht unsere Sprache, der hat womöglich sogar einen anderen Glauben.

Nächstenliebe gibt es nur dann, wenn ich mich selbst zum Nächsten mache

Genau diese Haltung kritisiert das Gleichnis. Indem Jesus in seinem Gleichnis die Perspektive wechselt, sagt er: Es ist nicht wichtig, wer der Nächste ist, die Nächstenliebe beschreibt vielmehr meine eigene Bereitschaft, einem Menschen in Not zum Nächsten zu werden. Weggucken, ignorieren, andere vorschieben, das ist jedenfalls keine Lösung. Nächstenliebe gibt es nur dann, wenn ich selbst diesen Weg wähle und mich zum Nächsten mache.

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