
Der Mann mit der Geige
Der Mann mit der Geige ist jung, berühmt und heißt Joshua Bell (geboren 1967). Konzertkarten kosten hunderte Euro. Vor einigen Jahren hatte eine Zeitung diese Idee: Wir stellen den berühmten Geiger frühmorgens an eine Haltestelle mitten in der Stadt. Dort spielt er und hat eine Büchse vor sich. Als bäte er um Geld. Dann bleiben viele Menschen stehen und freuen sich. So machen sie es. An einem kühlen Januarmorgen steht der Mann mit der Geige in der Innenstadt. Die Geige hat einen Wert von drei Millionen Euro. Joshua Bell hat eine Wollmütze auf und spielt Stücke von Bach. Es klingt wunderbar. Und was geschieht?
Kaum einer bleibt stehen
Nichts geschieht. In einer Stunde nutzen etwa 400 Menschen die Haltestelle; die meisten auf dem Weg zur Arbeit. Nach drei Minuten bemerkt der erste die Musik, schreibt die Zeitung. Er geht ein paar Sekunden etwas langsamer, ist dann aber schnell wieder weg. Nach fünf Minuten erhält der Geiger seinen ersten Euro. Nach etwa zehn Minuten lehnt sich ein junger Mann an eine Hauswand und hört zu. Dann schaut er auf die Uhr und geht weiter. Ein kleiner Junge will stehen bleiben, aber die Mutter zieht ihn weg. Nach einer Stunde hört der Geiger auf zu spielen. Sechs Menschen sind ein Weilchen stehen geblieben. Zwanzig haben Geld in die Büchse geworfen.
Lasst uns achtsamer sein
Die Geschichte beschämt mich ein wenig. Vermutlich wäre ich auch an der Musik vorbeigegangen. Man hat immer so viel vor, will schnell dahin oder dorthin und seine Sachen erledigen. Einen Kunstgenuss an der Haltestelle hält man nicht für möglich, beachtet ihn vielleicht gar nicht. Ist irgendwie schlimm, oder? Was ich wohl alles verpasse, wenn ich nur auf mein Ziel schaue und nicht auch mal um mich herum. Was ich wohl alles übersehe und überhöre, weil ich es doch eilig habe, angeblich. Ach Gott, seufze ich bei dieser Geschichte still vor mich hin, ach Gott, gib mir doch viel mehr offene Sinne. Jeden Tag. Gib mir ein sehr achtsames Herz. Und lass mich doch mehr sehen und hören als immer nur mich. Vielleicht höre ich ja etwas von dir - im Geigenspiel an der Haltestelle.