
Und doch: ein Hoffnungsbild
Ich habe ein Bild vor Augen – ein Hoffnungsbild. Nicht nur als eine Idee, sondern als ein echtes kleines Kunstwerk. Ich kenne dieses Bild seit meiner Kindheit. Bei meiner Großtante hing es an der Wand. Und ich mochte es gern, weil ich glaubte, in ihm eine Märchenfigur zu sehen, die es mir angetan hatte: die Regentrude. Die Regentrude stammt aus dem gleichnamigen Märchen von Theodor Storm (1817‒1888). Das Märchen erzählt von einem unerträglich heißen Sommer. Ein Sommer, in dem die Pflanzen verdorren und das Vieh verdurstet, weil die Regentrude eingeschlafen ist. Ihr Gegenspieler ist der Feuermann. Er hat die Macht an sich gerissen und überzieht die Felder mit Hitze und glühenden Kohlen. Nur wenn die Regentrude aus ihrem Schlaf geweckt wird, werden die ersehnten Wolken aufziehen, die den Regen bringen und damit das Leben.
Das Märchen von der Regentrude und dem Feuermann
Im Märchen von Theodor Storm war die Regentrude eine schöne Frau. Hochgewachsen, aber bleich und mit eingefallen Wangen, solange sie schläft. Auf dem Bild meiner Großtante, wie ich es damals sah, saß eben diese schlafende Regentrude. Ihre Augen waren geschlossen. Ihr Mund geformt zu einem tonlosen Seufzer. Sie saß in einem eigenartigen Streichholzhaus wie in einem Käfig. Ein verkohltes Gehäuse, über das hinweg der Feuermann schon seine tödlichen Winde geschickt hatte. Sie saß dort am Boden. Den Kopf zur Seite geneigt, den Rücken gebeugt, die Hände schlaff abgewinkelt. Sie saß da, gekrümmt und verkauert. Wie jemand, der lebendig begraben ist. Und doch. Und doch, so stellte ich mir vor, würde sie gleich ihre Augen öffnen, den Feuermann vertreiben, die Tyrannei beenden und das Land mit Blüten überziehen.
Der Titel des Bildes war "Die Hoffnung"
Als meine Großtante starb, habe ich das Bild geerbt. Zum ersten Mal hielt ich es in der Hand und entdeckte am unteren Bildrand eine winzig kleine Schrift, mit feinem Bleistift gezogen. „Die Hoffnung“ stand da. Das war der Titel des Bildes: „Die Hoffnung“. Und eine Jahreszahl: 1944. Gerhard Marcks (1889‒1981) heißt der Künstler, der dieses Hoffnungsbild geschaffen hat. Er ist eher als Bildhauer bekannt und zählt wie Ernst Barlach zu den großen figürlichen Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Dieses Figürliche findet sich auch auf meinem Bild. Es ist ein Holzschnitt, bei dem die Hoffnung als Figur, als Frau vielleicht, aus einem Stück Holz hervortritt. In der einfachen, klaren Formsprache, die für Gerhard Marcks typisch ist.
Was ist das für eine Hoffnung?
Es war also nicht die Regentrude, die ich als Kind in dem Hoffnungsbild gesehen hatte. Es war die Hoffnung selbst. Nur: Was für eine Hoffnung soll das sein, wenn jemand dasitzt mit gebeugtem Rücken und hängenden Schultern? Ist Hoffnung nicht mit Freude verbunden, mit Stärke und mit Zuversicht?
Musik: Johann Sebastian Bach, 2 stimmige Invention Nr. 13 BWV 784, Bach: Inventions & Partitas (Janine Jansen)
Hoffnung als Ausdruck von Freude, von Stärke und von Zuversicht ‒ so kann man es jedenfalls erwarten, wenn man weiß, was das Wort bedeutet. Denn das Wort „Hoffnung“ leitet sich ab von dem niederdeutschen Wort „hopen“ für „hüpfen“. Hoffnung meint also eigentlich: „vor Erwartung unruhig springen“ oder „zappeln“.
Dieses Hopen, dieses Hoffen, ist eine ungeduldige Bewegung auf etwas hin. Es richtet sich aus auf etwas Zukünftiges. Ein Warten. Eine Erwartung. Hoffen ist die Erwartung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, auch wenn es jetzt noch gar nicht danach aussieht und nicht gewiss ist, dass es kommt.
Hoffnung trotz Ungewissheit
Trotzdem geht die Hoffnung diesem Ungewissen einen Schritt entgegen. Vielleicht ist das der Grund, warum sie als eine der drei christlichen Tugenden gilt: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Aber die Liebe ist die größte unter ihnen (1. Kor 13,13). So hat man es vielleicht schon mal in der Kirche gehört, bei Taufen und bei Trauungen, und so kann man es auch in der Bibel nachlesen.
Bei dem Künstler Gerhard Marcks ist die Hoffnung nicht unruhig unterwegs. Sie hüpft und zappelt nicht. Sie streckt sich nach nichts aus. Seine Hoffnung sitzt da wie ein Häufchen Elend. Wie jemand, der am Ende ist und dessen Hoffnung sich zerschlagen hat.
Die Hoffnung sitzt da wie ein Häufchen Elend
Man weiß nicht ganz genau, wann dieses Bild entstanden ist. Ende 1944 vielleicht oder Anfang 45. Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs jedenfalls. Kurz vor dem Ende der nationalsozialistischen Tyrannei, als noch kein Friede ist.
Gerhard Marcks hat wie viele Künstler unter dem NS-Regime gelitten. 1933 wurde er aus seinem Beruf als Kunstlehrer entlassen, weil er sich eingesetzt hat für jüdische Kollegen. Er bekam Ausstellungsverbot. Seine Werke wurden beschlagnahmt und als „entartet“ verhöhnt. Im Zweiten Weltkrieg zerstörte ein Bombeneinschlag sein Atelierhaus in Berlin. Viele seiner Werke sind damals verbrannt. Ein Jahr danach entstand „Die Hoffnung“, wie sie da sitzt in ihrem verkohlten Streichholzhaus.
Das Bild erinnert auch an immer wiederkehrende Gewalt
Wenn ich das Bild heute sehe, denke ich nicht mehr nur an die Regentrude. Ich denke auch an den Feuermann und die zahllosen Brandherde weltweit. An Hass, der sich nicht löschen lässt. An Gewalt, die sich immer neu entzündet. Und ich denke an das, was vor achtzig Jahren in unserem Land geschehen ist: an die Menschen, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. An die Feuerstürme des Krieges. Und an den Künstler Gerhard Marcks, der im zerbombten Berlin vor den Trümmern seiner Arbeit stand. Und doch. Und doch hat er eben nach diesem Verlust wieder ein Bild geschaffen und es „Die Hoffnung“ genannt.
Musik: Paul Taffanel, Allegretto Grazioso, Palette (Carré-Ensemble)
Glaube, Hoffnung, Liebe ‒ sie gelten als die drei christlichen Tugenden. Aber es sind nicht einfach abstrakte Ideale. Sie sind hineingestellt in die Zeit. Sie müssen sich in ihr bewähren. Sie können wachsen, und sie können verlorengehen.
Die Stunde Null: Das Leuten der Glocken
Was hat das wohl für die Hoffnung bedeutet in den ersten Tagen im Mai vor achtzig Jahren? Im Mai 1945 wurde die Kapitulationsurkunde unterzeichnet. Kirchenglocken haben damals den Neubeginn eingeläutet und so die Hoffnung ausgedrückt, dass an diesem Nullpunkt der Geschichte das Leiden ein Ende findet und Neues beginnt. Viele sprachen damals von der „Stunde Null“. Und manche dachten, die „Stunde Null“ sei die „Stunde der Kirche“.[1] Und so schien es auch. Jedenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In den ersten Tagen nach dem Ende des Krieges und in den Wochen danach. Denn die Kirche war damals die einzige Organisation, die ihre Arbeit direkt nach dem Ende der Kampfhandlungen fortsetzen konnte. Ihre Strukturen hatten Gleichschaltung und Krieg einigermaßen überstanden. Ihr ansatzweise geleisteter Widerstand gegen die NS-Diktatur machte sie bei vielen zu einer moralischen Instanz. Man traute ihr zu, den demokratischen Neubeginn zu begleiten und das Land neu aufzubauen. Und tatsächlich: Im Vakuum der ersten Wochen war es die Kirche, die Halt und Orientierung bot. Sie versorgte Geflüchtete. Sie half, Angehörige zu finden. Vertrat die Bevölkerung bei den Siegermächten. Und: Sie konnte so etwas wie Hoffnung verbreiten.
Die Kirche gab Halt und Orientierung
Die Kirche setzte auch ihrerseits Zeichen. Sie trat öffentlich ein für Freiheit und für Demokratie. Mit den Evangelischen Akademien gründete sie 1945 neue Orte der Bildung und der kritischen Diskussion. Und ihre Stimme war auch im Rundfunk präsent. Die Morgenfeiern wurden schon im Mai 1945 wieder ausgestrahlt. Andachten zählten damals zu den meistgehörten Sendungen. Sie strukturierten den Alltag im zerschlagenen Land. Und sie erreichten auch Gegenden, in denen kein Gottesdienst stattfinden konnte, weil die Gebäude zerstört oder die Gemeinden geflohen waren.
Es gab die Hoffnung auf den Aufbruch – auch im Glauben
So kam die Kirche in den Nachkriegsjahren zu großem Ansehen und Einfluss. Sie sollte Werte vermitteln, Sprache finden und Mut machen, wieder nach vorn zu schauen. Manche in der Kirche erhofften sich von der „Stunde Null“ einen regelrechten Aufbruch – auch im Glauben. Eine Rechristianisierung der Gesellschaft sogar. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt, wie wir heute wissen. Vielleicht auch deshalb, weil Kirche und Theologie etwas zu leichtfüßig über die Abgründe hinweggegangen sind, die sich mit der NS-Zeit auftaten. Zu oft haben sie geschwiegen und zu wenig gefragt, was vor der „Stunde Null“ gewesen ist. Was sie selbst dazu beigetragen haben, der Tyrannei den Weg zu bahnen. Was Massenmord, Krieg und Verfolgung für den christlichen Glauben bedeuten. Und welche Wege es überhaupt geben kann, Verantwortung zu übernehmen und der Schuld Ausdruck zu geben.
Viele haben Ihren Glauben an Gott im Laufe des Krieges verloren
Eben das hatte der Bildhauer Gerhard Marcks versucht. Ein Jahr nach Kriegsende fuhr er in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Er sollte dort den Toten ein Denkmal errichten. Doch wie kann man einem solchen Ort ein Zeichen setzen? Marcks schlägt eine leere Kapelle vor. Einen leeren Raum mit nichts darin als dem leidenden Jesus am Kreuz. Der Entwurf wird abgelehnt. Die Kirche der Nachkriegszeit war damit beschäftigt, in die Zukunft zu sehen. Sie wollte Hoffnung wecken, den Menschen zum Guten erziehen und neue positive Bilder vom Christentum entwerfen. In ihrem Optimismus hat die Kirche nicht bemerkt: Viele Menschen der Nachkriegszeit teilten diese Hoffnung auf einen neuen Glauben gar nicht. Und manche hatten den Glauben an Gott längst verloren.
Musik: Bryce Dessner, Suite für Harfe 2. Satz, The Glass Effect (Lavinja Meier)
Die Alliierten hatten die Kirche nach dem Krieg gefördert, um Halt zu geben und die Sprachlosigkeit zu überwinden. Doch viele Predigten blieben ohne Zeitbezug. Sie gingen nicht ein auf konkrete Schwierigkeiten. Sie fragten nicht nach dem Leid der Verfolgten. Und sie deuteten den Krieg als Strafe Gottes für die Abkehr vom Glauben. Damit boten sie gerade keine überzeugende Antwort und keine angemessene Sprache für das Monströse, das zwischen 1933 und 1945 geschehen war und das mit einer einzigen „Stunde Null“ ja nicht einfach null und nichtig wurde.
Was die Kirchen in dieser Zeit versäumten, bot die Literatur
Mehr Raum für Auseinandersetzung bot die Literatur. Hier wurden die Realitäten benannt. Hier kamen auch die religiösen Abbrüche zur Sprache, die die Nachkriegsgeneration beschäftigten. Die Frage zum Beispiel, wo der liebe Gott in Stalingrad gewesen ist.[2] Ob er noch Antwort geben kann oder ob sich der Glaube an Gott erledigt hat angesichts der vielen Toten.
Der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre (1920‒1989) zog daraus eine radikale Konsequenz. Wie viele andere Schriftsteller, die aus dem Krieg zurückkehrten, aber nicht zur Ruhe kamen, empfand Schnurre das Jahr 1945 als eine tiefe Zäsur. Mit ihr hatten sich die alten Formen verbraucht. Die alten Formen des Erzählens, aber auch die alten Formen des Glaubens.
„Von keinem geliebt, von keinem gehasst. So ist der liebe Gott gestorben.“
In Schnurres Kurzgeschichte „Das Begräbnis“, die er unmittelbar nach dem Krieg geschrieben hat, trägt er Gott selbst zu Grabe. Die Nachricht vom Tode Gottes erscheint in einer Traueranzeige. Darin heißt es: „Von keinem geliebt, von keinem gehasst. So ist der liebe Gott gestorben.“ Eine Nachricht, die angesichts der vielen Toten des Krieges keinen mehr wirklich berührt.
Schnurre hatte den Krieg als Soldat erlebt. Mit einem Gott, der solche Kriege zugelassen und die Konzentrationslager nicht verhindert hat – mit so einem Gott wusste er nichts anzufangen. Glaube, Liebe, Hoffnung. Das waren für ihn Worte, die sich verbraucht hatten. Es lohnte nicht, sich ihnen zuzustrecken und ihnen einen Schritt entgegenzugehen.
Musik: Robert Schumann, Liebesgram op 74/3, In Dunklen Räumen (Nils Mönckemeier)
Glaube, Hoffnung, Liebe ‒ für den Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre waren das Worte, die den Krieg nicht überlebt haben. Nicht mehr zu benutzen und nicht zu gebrauchen. Ich kann das verstehen. Und doch. Und doch kann ich sagen, dass es für mich anders ist. Dass ich trotz allem bis heute dieses kleine Hoffnungsbild in mir finde, das mich schon als Kind beschäftigt hat. Diese erschöpfte Figur auf dem Holzschnitt von Gerhard Marcks, deren Namen ich erst später erfuhr: „Die Hoffnung“. Wenn ich heute auf diese Hoffnungsfigur schaue, dann sehe ich darin einen Menschen, dem wenig geblieben, der aber nicht am Ende ist. Gebeugt, aber nicht gebrochen. Beengt von einem Gehäuse, das aber nicht so fest ist, wie es scheint.
Nicht alle im Märchen glauben an die Realität der Regentrude
Und ich stelle mir vor, dass sich diese Hoffnung wecken lässt wie die Regentrude im Märchen von Theodor Storm. Das Märchen erzählt von dem unerträglich heißen Sommer, in dem die Regentrude eingeschlafen ist. Nur wenn sie geweckt wird, werden die Wolken kommen und den Regen bringen. Nicht alle in der Geschichte glauben daran, dass es die Regentrude wirklich gibt. Sie halten sie selbst für ein Märchen. Für ein dummes Gefasel. Für eine Phantasie aus alter Zeit. Und doch. Und doch gibt es zwei, die daran glauben, dass es gelingen kann: die Regentrude zu wecken, das Wetter zu wenden und die Macht des Tyrannen zu brechen. Die zwei machen sich auf, und sie finden, was sie suchen. Die Regentrude öffnet ihre Augen. Sie richtet sich auf zu ihrer schönen Gestalt und überzieht das Land mit Blüten.
Glaube, Liebe, Hoffnung. Diese drei. Aber die Hoffnung ist die tapferste unter ihnen.
Hoffnung kann ermüden. Aber Hoffnung lässt sich auch wecken. Man kann im Leben vieles verlieren: die Liebe, den Glauben, auch den Glauben daran, dass sich das Leid aus der Welt bringen lässt. Aber damit ist die Geschichte nicht am Ende. Und dass sie nicht ans Ende kommt, das verdankt sie der Hoffnung. Denn am Ende bleiben: Glaube, Liebe, Hoffnung. Diese drei. Aber die Hoffnung ist die tapferste unter ihnen.
Musik: Felix Mendelssohn Bartholdy, Kantate Wir glauben all an einen Gott, Mendelssohn: Chorale Cantata No. 8: 'Wir Glauben All' An Einen Gott' (Stuttgarter Kammerchor unter der Leitung von Frieder Bernius)
[1] Proklamiert von dem Theologen Hans Asmussen am 14. August 1945.
[2] In dem Hörspiel „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert, das 1947 im Nordwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde.
David, Philipp: Der Tod Gottes als Lebensgefühl der Moderne. Geschichte, Deutung und Kritik eines Krisenphänomens, Tübingen 2023.
Hermle, Siegfried/Oelke, Harry (Hg.): Kirchliche Zeitgeschichte_evangelisch, Bd. 3: Protestantismus in der Nachkriegszeit (1945–1961), Leipzig 2021.
Krondorfer, Björn/Kellenbach, Katharina von/Reck, Norbert: Mit Blick auf die Täter. Fragen an die deutsche Theologie nach 1945, Gütersloh 2006.
Schnurre, Wolfgang: Das Begräbnis (1946), in: Ders.: Man sollte dagegen sein. Geschichten, Olten und Freiburg i. Br. 1960, 23‒34.
Storm, Theodor: Die Regentrude [1864], in: Ders.: Märchen. Kleine Prosa. Hrsg. von Dieter Lohmeier, GW 4, Darmstadt 1998, 79‒108.