
Wegweiser in unsicheren Zeiten
In diesen Wochen herrscht unter uns Aufregung. „Werden wir Wege finden, die aktuellen Krisen gemeinsam zu meistern? Oder werden soziale Spaltungen und Krieg weiter zunehmen?“ Die Unsicherheit ist groß. Viele hoffen auf eine schnelle Lösung, auch wenn die meisten wissen: Es gibt keine einfachen Antworten. Es gibt nicht schwarz oder weiß, auch wenn manche das lautstark behaupten. Wie wird es weitergehen?
Jesus zieht in Jerusalem ein
Bei der Suche nach einer Antwort kann uns die biblische Geschichte helfen, die zum heutigen Palmsonntag gehört. Am ersten Tag der Karwoche erinnern wir uns daran, wie Jesus in Jerusalem einzieht. Jetzt wird sich entscheiden, was aus den Hoffnungen wird, die Jesus geweckt hat. Am Straßenrand stehen die Menschen und warten auf ihn: manche mit Vorfreude, andere mit Zweifeln oder Abwehr. Die ganze Stadt ist in Aufregung.
Jesus reitet auf einem Esel in die Stadt
Bei Jesus ist nicht viel von dieser Aufregung zu spüren. Er bleibt bei seinem Einzug zurückhaltend: Er kommt nicht mit einer großen Schar Bewaffneter. Er agitiert und mobilisiert nicht gegen seine Feinde. Er reitet auf einem Esel in die Stadt – kein neuer König hoch zu Ross, keiner, der um jeden Preis an die Macht will. Da zieht einer ein, der nicht auf Gewalt setzt, sondern sich auf Gott verlässt. Kann sein Weg in die Stadt uns Hinweise geben, wie wir gut durch die Krise kommen?
Musik: Johann Sebastian Bach, 1. Sinfonia (BWV 182)
"Wozu sendet mich Gott?"
Jesus zieht in Jerusalem ein; er fragt sich: Wozu sendet mich Gott? Als frommer Jude sucht er Antworten in der hebräischen Bibel. Auch wenn er mit anderen spricht, bildet Gottes Wort die gemeinsame Grundlage: „Ihr wisst, was geschrieben ist. Lasst uns darüber reden, wie das zu verstehen ist.“
Besonders wichtig sind ihm die Worte des Propheten Jesaja, der viel von einem Knecht Gottes erzählt. Ich stelle mir vor, wie Jesus auch beim Einzug nach Jerusalem einen stillen Dialog mit Jesaja geführt hat: „Was soll ich tun? Die Menschen erwarten so viel von mir – bei anderen spüre ich Widerstand, ja Hass. Was soll ich tun?“
Der erste Wegweiser
Für mich ist das der erste Wegweiser, den Jesus für uns auf dem Weg durch unsichere Zeiten aufstellt: „Fragt nach Gottes Wort!“
Vielleicht klingt in Jesus ein Lied aus dem Buch des Propheten Jesaja im 50. Kapitel, das er wahrscheinlich in den Lesungen im jüdischen Gottesdienst oft gehört hat. In ihm besingt der Gottesknecht, wie er einen Weg durch seine Krisen findet:
4 Gott, der Herr, hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. 5 Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. 6 Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
7 Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. 8 Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 9 Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.
Die Menschen jubeln Jesus zu
Beim Einzug in die Stadt Jerusalem hört Jesus den Jubel der Umstehenden; er sieht, wie sie mit Palmblättern winken und Kleidungsstücke auf den Boden legen. „Gelobt sei, der da kommt im Namen Gottes! Hosianna in der Höhe!“
Jesus scheint davon wenig beeindruckt. Vielleicht, weil er mehr hört als die anderen, weil Gott ihm das Ohr geöffnet hat, so wie dem Knecht Gottes. Jesus hört nicht nur den Jubel und die Begeisterung; er hört auch, wie andere ihn ablehnen, ja töten wollen. Er hört Lobeshymnen und Worte, die schmeicheln, Klagen und Bitten um Beistand, aber auch Hassparolen.
Jesus trifft in Jerusalem auf seine Gegner
Während der kommenden Tage wird er in Jerusalem auf seine Gegner treffen: die Händler, die selbst im Tempel zuerst an ihren Vorteil denken; die römischen Besatzer, die dieses kleine Volk am Rand der Zivilisation verachten und ausbeuten; die Menschen, die sich um ihres Vorteils willen mit den Herrschenden arrangieren. Vielleicht ahnt er auch schon, dass manche von denen, die jetzt jubeln, am Ende die Seite wechseln werden. Wenn sie merken, dass er nicht das bringt, was sie sich erhofft hatten, werden sie dann rufen: „Kreuzigt ihn!“?
Wie gelingt es, sich im Wirrwarr dieser Stimmen zu orientieren?
Musik: Antonio Salieri, Requiem c-moll, Hosanna
Wie gelingt es, sich im Wirrwarr dieser Stimmen zu orientieren?
Wieder klingt in Jesus das Lied an, dass der Gottesknecht vor langer Zeit angestimmt hat: Alle Morgen weckt Gott mir das Ohr, dass ich höre, wie die hören, die Gott folgen. Gott öffnet mir das Ohr; ich höre und weiche nicht zurück. Jochen Klepper hat dieses Lied in der Zeit des Nationalsozialismus nachgedichtet, um die Verfolgten, besonders seine jüdischen Mitmenschen zu trösten und zu stärken: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr. Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor.“
Der zweite Wegweiser
Wer sich in der Vielfalt der Stimmen orientieren will, muss innehalten. Das ist der zweite Wegweiser, den der Gottesknecht aufstellt. In den aufgeregten Debatten unserer Tage um Frieden oder Schulden gibt normalerweise ein Wort das andere; wenn du das tust, muss ich so antworten. Das geht zack-zack, so schnell, als gäbe es keine Alternative: Der beleidigt mich, ich halte dagegen; die, die um uns herumstehen, halten entweder zu dem oder zu mir; das schaukelt sich auf – und dann geht es zur Sache.
Innehalten, den Konflikt unterbrechen und nachdenken
Dagegen fühlt Jesus sich vom Lied des Gottesknechts ermutigt, den Konflikt zu unterbrechen: „Halte inne! Lass dich nicht von vermeintlichen Sachzwängen oder Feindbildern treiben. Gott wird dir den Weg weisen!“ Deshalb hat Jesus sich auf seinen Wegen regelmäßig zurückgezogen: in die Wüste oder die Einsamkeit der Berge – um in Ruhe nachzudenken, zu beten, sich zu orientieren. Das letzte Mal wird er am Gründonnerstag im Garten Gethsemane dazu Gelegenheit haben: „Ich will beten; bleibt hier und wachet mit mir“, ruft er seinen Freundinnen und Freunden zu. Er ringt mit den Stimmen, die auf ihn eindringen und in ihm sind: „Was soll ich tun? Fliehen, kämpfen, verleugnen, mich anpassen?“
Dem Wort Gottes eine Chance geben
Beim Innehalten entdecke ich in der Bibel nicht nur das, was ich auch vorher schon wusste. Die Chance wächst, dass ich höre, was ich nicht erwarte, was mich überrascht oder herausfordert. Deshalb: „Kurze Pause und einmal durchatmen!“ Dem Wort Gottes eine Chance geben, bevor das erste Wort aus meinem Mund herausgeht oder ich gar zurückschlage. Überlegen, was Jesus zu der Situation sagen würde; so wie er im stillen Dialog mit dem Propheten Jesaja gefragt hat: Was würde der Gottesknecht in meiner Lage sagen oder tun?
Musik: Hans Rudolf Zöbeley, „Er weckt mich alle Morgen“
Beim Einzug in Jerusalem geht es auch ums Reden
Beim Einzug in Jerusalem geht es nicht nur ums Hören, sondern auch ums Reden, nicht nur um die Ohren, sondern auch um die Zunge. Jesus ist zu den Menschen gesandt, um Worte zu verkünden, die trösten und ermutigen. Gott hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Menschen haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.
Die ersten, denen Gottes Wort gilt, sind die Müden. Das sind Menschen, die mit ihren Kräften am Ende sind; sie sorgen sich, wie es mit ihnen und ihren Familien weitergehen wird. Manche sind so erschöpft, dass sie verstummen, ohne sich aufzulehnen; andere klagen oder schreien – irgendwann sind sie heiser und kraftlos und müde – und wissen nicht mehr weiter. Zu diesen Menschen wird Jesus von Gott gesandt. Mit ihnen und für sie soll er sprechen.
Der dritte Wegweiser
Das ist für mich der dritte Wegweiser: Wer die Müden im Geist Gottes stärken will, muss mit ihnen ins Gespräch kommen. Was erzählen uns in diesen Tagen die Menschen, die zu uns geflohen sind: aus der Ukraine, aus Syrien, aus Afghanistan? Sie sind Menschen in Not, nicht Fremde, die man loswerden muss; sie sind oft sehr müde von dem langen Weg durch ungastliche Gegenden; sie haben in diesen Tagen Angst, wieder vertrieben zu werden.
Mit den Müden und Erschöpften reden und ihnen zuhören
Nicht über die Müden, sondern mit ihnen reden; ihnen zuhören und mit ihnen gemeinsam überlegen, wie sie neuen Mut fassen und Kraft schöpfen können: in dieses Miteinander weist das Lied des Gottesknechts aus dem Jesajabuch Jesus, auf diesem Weg folgen wir ihm. Mit Jesus sagen wir den Müden, dass Gott sie nicht vergessen hat, sondern mit ihnen geht. So übernehmen wir in der Krise Verantwortung füreinander und für unsere Welt. Da finden Menschen bei uns eine neue Heimat, Arbeit, Freundinnen und Freunde. Und wir merken: Im Vertrauen auf Gottes Beistand können wir etwas bewegen.
Der vierte Wegweiser
Auf dem vierten Wegweiser sehen wir das Kreuz – und das leere Grab. Er führt uns ans Ende der Karwoche, zum Karfreitag. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Jesus bleibt den Worten des Gottesknechts treu: Als ein Jünger ihn mit dem Schwert verteidigen will und einem der Soldaten, die Jesus gefangen nehmen wollen ein Ohr abschlägt, fordert er seinen Freund auf, das Schwert einzustecken und heilt das abgeschlagene Ohr (Lukas 22,51).
Jesus wehrt sich nicht gegen seine Festnahme
Jesus wehrt sich nicht gegen seine Gefangennahme; er erträgt Folter und Spott. Weder Flucht noch Gewalt sind für ihn eine Alternative. Er nimmt sich die Worte aus dem Lied des Gottesknechts zu Herzen und geht in den Tod, in den Tod am Kreuz.
Kann das auch mein Weg sein? Geht das: Nicht zurückbrüllen, wenn ich angeschrien werde? Nicht zurückschlagen, wenn einer mich bedroht? Entsteht daraus Frieden? Oder setzen sich dadurch Brutalität und Menschenverachtung durch?
Weil Jesus seinen Weg gegangen ist, können wir anders miteinander umgehen
Die Bibel erzählt uns, dass der Weg, den Jesus Christus gegangen ist, nicht unser Weg ist. Es ist ein Weg, den so nur Jesus Christus gehen konnte, der Sohn Gottes. Das entlastet mich, aber es eröffnet mir auch neue Möglichkeiten! Weil Jesus seinen Weg gegangen ist, können wir anders miteinander umgehen. Wenn in der Osternacht die neue Woche anbricht, feiern wir, dass Macht, Gewalt und Tod nicht das letzte Wort haben. Das Grab ist leer. Eine Tür geht auf, die Friedensbewegung Gottes zieht in unsere Welt ein.
Musik: Antonio Salieri, Requiem c-moll, Benedictus
Der fünfte Wegweiser
An der Tür, die seit Ostern offen ist, steht der fünfte Wegweiser, auf dem Gewaltfreiheit steht. Er öffnet unseren Blick für Alternativen, für die Suche nach Wegen aus der Gewalt, in Nachbarschaft, Beruf und Familie, aber auch im Großen, in der Politik.
Nach Wegen suchen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen
Im Vertrauen auf den Geist Gottes finden wir die Freiheit, uns nicht hineinziehen zu lassen in das Schema: Freund gegen Feind. Wir bekommen Mut, nach Wegen zu suchen, Konflikte zivil, ohne Gewalt zu lösen, Kompromisse auszuloten, Feinde zu versöhnen und Frieden zu stiften.
Das ist nicht leicht. Vor einigen Jahren hat sich eine Gruppe in der Vorbereitung auf die Konfirmation mit dem Thema „gewaltfrei handeln“ beschäftigt. Sie haben sich erzählt, wie sie Konflikte in der Schule erleben, was sie verletzt, wo sie miteinander kämpfen. Sie haben sich gefragt, ob es Alternativen gibt.
Auch Jesus hatte Angst, diesen Weg zu gehen
Sie haben entdeckt: Es ist nicht leicht und bequem, in Konflikten nach anderen, gewaltfreien Wegen zu suchen. Wer Alternativen ausprobiert, riskiert etwas. Auch Jesus hat Angst gehabt, als er seinen Weg gegangen ist, und hat Gott gebeten: Wenn es möglich ist, lass diesen Kelch an mir vorüber gehen.
Eine Konfirmandin hat erzählt, wieviel Angst sie hatte, als sie sich in der Klasse getraut hat, ein anderes Mädchen zu verteidigen, das immer wieder wegen ihres Gewichts ausgelacht wurde. „Werden sie jetzt mich aufs Korn nehmen?“
Ein Junge hat berichtet, wie er sich in einem Streit fürchtete, weil er nicht mitkämpfen wollte: „Werden mich die anderen lächerlich machen, wenn ich nicht zurückschlage. ‚Traut sich nicht, die Memme!‘“
Das Gottesknechtslied hat Jesus gestärkt; es will auch uns ermutigen: Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Gott macht uns mutig und frei
Gott stärkt mich! Hart wie ein Kieselstein wird mein Gesicht, damit ich genug Kraft habe, um auch Anfeindungen durchzustehen. Weil Gott mir beisteht, kann ich meine Fäuste öffnen, mein Herz weich machen und mit Christus Wege der Versöhnung suchen. Gott geht mit; Gott macht uns mutig und frei, nicht zurückzuweichen.
Fünf Wegweiser in unsicheren Zeiten: Hört auf die Worte der Bibel! Haltet regelmäßig inne! Kommt mit den Müden ins Gespräch! Vertraut darauf, dass Christus die Macht des Todes und der Gewalt überwunden hat! Sucht Wege, Konflikte ohne Gewalt zu lösen! Fünf Wegweiser ins Freie, in Gottes neue Welt!
Musik:Johann Sebastian Bach, 8. Chorus „So lasset uns gehen in Salem der Freuden“ (BWV 182)