
Die Kunst des Loslassens
Manchmal will man etwas Wichtiges loslassen im Leben. Oder man muss es. Wie bekomme ich das gut hin? Es ist eine Kunst: die Kunst des Loslassens. Bewusst brauche ich sie mindestens einmal im Jahr, in den Tagen rund um den Geburtstag. Wenn ein Lebensjahr zu Ende geht und ein neues beginnt.
Wie geht das: Loslassen?
Dann bietet es sich an, innezuhalten, zurückzublicken und bewusst loszulassen, was war. Insbesondere das, was mir nicht guttut. Aber auch an jedem anderen Tag ist diese Kunst nützlich, erst recht an einem Sonntag. Mich darin zu üben macht mich stärker. Das hilft mir insbesondere dann, wenn ich etwas loslassen muss, obwohl ich das gar nicht will. Loslassen ist eine Kunst, die geübt sein will. Es gibt das kleine Loslassen, das große und das ganz große. Leicht ist keines von den dreien. Doch ich habe erfahren: Loslassen schafft Raum. Und offene Arme und ein freies Herz für Neues.
Musik: B. Andrés, Feel good, Wo Der Pfeffer Wächst (Cordula Poos Harfe, Markus Reich Percussion)
Es gibt das kleine Loslassen, das große und das ganz große. Bei dem kleinen Loslassen denke ich an eine Frau, die sich monatelang auf ihren Urlaub freut. Doch eine Woche vorher verletzt sie sich das Bein. Sie wird den Urlaub nicht antreten können. Es fällt ihr wahnsinnig schwer, aber sie muss diesen Plan aufgeben - loslassen.
Es gibt das kleine und das große Loslassen
Beim großen Loslassen denke ich an den Mann, der sein Leben lang gesund und stark war. „Nie im Krankenhaus“, sagt er stolz. Aber nun hat er eine heftige Diagnose bekommen. Er wird leben, aber nicht mehr so wie vorher. Er muss vorzeitig aus dem Beruf heraus, muss sich schonen und viel Zeit mit medizinischer Behandlung verbringen. Das Selbstbild des starken Mannes muss er loslassen. Nun ist er ein kranker Mann.
Ich denke an die Frau, die das Glück der Attraktivität hatte. Viele Jahre lang war sie die bewundernden Blicke von Männern und Frauen gewohnt, fand sie mal lästig und mal angenehm. Nun merkt sie, wie die Blicke seltener und anders werden. Den Grund sieht sie im Spiegel. Ihre jugendliche Schönheit geht dahin. Sie muss davon Abschied nehmen.
Ich denke an das Paar, das sich seit vielen Jahren Kinder wünscht – aber sie kommen nicht. Trotz aller Versuche und medizinischer Hilfe. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem die beiden ihren sehnlichen Wunsch loslassen müssen – weil er offenbar nicht erfüllbar ist.
Es gibt noch viele andere große Loslass-Momente im Leben. Und es gibt das ganz große Loslassen. Dazu später mehr. Im Kleinen wie im Großen ist meine Erfahrung: Wer etwas Wichtiges loszulassen hat, ist erst einmal beunruhigt. Denn da verschwindet ein Teil des bisherigen Lebens. Damit gehen Menschen ganz unterschiedlich um.
Manchmal fällt das Loslassen schwer
Manche wollen es nicht wahrhaben. Sie klammern sich an das, was bislang war. Sie tun so, als wäre es noch da. Andere reagieren radikal anders: Sie wollen das Bisherige zerstören. Sie reden es schlecht oder machen es kaputt. Sie zerstreiten sich mit denen, die zum Alten gehören. Sie gehen im Zorn und verbittert. Als helfe es ihnen beim Loslassen, verbrannte Erde zu hinterlassen. Dagegen verklären andere die gute alte Zeit, in der alles besser erschien. Sie weigern sich, etwas Neues anzunehmen.
Anders reagieren die, die vorzeitig das Interesse an dem verlieren, was sie zu verabschieden haben. Sie werden antriebsschwach und distanziert. Innerlich sind sie schon vorzeitig weg.
Doch auch das Gegenteil habe ich erlebt: Menschen, die mit preußischer Disziplin loslassen. Sie wollen das, was sie bislang wichtig fanden, mit Anstand zu Ende bringen. Von ihren persönlichen Emotionen sehen sie dabei ab.
Es gibt unterschiedliche Wege loszulassen. Wie kann man das gut hinbekommen?
Musik: Ney Rosauro, Despida, Melodies Für Percussion (Babette Haag)
Wie geht gutes Loslassen? Mir scheint: Dafür nimmt man bewusst wahr, was mit einem gerade geschieht. Ich erlaube mir, alle Gefühle und Gedanken zu haben. Sie können ganz unterschiedlich und sogar widersprüchlich sein: Mal ist die Wehmut da, mal kommt vielleicht Wut dazu. Ich bin traurig und dankbar. Ich freue mich an dem, was war, und spüre intensiv die Sympathie zu den bisherigen Beteiligten. Vielleicht bin ich sogar erleichtert, dass etwas vorbei ist. Ich kann mir auch Sorgen machen um das, was ich zurücklasse. Vielstimmig sind die Gefühle beim Loslassen.
Die Gefühle beim Loslassen sind vielfältig
Wenn man diese Vielfalt der Gefühle durchlebt hat, kann man sie hinter sich lassen. Das kann dauern. Vielleicht sogar länger, als einem lieb ist. Dafür braucht man Geduld. Wer das geschafft hat, wird wirklich frei für das, was vor einem liegt: ein neues Jahr, eine neue Aufgabe, ein neuer Lebensabschnitt, ein neues Lebensziel – jedenfalls etwas Neues und Unbekanntes.
Wer sich im Leben von Gott begleitet weiß, wird beim Loslassen auch auf Gott schauen. Und hoffentlich erleben, dass Gott einem in allem zur Seite steht. Wenn die Wut kommt, wird Gott sie ertragen, auch wenn sie sich gegen Gott selbst richtet. Wenn sich die Trauer einstellt, wird Gott mittrauern und trösten. Wenn Einen Dankbarkeit erfüllt, wird Gott sie spüren und mögen. Zuletzt wird Gott Hand in Hand mit einem die ersten Schritte in die Zukunft tun. Darauf vertraue ich.
Loslassen – diese Aufgabe muss jede und jeder im Verlauf des Lebens bewältigen. Manche mehr, andere weniger. Loslassen ist ein seelischer Kraftakt, zugleich eine Therapie, um wieder lebensfroh zu werden. Für gläubige Menschen liegt darin auch eine geistliche Chance, ein Schritt auf Gott zu. Dazu später mehr, wenn es um das ganz große Loslassen geht.
Wann ist etwas zu groß, um es loszulassen?
Erst mal beschäftigt mich: Gibt es beim Loslassen ein Zuviel, das ich nicht mehr verkraften kann? Früher habe ich mich gefragt, was ich alles loslassen könnte. Und ab wann ich nicht mehr leben wollte. Wenn ich blind oder taub würde, wollte ich dann noch leben? Warum nicht? Denn ich kenne Menschen, die sind blind oder taub, die haben zu einem großartigen Leben gefunden. Und wenn ich meine Familie verlöre, wollte ich dann noch leben? Hoffentlich ja, denn andere Menschen haben es vorgemacht. Sie haben sich nach solchen oder anderen Verlusten durch das Tal der Tränen gekämpft und einen Weg gefunden, mit der Trauer zu leben.
Dasselbe gilt, wenn um einen herum Krieg herrschte oder großer Mangel. Ich kann kein Minimum definieren, ohne dass ich nicht mehr leben wollte oder könnte. Menschen können ungeheuer stark und genügsam sein. Weniges müssen wir wirklich zum Leben haben. Eines allerdings kann ich nicht loslassen: die Hoffnung auf einen Sinn im Leben.
Musik: Paul Taffanel, Allegro grazioso, Palette (Carré-Ensemble)
Was kann man loslassen und was nicht? In der Bibel erzählt Jesus von einem Mann, der sehr erfolgreich ist. Er ist Landwirt[1] und fährt eine überaus gute Ernte ein. Seine Felder tragen so viel Frucht, dass er auf Jahre hinaus genug hat. Da sagt er sich:
„Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“
Ich finde den Mann bemerkenswert bescheiden. Nach modernen ökonomischen Regeln müsste er den Überschuss investieren, um in den Folgejahren den Ertrag zu steigern. Doch das tut er nicht. Er ist mit dem, was er hat, zufrieden und hat damit genug. Ich wünschte, dieses Genug wäre heute stärker verbreitet, denn unsere Gesellschaft folgt an vielen Stellen eher dem Prinzip des „Immer-Mehr“.
Bescheidenheit kann helfen
Inzwischen erkennen viele Menschen: Dieses Prinzip kann auf Dauer nicht funktionieren, denn es überfordert die Erde. Die Ressourcen sind endlich. Außerdem ist das Prinzip des Immer-Mehrs auch für einen selbst gar nicht gesund. Es drängt einen, auch aus dem eigenen Leben immer mehr herauszupressen. Das gilt nicht nur beruflich. Nach dem Prinzip des Immer-Mehr soll auch die Freizeit immer mehr Erlebnis bieten. Ich merke – auch bei mir selbst: Das ist ebenfalls ein Fall für die Kunst des Loslassens.
Manche folgen dem Prinzip des Immer-Mehrs nicht. Die einen freiwillig, die anderen unfreiwillig. Zu den Unfreiwilligen gehören diejenigen, deren Lebensstandard sinkt, weil die Preise steigen, ihr Einkommen aber nicht. Es wäre zynisch, diesen Menschen das Loslassen zu empfehlen. Das ist ein wichtiger Punkt beim Loslassen. Es darf nicht als Vorwand benutzt werden, um anderen den sozialen Abstieg schmackhaft zu machen.
Andere verabschieden sich freiwillig aus dem Prinzip des Immer-Mehrs. Viele stammen aus gutsituierten Kreisen. Sie verkleinern bewusst ihre Ansprüche und ihr Eigentum. Weil sie gemerkt haben: Weniger Stress und weniger Besitz ermöglichen ihnen mehr Lebensqualität. Dieses Gefühl beschreibt ein Song der Gruppe Silbermond. Sein Titel lautet „Leichtes Gepäck“. Es schildert, wie wieviel einfacher es ist, im Leben mit weniger unterwegs zu sein.
Musik: Leichtes Gepäck (Silbermond)
„Eines Tages fällt dir auf, dass du 99 Prozent nich' brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg, denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck. Du siehst dich um in deiner Wohnung, siehst. 'N Kabinett aus Sinnlosigkeiten, siehst das Ergebnis von Kaufen und Kaufen von Dingen, von denen man denkt, man würde sie irgendwann brauchen, siehst so viel Klamotten, die du nie getragen hast und die du nie tragen wirst und trotzdem bleiben sie bei dir. Soviel Spinnweben und soviel Kram. So viel Altlast in Tupperwaren. Und eines Tages fällt dir auf, dass du 99% davon nich' brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg, denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck, mit leichtem Gepäck.“
Der Song vom leichten Gepäck empfiehlt, vieles loszulassen, um besser leben zu können. Dann macht man sich weniger Sorgen um das, was man hat. Man lebt freier, konzentrierter, bewusster und tiefgründiger. Neu ist das nicht. Schon in der klassischen Philosophie haben sich Menschen darüber Gedanken gemacht. Die Schule der Stoa kam zu dem Ergebnis: Die Dinge, die wir besitzen, haben nur relativen Wert. Das Lebensglück hängt nicht von Reichtum oder Erfolg ab. Entscheidend ist die innere Einstellung. Stoisch im eigentlichen Sinne ist jemand, der innerlich gelassen ist, weil ihn kaum etwas umtreibt. Kaum ein Verlust schmerzt ihn, kaum ein Mensch kann ihn verletzen.
Die Gedanken zum Thema Loslassen gibt es in vielen Religionen
Ähnliche Gedanken gibt es auch in anderen Religionen. Allen voran im Buddhismus. Der rät: Mache dich unverletzbar und rein, indem du dich von allem Irdischen löst. Konzentriere dich ganz auf dein spirituelles Sein. Das ist der Weg, eins zu werden mit dem Göttlichen. Das Prinzip Loslassen reicht weit in die religiösen und seelischen Tiefen des Menschen hinein. Damit nähere ich mich dem, was ich zu Beginn „das ganz große Loslassen“ genannt habe. Und ich kehre noch einmal zu der biblischen Geschichte vom erfolgreichen Landwirt zurück. Der Kornbauer ist glücklich und zufrieden mit seiner überreichen Ernte. Er sichert sie in Scheunen und denkt, er habe nun ausgesorgt. Doch die Geschichte endet anders – und zwar mit dem Satz: „Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“
Was hat der Kornbauer falsch gemacht? Ihm war es genug, nach irdischen Maßstäben reich zu sein. Er hat nicht gefragt: Wie kann ich das werden, was die Bibel so nennt: „Reich sein bei Gott“? Dorthin hätten ihn drei Schritte geführt. Der erste Schritt wäre gewesen, für die Ernte zu danken. Ohne Gottes Schöpfung wächst nichts, bei aller eigenen Mühe. Als zweiten Schritt hätte der Landwirt Mitgefühl empfinden können. Dann hätte er seinen Überschuss geteilt mit denen, die Not leiden. Nun der dritte Schritt: Sein Leben in Gottes Hand legen, sich also ganz und gar auf Gott verlassen.
Das ist alles andere als leicht, denn es hat tiefgreifende Folgen: Man macht sein Leben nicht mehr abhängig von Arbeit, Erfolg, Gesundheit, Familie, Hobbies und allem anderen. Das ist das ganz große Loslassen: Keine Angst mehr zu haben um sich, um sein Leben, um die Welt. Wer das wagt, erlebt ein Paradox. Jesus hat es so beschrieben: „Wer sein Leben gewinnen will, der wird es verlieren. Wer sein Leben verliert – sprich: loslässt -, der wird es gewinnen.“[2]) Was bedeutet das konkret?
Musik: Mood Records, On my way, Ack von Rooyen/Jörg Reiter (Ack van Rooyen)
Jesus hat die Kunst des Loslassens so beschrieben: „Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren. Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“ Dieser Satz umschreibt für mich das ganz große Loslassen. Wer es erreicht, erlebt eine nie gekannte Lebensfreude, ein Leben ohne Angst, in Zuversicht auf Gott. Aber dahin zu kommen ist nicht leicht, denn es mutet einem zu, alles im Leben wirklich Gott anzuvertrauen. Und das, ohne wirklich gewiss zu sein, dass Gott einen auch wirklich auffängt. Diese geistliche Zumutung hat Dietrich Bonhoeffer in prägnante Sätze gefasst:
„Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“[3] Soweit Dietrich Bonhoeffer.
„Dein Wille geschehe.“ Das ist ein Kernsatz für alle, die loslassen wollen und sich in Gottes Hand begeben
Bedeutet das: Alles Irdische wird einem egal? Wenn das so wäre, könnte man dem christlichen Glauben zurecht vorwerfen er vertröstet die Menschen nur auf bessere Zeiten später im Himmel. Und damit spielt er denen in die Karten, die andere jetzt ausbeuten wollen. Doch dieser Vorwurf trifft nicht zu. Das zeigt ein Blick auf das zentrale Gebet aller Christen, das Vaterunser. In der Mitte dieses Gebets steht die Bitte: „Dein Wille geschehe.“ Das ist ein Kernsatz für alle, die loslassen wollen und sich in Gottes Hand begeben. „Dein Wille geschehe.“ Damit könnte dieses Gebet zu Ende sein, wenn alles andere wirklich egal wäre. Ist es aber nicht. Weitere Bitten folgen und die führen aus, was offensichtlich Gottes Wille ist. Da heißt es: „Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“
Darin zeigt sich der Wille Gottes. Den soll man nicht loslassen. Im Gegenteil, für den setzen sich Christen ein: für das tägliche Brot für sich und alle, für die Vergebung von Schuld, für die Erlösung vom Bösen. Das sind nur drei kurze Bitten. Doch bei näherem Hinsehen verändern sie die Welt, wenn sie in Erfüllung gehen. Loslassen hat also durchaus auch etwas mit Anpacken zu tun: Jeden Tag zu leben und zu gestalten.
Heute, am Sonntag, ist das kleine Loslassen angesagt – und das mit einem tiefen Durchatmen: Sei Gott befohlen, neuer Tag und neue Woche!
Musik: Isak Roux, aus Takweni Suite: Makwaya Sunday, We are not alone (Saxofourte)
[1] Lukas 12,16-21
[2] Matthäus 10,39 u.a.
[3] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 30 f