
Prüft alles und behaltet das Gute!
Es gibt einen besonderen Augenblick am Anfang des neuen Jahres, auf den ich mich immer freue: Der Moment, wenn ich Daten und Termine vom alten in den neuen Kalender eintrage. Das mache ich nicht zwischendurch. Dafür nehme ich mir Zeit. Es ist wie ein kleines Ritual. Ich mache es mir gemütlich. Koche einen Tee, zünde eine Kerze an. Und dann breite ich am Tisch die Kalender vor mir aus. Den alten und den neuen.
Rückblick auf's alte Jahr
Der alte Kalender ist abgegriffen. Die Wochen und Monate voller Einträge. Dienstliche und private Termine, Physio und Arztbesuche. Veranstaltungen und Verabredungen, Konzerte, Geburtstage, Beerdigungen. Erinnerungen an das, was nicht vergessen werden sollte: Anne anrufen! Fahrkarte buchen! Zeitung abbestellen! Auch Urlaube und Krankheitszeiten sind dick markiert.
Der neue Kalender - eine Hauch von Freiheit
Der neue Kalender ist leer. Viele unbeschriftete Zeilen und Seiten. Monate, Wochen, Tage - alles frei! Ein Hauch von Freiheit, von unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist noch nicht alles festgelegt. Ich kann entscheiden, womit ich meine Zeit füllen will und was ich besser lasse. Das neue Jahr kann ein neues Jahr werden. Natürlich weiß ich, wie schnell sich die Seiten füllen. Manches steht ja längst fest und wartet nur darauf, dass ich es eintrage. Und trotzdem. Der Blick auf den leeren Kalender macht mich dankbar. Für die Zeit, die offen vor mir liegt. Für die Möglichkeiten, die ich habe. Trotz aller Sorgen und Nöte, die auch da sind – es ist ein Geschenk, dass ich da bin. Dass mir Zeit geschenkt ist. Kostbare Lebenszeit. Was werde ich damit machen?
Musik 1: W.A. Mozart: Cassation No. 2 in B, KV 99 I. Marsch
Die Jahreslosung 2025
Vorne, auf einer der ersten Seiten in meinem Kalender, steht die Jahreslosung. Ein Bibelvers, der als Thema über dem neuen Jahr steht. Das Wort soll uns wie ein Motto durch das Jahr begleiten. Es lädt ein, im Laufe der Zeit immer einmal innezuhalten und aus der Perspektive dieses markanten Satzes auf mein Leben zu schauen.
„Prüft alles und behaltet das Gute!“ (1. Thess. 5,21) ist die Jahreslosung für 2025. Der Satz stammt von Paulus. Der Apostel schreibt die Aufforderung an die Gemeinde in Thessaloniki. Er hat sie gegründet. Drei Wochen konnte er vor Ort sein. Nun schreibt einen Brief. „Wir danken Gott allezeit für euch alle und denken an euch in unserem Gebet.“ (Kap.1,2)
Der Brief des Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki
Der Brief beginnt mit Dank und endet mit Grüßen und Ermahnungen. Im Vers der Jahreslosung werden sie gleichsam zusammengefasst: „Prüft alles und behaltet das Gute!“
Thessaloniki war eine bunte Hafenstadt. Dort lebten Menschen aus vielen Ländern und Kulturen. Ein Gemisch verschiedener Sprachen, Religionen und Lebensformen. „Wie können wir unseren Glauben überzeugend leben in einer nichtchristlichen, multireligiösen Welt? Diese Frage bewegt die Frauen und Männer, die neu zum Glauben gekommen sind. Sie rechnen damit, dass Christus bald wiederkommt. Dass er noch zu ihren Lebzeiten erscheint und das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit auf Erden aufrichtet. Auch dazu schreibt Paulus in dem Brief. Uns heute ist diese Vorstellung fremd. Aber viele spüren: Wir leben in einer Zeit, die die Menschheit herausfordert wie nie zuvor. Die großen globalen Krisen, die Veränderung des Klimas, Naturkatastrophen, Kriege, Umweltzerstörung. Manche sprechen von einer Zeitenwende, andere warnen, dass wir endlich handeln müssen, um die Zukunft unserer Kinder und des Planeten zu retten. Was ist zu tun? Was ist das Richtige?
Prüft alles!
Paulus macht ein weites Fenster auf: Prüft alles! sagt er. Geht nicht mit Scheuklappen durch die Welt aus Angst, ihr könntet etwas falsch machen. Nehmt erst einmal wahr, was da ist. Die Menschen, die euch begegnen. Die Ansichten, die sie vertreten. Der Maßstab, an dem ihr euch orientieren könnt, ist die Liebe. Ist Jesus Christus und sein Vorbild.
Diese Freiheit und Weite gefällt mir. Erst einmal wahrzunehmen. Dankbar und positiv. Bereit, Neues zu denken. Und dann schauen, was gut ist. Aber wie geht das: Prüfen und das Gute behalten?
Musik 2: W.A. Mozart: Cassation No. 2 in B, KV 99 II. Allegro molto
Aktiv handeln
Bei einer Prüfung kann ich durchfallen, beim Führerschein oder beim Abitur. In Zeiten knapper werdender Kassen kann prüfen bedeuten: Arbeitsplätze werden wegrationalisiert. Zuschüsse gestrichen. Einrichtungen geschlossen. Solche Prüfung kann Gutes auch kaputt machen. Kann Vertrauen zerstören, gute Arbeit beenden.
Die Jahreslosung meint es anders. Ich werde nicht geprüft, sondern ich prüfe. Ich bin die Aktive. Und mir wird zugetraut, dass ich das kann. Das hat etwas Entlastendes. Ich muss nicht alles machen. Nicht jeden Film sehen, nicht jeden Trend mitmachen. Ich kann und ich muss auswählen, was gut ist. Wie viel kommt jeden Tag von außen auf mich zu! Informationen, Meinungen, Bilder, Stimmen und Stimmungen. Will ich das? Will ich das einlassen in mein Denken und in mein Leben? Tut es mir gut? Es ist wichtig, zu prüfen und zu unterscheiden.
Eigene Gedanken prüfen
Auch meine eigenen Gedanken prüfen. Was geht mir nicht alles durch den Kopf im Laufe des Tages! Ist das meins? Gehört es zu mir? Oder ist es das, was andere mir gesagt haben. Was ich vielleicht von Kindheit an gehört und aufgenommen habe. Überzeugungen, Glaubenssätze… Tun sie mir gut? Ist es das, was ich möchte?
Prüft alles und behaltet das Gute! Um das herauszufinden, muss ich in Kontakt gehen mit mir. Mich ausrichten, innerlich. Die Ohren des Herzens öffnen, auf meine innere Stimme hören. Gottes Stimme hören, die mir hilft, zu unterscheiden. Oft klappt das nicht auf Knopfdruck. Dann gehe ich mit meiner Frage schwanger. Nehme sie mit in meinen Alltag. Und halte immer wieder inne, um zu hören.
Gutes Gefühl beim Ausräumen
Es gibt Situationen, da geht das schnell. So war es neulich in der WG unserer Tochter. Endlich haben sie ihre Küche aufgeräumt! Die Schränke waren noch voll mit Sachen von Leuten, die dort schon lange nicht mehr wohnen. Lebensmittel, sagt sie, die gefühlt 100 Jahre alt waren. Ein Blick aufs Verfallsdatum – und weg damit. Einmal am Gewürztöpfchen riechen, okay, geht noch. Kurz fragen: Mag jemand das vegane Hackpulver? Und dann entscheiden. Je mehr sich die Regale lichten, um die besser wird die Laune.
Es macht ein gutes Gefühl, wenn ich etwas aussortiert habe - die Speisekammer oder die Herzkammer. Nach dem Prüfen kommt die Entscheidung: Wegtun oder aufheben? Die alten Rechnungen, die gesammelten Briefe, die Erinnerungen, den alten Schmerz, die nicht verwirklichten Pläne... Manche bleiben vor diesem zweiten Schritt stehen. Sie prüfen – aber sie ziehen keine Konsequenzen. Verändern nichts.
So kann es mir auch gehen, wenn ich am Anfang des Jahres meine Kalender anschaue. Ich sehe im Rückblick: Manches war nicht gut. Ich sollte etwas verändern. Aber mache ich es auch? Sonst bleibt alles beim Alten und geht nur in die nächste Runde.
Musik 3:W.A. Mozart: Cassation No. 2 in B, KV 99, V. Andante
Leichter, schneller, effektiver
Ein Freund erzählt von Sparmaßnahmen, die er in seinem Betrieb umsetzen muss. Als erstes, sagt er, werden wir unsere Routinen überprüfen. Wie wir was machen. Wie aufwendig, wie arbeitsintensiv. Schauen, ob wir Vorgänge verschlanken können. Manches geht vielleicht mit weniger Aufwand. Leichter, schneller, effektiver. Genau das kritisieren viele an der deutschen Bürokratie. Dass sie zu schwerfällig ist. Dass Vorgänge lange brauchen, viel Geld und Zeit verschlingen. Da gibt es manches, was sich verbessern lässt. Im öffentlichen Bereich - vielleicht auch im persönlichen Alltag.
Routinen und Gewohnheiten überprüfen
Wie mache ich was? Wie beginne ich meinen Tag und wie beende ich ihn? Wieviel Zeit nehme ich mir für das, was mir wichtig ist und für die, die ich liebe? Was zur Gewohnheit geworden ist, muss nicht gut sein, bloß weil ich es immer schon so mache. Und was vor zehn Jahren für mich gut war, kann heute ganz anders sein. Um das herauszufinden, muss ich immer wieder einmal innehalten. Dafür könnte ich mir im Kalender Zeiten freihalten. Haltepunkte, an denen ich gleichsam den „Autopiloten“ ausschalte und wahrnehme: Wo bin ich? Was ist gut und was möchte ich ändern?
Den Fokus auf das Gute richten
Prüft alles, und behaltet das Gute. Der Fokus ist auf das Gute gerichtet. Das überzeugt mich, denn ich erlebe es oft anders. Das Negative bekommt viel Raum. In den Medien, in privaten Gesprächen und Talkshows. Wir regen uns auf, beschweren uns über das, was nicht gut läuft. Aber das macht nicht unbedingt Lust, mich zu engagieren. Der französische Soziologe Bruno Latour sagt: Wir müssen fragen: Was ist das Gute, das wir behalten und erhalten wollen? Was ist uns wichtig? Und dann sortieren. Welche Technologien, welche Verhaltensweisen und Einstellungen helfen uns dabei und welche nicht. (Jeder einzelne, sagt er, kann nur kleine Dinge tun. Aber das Große besteht aus der Verbindung von vielem Kleinen.) (vgl. Arte.tv, Gespräche mit Bruno Latour)
Jahreslosung - keine Einladung zur Bequemlichkeit
Im nächsten Monat wird in Deutschland gewählt. Was ist das Gute, das ich mir für unser Land wünsche? Die Jahreslosung ist keine Einladung zur Bequemlichkeit. Nichts für Mitläufer. Prüfen ist Arbeit. Sind die Nachrichten gut recherchiert? Oder hat einer was gehört, das eine andere gesagt hat, die wiederum es irgendwo gelesen haben soll…Wir müssen miteinander sprechen. Gemeinsam um das Gute ringen. „Prüft alles!“ heißt es, im Plural also. Eine Gemeinschaft ist angesprochen. Vieles kann man nicht alleine herausfinden. Wir brauchen einander und alle müssen mitgenommen werden.
Musik 4: W.A. Mozart: Cassation No. 2 in B, KV 99, VI. Menuett
„Zielgerichtetes Bewusstsein“
Nicht immer geht es so schnell wie beim Aufräumen des Küchenschranks. Es gibt Situationen, da überlegen wir lange und finden keine eindeutige Antwort. Wir müssen entscheiden und erst im Nachhinein wissen wir es vielleicht besser.
Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie ich auf etwas schaue. Will ich ein klares Ziel erreichen, dann überlege ich: Wie bekomme ich, was ich will? und plane die Schritte, die mich dorthin bringen. Die amerikanische Psychologin Lisa Miller nennt das: „zielgerichtetes Bewusstsein“. Dieser Blick ist hilfreich und notwendig in vielen Situationen des täglichen Lebens. Er schenkt mir Konzentration und die nötige Energie. Aber manchmal reicht dieser Blick nicht. Es braucht noch eine andere Wahrnehmung, einen weiteren Blick, eine größere Aufmerksamkeit.
Den Blick weiten
Lisa Miller nennt das ein „erwachtes Bewusstsein“. Wir legen die Scheuklappen ab. Klammern uns nicht mehr nur an ein Ziel. „Wir lassen den Blick weit über die Landschaft schweifen“, schreibt sie, „und fragen uns: Was will mir das Leben gerade zeigen? Im erwachten Bewusstsein können wir mehr Möglichkeiten und Chancen erkennen, eine stärkere Verbundenheit mit anderen empfinden, die Zusammenhänge zwischen den Ereignissen in unserem Leben verstehen, …stärker mit unserer Lebensaufgabe und dem Sinn unseres Lebens im Einklang sein“ (Lisa Miller, Das erwachte Gehirn. München 2022. Seite 202)
Offen durch den Tag
Wenn ich vor einer Aufgabe stehe und nicht weiß, wie ich sie anpacken soll, gehe ich in dieses wache Bewusstsein. Gehe offen durch meinen Tag und schaue, was auf mich zukommt. Eine Begegnung beim Einkaufen, ein Gespräch am Telefon. Eine Notiz in der Zeitung, ein Bericht im Radio, ein Einfall beim Spazierengehen. Es ist ein lebendiger Dialog mit anderen Menschen, mit dem Leben. Ich staune, was ich auf diese Weise manchmal entdecke. Viele Puzzleteile, die sich zu einem Ganzen zusammensetzen. Das ist eine andere Art zu prüfen. Nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen. Beide Arten der Wahrnehmung brauchen wir, wenn wir herausfinden wollen, was gut ist für uns.
Wünsche für's neue Jahr
Zum Jahreswechsel habe ich eine Karte bekommen mit der Aufschrift: „Alles Gute“. Das jedenfalls habe ich gelesen beim ersten Blick. Ohne Brille. Als ich genauer draufschaue, sehe ich: Da ist noch was dazwischen geschrieben. Kleingedruckt: Prüft ALLES und behaltet das GUTE. „Alles Gute!“ Das wünsche ich mir und uns für das neue Jahr. Für die Pläne und Termine, die ich in den Kalender eintrage und für die Zeiten dazwischen. „Alles Gute“ - und den Mut, loszugehen ins Offene. Etwas wagen, Fehler machen dürfen und wieder neu anfangen. „Alles Gute“ auch für die Zeiten, in denen es nicht gut ist. Auch die wird es geben im neuen Jahr. Dass es trotzdem gut wird, auch wenn es anders kommt, als ich es heute plane. „Alles Gute“ - für ein Jahr 2025 unter Gottes Segen.
Musik 5: W.A. Mozart: Cassation, B Dur, KV 99, V.