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Jesus und Thomas – glauben und sehen
Bild: Gerd Altmann/Pixabay

Jesus und Thomas – glauben und sehen

Dr. Paul Lang
Ein Beitrag von Dr. Paul Lang, Diakon und Lehrer für Latein, Musik und Religion in Amöneburg
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Ostern – das Fest der Christen, das Fest des Lebens! Eigentlich war das letzten Sonntag, aber weil es so entscheidend ist, genügt ein Tag bei weitem nicht, um es zu feiern! Wer in der Osternacht getauft worden war, trug in frühen Zeiten des Christentums eine Woche lang, bis heute also, das weiße Taufkleid. Die Bezeichnung „Weißer Sonntag“ kommt daher.

Ostern – das ist Auferstehung! Jesus lebt. Wir Menschen wollen nicht sterben, wir hoffen auf das Leben, auf ein Leben ohne Ende. Gleichzeitig gibt es nichts, was wir so stark bezweifeln. Gibt es Leben nach dem Tod? Leben für immer? Wie kann, wie soll das aussehen?

Die vier Evangelien, die Erzählungen von Jesus in der Heiligen Schrift, berichten vom Tod Jesu am Karfreitag, seiner Hinrichtung, seiner eiligen Beisetzung vor dem Beginn des Sabbats. Übereinstimmend erzählen sie vom folgenden Sonntag, dem Tag nach dem Sabbat. Frauen aus dem Umfeld Jesu kommen bei Sonnenaufgang, um den Leichnam einzubalsamieren. Das Grab aber ist leer. Da ist kein Leichnam! Der schwere Stein, der Jesu Grabhöhle am Stadtrand von Jerusalem verschlossen hatte, ist weggerollt.

Im Johannes-Evangelium steht Maria von Magdala im Zentrum der Betrachtung: Sie kommt in der Frühe zum Grab. Sie erfährt: Alles ist anders, Jesus ist nicht im Tod. Sie erhält einen Auftrag: „Sag allen: Jesus lebt!“

Unmittelbar an diese Begegnung von Maria Magdalena mit dem Auferstandenen fügt das Johannesevangelium eine ganz andere, ebenso verwunderliche Erzählung an. Inzwischen ist es Abend geworden am selben Tag.

„Am Abend dieses ersten Tages der Woche“, berichtet Johannes, „als die Jünger aus Furcht … bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen.

Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. ….

Thomas, der Dídymus genannt wurde, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.

Acht Tage darauf waren seine Jünger wieder drinnen versammelt und Thomas war dabei. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!

Thomas antwortete und sagte zu ihm: Mein Herr und mein Gott!

Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“

Jesus und Thomas: Acht Tage nach dem ersten Osterfest, heute also, geschieht diese Begegnung. In einem seiner bekanntesten Gemälde hat der italienische Maler Michelangelo Merisi da Caravaggio diese Szene auf Leinwand gebannt. Vier Männer zeigt er, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Links, einen Mantel um seine Schulter geschlungen, die Brust entblößt: Jesus. Vor ihm, den Kopf nach unten gesenkt, den Finger in Jesu Seitenwunde gesteckt, Thomas. Zwei weitere Apostel neigen ihre Köpfe dicht herab zu dem, was Thomas mit skeptischem Blick und prüfendem Finger untersucht: Kann es sein, dass Jesus lebt? Gibt es Auferstehung?

Musik: Gottfred Matthison-Hansen - „Cantabile“ op. 32 für Orgel - Johannes Geffert an der Hauptorgel der Abteikirche Maria Laach

Begegnungen mit Auferstehung

Jesus und der „ungläubige Thomas“. Was der Maler Caravaggio Anfang des 17. Jahrhunderts darstellt und wie er es tut, das sichert seinem Gemälde große Aufmerksamkeit: Der konzentrierte, forschende Blick des Apostels Thomas, seine in Falten gelegte Stirn, sein Finger, der sich geradezu in Jesu Seite bohrt. Sein Gesicht zeigt Skepsis, weitere Fragen. Alles prüfen, handgreiflich. Das ist ein Bild, das uns vertraut und vermutlich sympathisch ist: Was geschieht und warum? Ist das möglich? Die Gesichter der beiden Apostel im Hintergrund unterscheiden sich im Ausdruck durch nichts von Thomas. Alle drei sind sie vernünftig. Sie sind kritisch und hinterfragend. Sie stehen geradezu für eine moderne, an Wissenschaft orientierte Weltsicht.

Caravaggio zeigt eine spannende Szene. Er illustriert allerdings nicht das Johannes-Evangelium. Sein Bild zeigt etwas anderes. Nein: Im Evangelium legt Thomas seine Finger nicht in die Wunden, seine Hand nicht in die Seite Jesu. Er formuliert zwar Fragen und Bedingungen. Er ist sorgenvoll, vielleicht skeptisch. Am Ende aber bleibt Thomas im Evangelium nicht beim Analysieren und Untersuchen stehen.

Bei aller anfänglichen Skepsis: Der Thomas des Evangeliums ist bereit zur Begegnung. In dieser Begegnung mit Jesus erfährt er Wandlung: Er begreift. Dieses Begreifen ist aber ganz anders als das, was Caravaggio malt. Es ist kein Greifen mit Fingern und Händen. Kein Wort schreibt der Evangelist darüber, dass Thomas wirklich seine Hände und Finger in Kontakt mit Jesu Wunden gebracht hätte. Seine Blickrichtung ist eine andere als die von Caravaggio.

Die Wundmale an Händen und Seite sind im Evangelium wichtig. Jesus zeigt sie den Jüngern, wenn er in ihre Mitte tritt. Er zeigt sie auch Thomas: Sie sind Realität, sie berühren. Mit dem Blick auf seine Wunden ermuntert Jesus Thomas zum Glauben. Er erreicht Thomas unmittelbar. Ohne Zögern bekennt Thomas: „Mein Herr und mein Gott!“ Die Schwelle zwischen der jenseitigen Welt, der Transzendenz, und der Welt des Greifbaren ist bei Jesus und seinem Leiden durchlässig. In der Versammlung der Gemeinde ist er gegenwärtig – auch als der, der er war. Zeit und Raum schwinden. Caravaggios Bild führt in eine Sackgasse: Wenn einer seinen Finger physisch in die Seite Jesu bohren würde, wie er das malt, was könnte der dabei erkennen?

Ostern ist Begegnung mit dem Auferstandenen: Die geschieht persönlich und oft individuell. Zwei Beispiele schildert das Johannes-Evangelium. Maria von Magdala begegnet dem Auferstandenen als erste, am leeren Grab: „Sie meint es sei der Gärtner!“, schreibt Johannes. Ihre Augen sehen nicht den gestorbenen Jesus. Sie sieht den Gärtner. In der Sprache der Bibel ist das der, der das Leben pflegt und schützt – Leben ohne Ende: Das ist Gott selbst! Maria von Magdalas Begegnung mit Jesus am leeren Grab macht sie zur Botin der Auferstehung für alle. Sie wird zur Apostolin der Apostel.

Thomas hat keine solche Erfahrung am leeren Grab. Trotzdem wird er ebenso zum Boten der Auferstehung. Seine Jesusbegegnung in der Gemeinschaft der anderen genügt. Die christliche Tradition berichtet von Thomas, dass er für diese Botschaft später weite Wege geht, sogar sein Leben dafür gibt. Christliche Gemeinden im heutigen Indien führen sich auf seine Missionstätigkeit zurück. Sein Grab wird im indischen Mailapur verehrt.

Musik: traditionelle Hymne aus Surinam: „Adonai“- Koorschool Utrecht.

Wie geht Glauben?

Kann ich nicht wie Thomas schaun die Wunden rot,
bet ich dennoch gläubig: „Du mein Herr und Gott!“
Tief und tiefer werde dieser Glaube mein,
fester lass die Hoffnung, treu die Liebe sein.

Thomas von Aquin, dem vielleicht einflussreichsten Theologen und Philosophen des 13. Jahrhunderts wird dieser Text zugeschrieben. Es handelt sich um die Strophe eines ursprünglich lateinisch verfassten Lobgesangs für das Fronleichnamsfest.

Glauben und Sehen: Wie stehen sie zueinander? Viele meinen: Wissenschaft, Vernunft und Glaube schließen einander aus. Wo Wissenschaft beginnt, hört Glaube auf. So betrachtet, wäre Glaube ein Platzhalter für all jene Bereiche, in denen Wissenschaft keine – oder womöglich noch keine sicheren Erkenntnisse liefert. Dann wäre Glaube zumindest gefühlt auf dem dauernden Rückzug auf immer weniger Bereiche; auf die eben, die Wissenschaft noch nicht mit klaren Erkenntnissen absichert.

Wir verbinden mit Wissenschaft das Forschen mit sinnenfälligen, mit naturwissenschaftlichen Methoden. Das erscheint uns als der naheliegendste und einzige Weg, der zu Erkenntnis führt.

Der Philosoph Platon, er lebte im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus, sieht das ganz anders. Für ihn steht außer Zweifel, dass gerade die Sinneswahrnehmungen und Naturwissenschaften nicht zu wirklicher Erkenntnis, zu wirklichem Wissen führen können. Das, ist Platon überzeugt, gelingt nur der Vernunft, wenn und solange sie alle sinnlichen Wahrnehmungen ausschließt. Die Dunkelheit einer romanischen Kathedrale kommt einer solchen Erkenntnistheorie besonders entgegen: Wahrnehmung mit Augen und Ohren ist in einem solchen Raum stark eingeschränkt.

Platons Schüler Aristoteles stellt sich seinem Lehrer entgegen: Er lehrt, dass die mit den Sinnen wahrnehmbare Welt direkte Wege zu sicherer Erkenntnis vermittelt. Als seine Schriften mit den Kreuzzügen in Europa wieder bekannt werden, sind es Theologen wie Thomas von Aquin, die sie interessiert und begeistert lesen. Die neuen Kirchen ihrer Zeit, der Gotik, werden Feste für die Sinne. Ihre Maße und Zahlen, besonders aber viele Abbildungen auf bunten Fenstern sind der engagierte Versuch, die gesamte Welt sehend und forschend zu ergreifen. Die in farbiges Licht gehüllten Innenräume gotischer Kathedralen wollen Wege zu Gott sein. Die Erfahrungen der Sinne sind dabei zuverlässige Vermittler.

Augen, Mund und Hände täuschen sich in dir,
doch des Wortes Botschaft offenbart dich mir.
Was Gott Sohn gesprochen, nehm ich glaubend an;
er ist selbst die Wahrheit, die nicht trügen kann.

In dieser Strophe des gleichen Lobgesangs versucht Thomas von Aquin eine Lösung im Dilemma zwischen Glauben und Sehen. Das Hören auf Gottes Wort gibt Gewissheit, schreibt er. So bleibt er seinem philosophischen System treu: Es gibt eine zuverlässige, auf ein Sinnesorgan gestützte Wahrnehmung, die Glauben bewirkt: das Hören.

„Glauben kommt vom Hören auf Gottes Wort“, schreibt Paulus im Römerbrief. Dieses „Hören“ ist allerdings von anderer Qualität als ein bloßes Wahrnehmen mit den Ohren. Dieses „Hören“ ist durch und durch Zuwendung: Jesus spricht Thomas in der Begegnung heute direkt und persönlich an. Er macht ihm Mut zum Glauben.

Und er ermöglicht ein neues Sehen. Jesus öffnet Augen! Er spricht Thomas an und zeigt ihm seine Wunden. Er gibt sich zu erkennen – zweifelsfrei. Er lässt sich ergreifen.

Musik: Lateinischer Hymnus: „Adoro te devote“ - Canto Catolico

Leben für immer

Auferstehung – ewiges Leben! Gibt es das? Wie ist das?

„Lasst euch nicht verführen, es gibt keine Wiederkehr. Es kommt kein Morgen mehr“, schreibt, wettert Bertolt Brecht 1925. Für den Materialismus gibt es keinen Gott, es gibt nichts, das wir nicht schon kennen würden.

Ewiges Leben: Manche Schilderungen lassen es als zeitlich unendlich ausgedehnte Fortsetzung des Lebens auf der Erde erscheinen. Keine unbedingt beglückende Vorstellung, finde ich.

Anders die griechische Mythologie. Sie kennt den Fluss Lethe. Sein Name bedeutet „vergessen“. Wer stirbt, trinkt auf dem Weg in die Unterwelt aus seinem Wasser. Damit verliert er alle Erinnerung. Ewigkeit ohne Vergangenheit, ohne Ich. Die Unterwelt – ein Reich der Schatten, körperlos, dunkel. Die Gedanken der Religionen und Mythen zu einem Leben nach dem Tod sind vielfältig. Häufig sind sie düster besetzt.

Die Welt des Kinos spielt mit diesen und eigenen Ideen, mit Hoffnungen und Visionen. Da gibt es „Untote“, die nicht im Grab bleiben können. Der Spielfilm Ghost stellt den Tod als ein „Gehen ins Licht dar“. An manche Nahtoderfahrung erinnert das oder an Hieronymus Boschs Gemälde „Aufstieg der Seligen“, gemalt vor 500 Jahren.

Nichts davon schildern die Evangelien. Ihre Botschaft hat einen anderen Blickwinkel: Das Grab ist leer. In den Ostertexten gibt es keinen Leichnam, schon gar keinen wiederbelebten. Der Jesus, der Thomas begegnet, ist der, der an jedem Sonntag in der Gemeinschaft der Glaubenden als gegenwärtig erfahren wird. Er lebt: „Streck deinen Finger aus – sieh meine Hände, streck deine Hand aus, leg sie in meine Seite!“

Nein, das ist kein Gestorbener, der mirakelhaft erscheint. Das ist kein immerwährendes Leben so, wie es auf der Erde war. Das ist etwas Neues und doch Persönliches. „Sieh her, berühre meine Wunden!“ Für den Blick auf ewiges Leben lese ich das so: „Ich, der ich geworden bin, ich ganz persönlich, bin auch im Tod und bleibe darüber hinaus der, der ich geworden bin.“

Jesus behält und zeigt seine Wundmale: Dieses Leid gehört zu ihm, unverwechselbar, unauslöschlich, für immer. Sein Leben ist daran sichtbar und greifbar und doch von ganz anderer, ganz neuer Qualität.

In der Kirche der Benediktinerabtei Münsterschwarzach bei Würzburg haben die Erbauer eine monumentale Christus-Statue an der Ostwand platziert. Sie dominiert und prägt den Innenraum. Christus steht hier am Kreuz als Auferstandener, als Erlöser mit ausgebreiteten Armen. Seine Wundmale an Händen, Füßen und Seite sind deutlich zu erkennen. Doch der Künstler hat sie vergoldet.

In Japan kennen und pflegen die Menschen die alte Technik des Kintsugi: Zerbrochenes Porzellan reparieren sie mit Gold. Die Bruchkanten werden nicht versteckt, sondern hervorgehoben und veredelt. Die vermeintlichen Brüche werden gewandelt und gezeigt.

Sonntag für Sonntag feiern Christen in aller Welt Ostern. An jedem achten Tag, sind sie von Anfang an überzeugt, tritt Christus in ihre Mitte. Wie Maria von Magdala, wie der Apostel Thomas können wir Christus erkennen und ertasten – mit allen Sinnen und doch ganz anders als sonst.

Der Kontakt mit seinen gewandelten Wunden gibt uns Hoffnung auf ewiges Leben. Dort wird alles, auch das, was uns geschmerzt hat, was je misslungen ist, von Gott gewandelt, vergoldet, so dass es bleiben kann. Ostern – Leben veredelt für immer!

Musik: Johann Sebastian Bach - „Sinfonia“ aus der Kantate zum Sonntag Quasimodogeniti, BWV 42 - Akademie für Alte Musik Berlin

Musikauswahl: Schul- und Kirchenmusiker Dr. Paul Lang, Amöneburg

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