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Kleines Brot - große Hoffnung
Bild: ChristosGiakkas_pixabay

Kleines Brot - große Hoffnung

Sebastian Lindner
Ein Beitrag von Sebastian Lindner, Pastoralreferent im Schuldienst, Frankfurt am Main
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Lüttich im Jahr 1209: Eine Augustinernonne hat eine Vision. Sie schaut den Mond an, einen Vollmond. Der hat an einer Stelle einen unerklärlichen schwarzen Fleck. Rätselhaft. Dann erscheint ihr in der Vision Jesus Christus. Der erklärt die Sache mit dem Fleck: Der runde Mond steht für den Jahreskreis, genauer gesagt den Kreis der Feste im Kirchenjahr. Und da, wo der Fleck ist, da fehlt ein Fest! Ein besonderes Fest zu Ehren des christlichen Abendmahlssakramentes. Die Nonne hat diese Erscheinung immer wieder. Doch erst Jahre später erzählt sie davon. Die Berichte lösen bei vielen Leuten Staunen und Ehrfurcht aus. Schließlich wird das neue Fest im Jahr 1246 tatsächlich eingeführt – anfangs nur in Lüttich, später dann in der ganzen Kirche. Es erhält den Titel „Fest des Leibes Christi“ – im Mittelhochdeutschen wiedergegeben mit „vronlichnam“. Das hat nichts mit „Happy Kadaver“ zu tun – „vron“ ist das alte Wort für „Herr“, „lichnam“ für „Leib“, gemeint ist der lebendige Leib. „Fronleichnam“ heißt zusammen nichts anderes als: „der Herrenleib“.

Ein knapp 800 Jahre altes, mittelalterliches Fest mitten in Frankfurt

Frankfurt im Jahr 2025: Zum zentralen Fronleichnams-Gottesdienst auf dem Römerberg werden tausende katholische Gläubige erwartet. Sie kommen aus dem gesamten Stadtgebiet - mit der Bahn, mit dem Fahrrad oder sogar mit dem Schiff auf dem Main. Es ist wie eine Mischung aus Pilgern und Volksfest. Schließlich treffen sich alle am Römer, feiern dort gemeinsam Gottesdienst und ziehen in der traditionellen Fronleichnams-Prozession zum Dom. Ein knapp 800 Jahre altes, mittelalterliches Fest inmitten einer modernen Großstadt. Für mich ein besonderes Ereignis.

Musik 1: Thomas von Aquin (zugeschrieben), Pange, lingua, gloriosi (CD: Gregorianische Gesänge. In hymnis et canticis, Choralschola der Folkwang Hochschule Essen) (01:14).

Fünf Brote, zwei Fische – alle aßen und wurden satt

Beim Fronleichnams-Fest geht es um die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus. Allerdings wird in den Gottesdiensten heute gar nicht das Evangelium vom letzten Abendmahl vorgelesen. Gelesen wird heute das Evangelium von der wunderbaren Brotvermehrung: Da spricht Jesus den ganzen Tag lang zu einer großen Menschenmenge über das nahende Gottesreich. Am Abend kommen seine engen Gefolgsleute zu ihm und sagen: „Schick die Menschen weg, damit sie sich in den umliegenden Orten eine Unterkunft und etwas zu essen suchen können. Denn wir sind hier an einem abgelegenen Ort.“ Jesus antwortet: „Gebt ihr ihnen doch zu essen.“ Sie sagen: „Wir haben ja selber nichts, gerade mal fünf Brote und zwei Fische. Das reicht vorne und hinten nicht. Wir müssten selber erst losgehen und für all diese Leute Essen kaufen. Das klappt nicht.“ Da gibt Jesus die Anweisung, die Leute sollen sich in kleinen Gruppen zusammensetzen. Jesus nimmt die fünf Brote und die zwei Fische, spricht das Segensgebet vor dem Essen, bricht alles in Stücke und lässt es von den Jüngern an die Menschen austeilen. Etwas lapidar heißt es beim Evangelisten Lukas: „Alle aßen und wurden satt. Als man die übriggebliebenen Brotstücke einsammelte, waren es zwölf Körbe voll“. (Lukas-Evangelium 9,12-17) Großes Staunen bei allen Beteiligten.

Musik 2: Josef Gabriel Rheinberger: Abendlied (CD: Josef Gabriel Rheinberger: Cantus Missae, Kammerchor Stuttgart, Frieder Bernius) (01:10).

Ein Geber steckte den anderen an… Brotvermehrung

Eine wundersame Geschichte von der Brotvermehrung erzählt der Evangelist Lukas in der Bibel - heute, an Fronleichnam, wird sie in den katholischen Gottesdiensten vorgelesen. Im Original endet die Geschichte mit den übriggebliebenen Resten, zwölf volle Körbe. Mir kommt die Frage in den Sinn: Was haben die Leute denn dann mit diesen Resten gemacht; doch nicht etwa weggeworfen? Das wäre ja irgendwie absurd… erst Brot vermehren und dann entsorgen… Die biblische Erzählung endet an dieser Stelle – und mir fällt auf, dass dieses Ende eigentlich nach einer Fortsetzung verlangt. Wilhelm Willms, 2002 verstorbener katholischer Pfarrer, Schriftsteller und Lyriker, hatte wohl einen ähnlichen Gedanken. Er hat nämlich selber eine Fortsetzung geschrieben, mit dem Titel „Wie die Brotvermehrung weitergehen kann“. Willms erzählt die Geschichte erstmal noch so, wie sie im Lukas-Evangelium steht. Doch dann merke ich als Leser, dass sie einen anderen Dreh bekommt: Auch bei Willms teilt Jesus Brötchen und Fische, und es kommen viele Leute, die hungrig sind und essen wollen. Aber gleichzeitig kommen auch immer mehr Leute, die etwas dabeihaben und es bei Jesus abgeben: Lebensmittel, Essen und Trinken. Jesus und die Jünger haben alle Hände voll zu tun, die Dinge zu verteilen. Es heißt dann bei Willms: „Ein Geber steckte den anderen an… Brotvermehrung!“ Und er spinnt den Faden einfach immer weiter: Er lässt Farmer und Fabrikanten herbeikommen. Die bringen Lebensmittel, die sie sonst vernichtet hätten, um die Preise hochzuhalten. Aus aller Welt kommen Flugzeuge, Schiffe, Lastwagen mit Lebensmitteln. Es wird geteilt und verteilt. Alle fühlen sich verantwortlich, niemand bleibt mit seiner Not allein. Und alle werden satt.

Musik 3: Jean-Baptiste Senaillé: Allegro spiritoso (CD: Trumpet & Organ, Maurice André / Jane Parker-Smith / Alfred Mitterhofer / Hedwig Bilgram) (02:31).

Alle werden satt, weil alle miteinander teilen – eine Utopie!

Ich mag diese Erzählung von Wilhelm Willms, die die Brotvermehrung von damals weitererzählt im Heute: Das Wunder passiert, alle werden satt, weil alle miteinander teilen. Aber ich weiß auch: Das ist reine Utopie! In den Nachrichten sehe ich täglich etwas ganz anderes. Rechtspopulistische Politiker sagen: keine Hilfe ins Ausland; die USA kürzen massiv bei den internationalen Hilfsprogrammen; der Weltgesundheitsorganisation gehen die Mittel für Projekte gegen AIDS und andere Krankheiten aus. Die Folgen des Klimawandels treffen besonders die Ärmsten dieser Welt, und gleichzeitig gibt es immer weniger Unterstützung. Zudem machen immer mehr Länder ihre Grenzen für Flüchtlinge dicht. Sicher, es gibt internationale Hilfsorganisationen – auch die Kirchen haben große Hilfswerke wie Caritas und Misereor -, aber die kommen gar nicht hinterher – der Hunger in der Welt wird immer größer, die Kriege und Krisen lassen nicht nach. Manchmal habe ich das Gefühl, es ist zum Verzweifeln.

Utopien zeigen eine Richtung an

Dann lese ich diese Utopie bei Wilhelm Willms – diese Geschichte von einer Welt, in der alle miteinander teilen und es für alle reicht. Und ich frage mich: Eine schöne Geschichte, aber was bringt sie? Was fange ich persönlich damit an? Dann wird mir klar: Solch eine Utopie beschreibt nicht die Realität. Es ist keine Betriebsanleitung und kein Lösungsrezept. Utopien sind für mich eher so etwas wie ein Kompass. Sie zeigen eine Richtung an. Und sie machen mir Mut, in diese Richtung zu gehen. Utopien sind wie Bilder, die eine Sehnsucht in mir wecken. Die Sehnsucht nach einem Ort, der im Augenblick unerreichbar ist. Und trotzdem habe ich die Hoffnung, eines Tages dort zu sein.

Es gibt so viele Möglichkeiten zu teilen

Die Bibel steckt voller solcher Utopien. Auch das Evangelium von der wunderbaren Brotvermehrung ist eine: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ sagt Jesus. Und am Ende werden alle satt. Durch die wundersame Kraft des Teilens. Und ja, ich wünsche mir das auch für heute. Ich träume davon, dass Menschen mehr miteinander teilen – ohne die Angst, am Ende selber zu kurz zu kommen. Auch ich selbst könnte mehr Mut zum Teilen haben. Denn es gibt so viele Möglichkeiten: Ich kann für Hilfsorganisationen spenden, ich kann Obdachlosen etwas geben, ich kann beim Einkaufen auf fair gehandelte Waren achten, ich kann weniger Fleisch essen und damit etwas für´s Klima tun, ich kann mich für gerechtere Bedingungen weltweit einsetzen. Das alles fällt für mich unter „Teilen“.

Musik 4: Anton Bruckner: Tantum ergo (CD: Choral Music of Hassler and Cornelius, The Exon Singers / Ltg.: Christopher Tolley) (02:20).

Bei der gemeinsamen Mahlfeier ist Jesus immer dabei

Jesus hat das Brot geteilt. Nicht nur bei der wundersamen Brotvermehrung, von der das Lukas-Evangelium erzählt und von der sich Wilhelm Willms hat inspirieren lassen - auch beim letzten Abendmahl, kurz vor seinem Tod. Da nahm Jesus das Brot in die Hand, teilte es in Stücke und gab es an die Jünger weiter. Das war erstmal der normale jüdische Fest-Ritus – aber die Erklärung dazu, die war ungewöhnlich. Jesus sagt: „Dieses geteilte Brot, das bin ich selbst, mein Leib, mein Leben. Deshalb erinnert euch künftig an mich, wenn ihr so das Brot miteinander teilt. Ich selbst bin es dann, ich bin dann bei euch, versprochen!“ Im christlichen Glauben ist Jesus bei jeder Abendmahlfeier anwesend. Wie diese Anwesenheit theologisch interpretiert wird, da gibt es zwischen den christlichen Glaubensrichtungen unterschiedliche Auffassungen. Aber am Kern der Sache ändert das nichts: Jesus ist in der gemeinsamen Mahlfeier auf eine geheimnisvolle Weise mit dabei.

Was in der Prozession zur Schau gestellt wird, ist ein Stück Brot

Vor allem in katholischen Gegenden finden heute die Fronleichnams-Prozessionen statt. Mit Liedern und Gesängen, Blaskapellen und blumengeschmückten Altären ziehen die Gläubigen durch die Straßen oder über die Felder. Für den Reformator Martin Luther war es das „allerschädlichste Jahresfest“. Ihm fehlte der biblische Bezug. Prozessionen überhaupt galten ihm als gotteslästerlich. Schon in der Antike gab es Triumphzüge, in denen Könige und Kaiser oder auch im Krieg erbeutete Schätze dem Volk präsentiert und vom Volk bejubelt wurden. Das vielleicht auf den ersten Blick ein bisschen triumphal anmutende Fronleichnams-Brauchtum kann aber über eines nicht hinwegtäuschen: Unter dem Baldachin, da befindet sich kein König oder Kaiser. Und in dem vergoldeten Gefäß, der Monstranz, da befinden sich weder Münzen noch Edelsteine. Was da in dieser Prozession herumgetragen und zur Schau gestellt wird, das ist einfach ein Stück Brot.

Musik 5: Johann Sebastian Bach, Arioso „Betrachte meine Seel“ (CD: J.S: Bach, Johannespassion, Collegium Vocale Gent / Orchestre de La Chapelle Royale, Paris / Philippe Herreweghe) (02:35).

Gott zeigt sich mir als Nahrung und Kraftquelle

Die Gebete und Gesänge der Fronleichnams-Feiern gelten einem Gott, der sich nicht mit den Insignien von Macht und Reichtum verehren lässt. Hier wird Gott verehrt im Zeichen einer kleinen Backoblate. Religionsgeschichtlich kurios – und eigentlich auch ziemlich verrückt. Doch genau hier zeigt sich mir der Kern der christlichen Botschaft: Gott begegnet mir im Symbol eines Lebensmittels. Gott zeigt sich mir als Nahrung und Kraftquelle für mein Leben. So wie Jesus beim letzten Abendmahl das Brot austeilt, so will Gott mir auch heute Brot und Leben sein, will meinen Hunger stillen.

Es gibt Menschen, die viel schlechter dran sind

Das Symbol Brot bringt Wesentliches meines Glaubens auf den Punkt: Gott nährt mich und auch alle anderen Menschen. So wie Eltern ihre Kinder versorgen, so gibt Gott uns das, was wir zum Leben brauchen. „Du tust deine Hand auf und sättigst alles, was lebt“, heißt es in einem alten Tischgebet. Darunter verstehe ich alles, was zum Leben nötig ist. Neben Essen, Trinken und frischer Luft zum Atmen sind das auch sinnstiftende Beziehungen, die Liebe anderer Menschen, Gemeinschaft und Zugehörigkeit, eine erfüllende Arbeit und die Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Schnell wird mir klar: Wie wenig selbstverständlich sind all diese Dinge in Wahrheit. Okay, mir selbst geht es gut – ich habe, was ich brauche. Ich weiß aber: Es gibt Menschen, die sind viel schlechter dran als ich. Das Symbol des Brotes, es bleibt auch das Zeichen einer unerfüllten Hoffnung. Symbol einer Sehnsucht: der Sehnsucht, es möge allen Menschen gut gehen, es mögen alle das Nötige haben.

Mit fünf Broten und zwei Fischen machte Jesus den Anfang

In der biblischen Geschichte von der Brotvermehrung heißt es: Als Jesus die vielen Menschen sah, sagte er zu seinen Jüngern: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ Das war natürlich komplett unrealistisch - wie sollten die Jünger Tausende von hungrigen Menschen satt kriegen? Dann fing Jesus an mit dem, was da war: fünf Brote, zwei Fische. Damit machte er den Anfang. Das Symbol des Brotes ist für mich auch das Startzeichen für eine Utopie – die Utopie, dass alle Menschen haben, was sie brauchen. Es sieht leider nicht so aus, als würde dies bald zur Realität werden. Umso wichtiger, an der Utopie festzuhalten, sie zur Kompassnadel zu machen. Ich kann anfangen, mit Menschen zu teilen, die es nötig haben – da wo ich bin, mit meinen Mitteln und Möglichkeiten. Egal was es ist - Geld, Zeit oder Wissen, Gedanken und Träume.

Das Teilen ist der Anfang

Das Teilen ist der Anfang. Wo Menschen das teilen, was sie haben, da fängt es an, dass es irgendwann für alle reicht. Wenn heute am Fest Fronleichnam der Leib Christi in der Gestalt eines kleinen runden Brotstücks feierlich herumgetragen wird, dann sehe ich dabei das: die Hoffnung auf eine Welt, in der alle Menschen gut leben können – und das sehnsüchtige Warten auf einen Gott, der aus kleinsten Anfängen Neues entstehen lässt: eine neue, eine bessere Welt für alle.  

Musik 6: John Stanley, Trumpet voluntary (CD: Trumpet & Organ, Maurice André / Jane Parker-Smith / Alfred Mitterhofer / Hedwig Bilgram) (02:54 – evtl. fadeout).

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