
Mit Bach durch die Passionszeit
Viele musikbegeisterte Menschen werden sie in diesen Wochen vor Ostern wieder hören oder sogar selbst singen: die Passionen von Johann Sebastian Bach. Die Matthäus- und die Johannes-Passion, sie sind sicher die meist aufgeführten Werke in diesen Tagen. Auch ich habe schon Eintrittskarten für die Johannespassion, für eine Aufführung am Karfreitag in der Christuskirche in Mainz. Ich hab die Passionen auch schon selbst im Chor mitgesungen. Und es hat mich jedes Mal ungeheuer berührt. Die Leidensgeschichte Jesu kommt mir in diesen Klängen von Johann Sebastian Bach besonders nah. Und ich weiß: Das geht selbst Menschen so, die mit christlichem Glauben und mit Jesus sonst gar nicht so viel zu tun haben.
"Was für ein berührendes Stück"
Ich möchte deshalb heute, an diesem Sonntag in der Fasten- und Passionszeit, über Teile aus den Passionen von Bach sprechen. Über die Musik und die Botschaften, die für mich darin stecken. Ich will starten mit einem der berühmtesten Choräle dieser Passionsmusik.
Musik 1: Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“, Matthäus-Passion, J.S. Bach, No. 54 (CD: J.S. Bach St. Matthew Passion / Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, CD 2, Track 19).
Was für ein berührendes Stück, dieses „O Haupt voll Blut und Wunden“! In nicht weniger als vier Chorälen nimmt die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach dieses Stück auf. Wie ein roter Faden zieht es sich durch die Passion. Aber das Lied wird bis heute auch in vielen Gottesdiensten gesungen. Ein Bekannter hat einmal zu mir gesagt: „Wenn ich ‚O Haupt voll Blut und Wunden’ singe, dann ist Karwoche“. Ein anderer erzählt: „Wenn ich die Matthäuspassion von Bach höre, dann tauche ich richtig ein in diese Leidensgeschichte.“ Das geht mir auch so. Diese Musik bringt etwas in mir ins Schwingen. Und sie bringt diese Leidensgeschichte Jesu mit mir und meiner Person, meinem Fühlen in Verbindung.
Der Mensch am Kreuz ist ihm nicht egal
Schon die Melodie dieses alten Passionsliedes „O Haupt voll Blut und Wunden“ erreicht das. Eine Choralweise aus dem 17. Jahrhundert. Ruhig und getragen und mit vielen schmerzhaft klingenden Halbtonschritten. Der Text ist mir noch gar nicht bewusst, da tut die Melodie schon ihre Wirkung: Sie lässt mich ernster werden, traurig.
Aber auch der Text will mich nicht unberührt lassen. Er stammt von Paul Gerhardt, dem großen protestantischen Dichter des 17. Jahrhunderts. Die Wurzeln gehen sogar bis auf einen mittelalterlichen Hymnus zurück. Dieser Liedtext beschreibt den leidenden Jesus ganz und gar nicht neutral und distanziert. Der Mensch am Kreuz ist dem Sänger nicht egal.
Es hat etwas mit mir zu tun
Er besingt dessen Leid mit großem Mitleid und großer Nähe. Jesus ist ein vertrautes „Du“, das gleich am Ende der ersten Strophe sogar angesprochen wird: Gegrüßet seist du mir. Auch für den Komponisten Johann Sebastian Bach war selbstverständlich: Diese Leidensgeschichte ist nichts, was ich ganz neutral höre. Was ich mir vom Leibe halte. Das Sterben Jesu, so Paul Gerhardt wie auch Johann Sebastian Bach: Es hat etwas mit mir zu tun – mit meinem Leben und vielleicht auch mit meinem Sterben.
Musik 2: Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“, Matthäus-Passion, J.S. Bach, No. 62 (CD: J.S. Bach St. Matthew Passion / Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, CD 2, Track 27).
„Wenn ich einmal soll scheiden, dann scheide – du – nicht von mir.“ Ein „du“ ist der leidende Jesus in diesem Bachchoral und Kirchenlied. Und ein „ich“ spricht zu ihm, setzt sich in Beziehung zu ihm, bittet hier eindringlich um eine gute Sterbestunde. Die Musik bietet eine Offenheit: Wer immer mag, kann sich in dieses Lied mit einschwingen, kann sich ein Stück identifizieren mit diesem „ich“.
Eher ein ängstliches und unsicheres Folgen
In den Passionen von Bach ist nicht nur in den Chorälen von solch einem „ich“ die Rede, sondern vor allem auch in den Arien. Da kommentiert ein einzelner Mensch, was mit Jesus passiert zwischen Gethsemane und Golgota – und er oder sie nimmt Stellung, verhält sich dazu, ganz persönlich. Manchmal klingt das mitten in der Passion auch erstaunlich fröhlich, beschwingt. Zum Beispiel in der ersten Sopranarie der Johannespassion. „Ich folge dir gleichfalls“, heißt es da, „mit freudigen Schritten“. Vorher hat der Evangelist davon erzählt, dass Petrus und ein anderer Jünger Jesus nachgefolgt sind nach seiner Festnahme auf dem Weg zum Hohenpriester Kaiaphas – sicher kein besonders freudiges Folgen, eher ein ängstliches, unsicheres. Und nun diese heitere Arie. Aber man darf annehmen, auch wenn das für heutige Ohren etwas fremd klingen mag: Auch in dieser Heiterkeit ist das Leid nicht verdrängt und vergessen. Immer wieder heißt es in Bachs Chorälen: Auch im Leid ist Gott mir Hoffnung und Freud.
"Lass mich endlich los"
Wie das gehen kann, steckt für mich vor allem in der nächsten Textzeile der Arie: Ich lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht. Fast trotzig klingt das: Egal, was mir passiert, Gott: Ich halte an dir fest, ich lasse dich nicht los. Ein wenig erinnert diese Formulierung auch an eine Szene im Alten Testament. Jakob kämpft am Fluss mit einem Unbekannten, der sich später als Gott höchstselbst herausstellt. Am Ende dieses Kampfes, der eine ganze Nacht dauert, sagt der Unbekannte: Lass mich endlich los! Aber Jakob erwidert: Ich lasse dich nicht los, wenn du mich nicht segnest! (vgl. Genesis 22,23-31) Auch diese Bibelzeile hat Bach übrigens an anderer Stelle vertont: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!
In diesen Zeiten kann es sich lohnen
Ich kenne Menschen, für die diese alte, seltsame Formulierung in bestimmten Zeiten zum wichtigen Gebet geworden ist. In Zeiten, in denen sie mit Gott und mit dem Sinn des Lebens zu kämpfen haben. Weil eine schwere Krankheit sie niederwirft. Oder auch, weil sie sich einsam fühlen. Die alten Geschichten und Lieder scheinen zu sagen: In diesen Zeiten kann es sich lohnen, mit Gott zu kämpfen. Ihm trotz allem zu folgen, sozusagen auf den Fersen zu bleiben. Und ihm trotzig zu sagen: Ich lasse dich nicht. Ich erwarte noch etwas von dir, Gutes, Segen. In der Arie geht es weiter: Ich lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht. Auch das kann Gott anscheinend mitten im Leid sein: Segen, Leben, Licht. Die Sopranarie in der Johannespassion singt davon.
Musik 3: aus: Arie „Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten“, Johannes-Passion, Johann Sebastian Bach, No. 9 (CD: Johannes-Passion, Johann Sebastian Bach, Philipp Herreweghe / Collegium Vocale, Gent, CD 1, Track 9).
Dann...wird es immer lauter
Eine beschwingte Arie, mitten in der Johannespassion: Heiterkeit und Leid scheinen sich bei Bach nicht auszuschließen. In seiner Passion gehen manchmal Gegensätze eigentümliche Verbindungen ein. Schon im Eingangschor der Johannespassion ist das so: Von größter Niedrigkeit wird da gesungen – und ebenso von großer Herrlichkeit. Die Musik setzt diesen Gegensatz in Töne: Beim Thema Niedrigkeit geht die Melodie in die tiefsten Tiefen hinunter, wird leise und getragen – bei der Herrlichkeit dann schraubt sie sich in die Höhe hinauf, wird immer lauter. Ein Gegensatz zeigt sich so am Anfang der Passionsmusik, der auch schon im Text des Johannesevangeliums ganz zentral ist: Dieser Sohn Gottes kommt von den höchsten Höhen hinab bis in die tiefsten Tiefen des Menschseins. Und umgekehrt: Wenn er dort hängt am Kreuz, im größten Leid, dann ist er zugleich auch wieder der Erhöhte, der Herrscher. Wahrlich, dieser Gekreuzigte ist Gottes Sohn! So sagt es der Soldat am Schluss.
Das kann ein großer Trost sein
Dieser Gegensatz ist nicht so leicht nachzuvollziehen. Paradox, Glaubensgeheimnis kann man ihn auch nennen. Die Musik von Bach führt zumindest an ihn heran. Wenn ich diesen Eingangschor höre, „Herr, unser Herrscher“, dann ahne ich: Dieser Herrscher des Himmels hat wirklich alle Herrlichkeit aufgegeben, um ganz auf die Erde und zu den Menschen zu kommen. Das kann ein großer Trost sein, und Johann Sebastian Bach hat es wohl so verstanden: Gott kommt in unsere Niedrigkeit. Er kennt unser Leid. Er hat als Mensch gelitten wie wir. Hat vor Angst Blut und Wasser geschwitzt. Sich sogar von Gott verlassen gefühlt. Das ist kein Gott, der in den höchsten Höhen bleibt und nur gnädig hinab schaut auf das Menschengewimmel und seine Probleme. Es ist ein Gott, der sich erniedrigt, der ganz unten ist, in der größten Niedrigkeit. Auch deshalb können sich Menschen bis heute in ihrer Niedrigkeit an diesen Gott wenden. In dem sie rufen: Herr, erbarme dich! Gott, sei bei mir! Gib mir Kraft! Dreimal wird am Beginn des Eingangschor dieser Herr angerufen. Als göttlicher Herrscher, aber eben auch: als derjenige, der unsere Niedrigkeit kennt.
Musik 4: aus: Chor „Herr, unser Herrscher“, Johannes-Passion, Johann Sebastian Bach, No. 1 (CD: Johannes-Passion, Johann Sebastian Bach, Philipp Herreweghe / Collegium Vocale, Gent, CD 1, Track 1).
Dieser Kelch möge an mir vorübergehen
Jesus ist in die größte Niedrigkeit hinabgestiegen, so singt es der Eingangschor der Johannespassion von Johann Sebastian Bach. Der Gottessohn kennt menschlichen Schmerz und nicht zuletzt auch: fürchterliche Angst, Todesangst. Im Garten von Gethsemane ist er nicht der erhabene Herrscher, der sagt: Ich stehe dieses Leiden unerschütterlich durch. Ganz im Gegenteil. „Mein Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber.“ (Matthäus-Evangelium 26,39) So betet Jesus, zu Boden geworfen, am Abend vor seinem Leiden. Er geht nicht frohgemut und standhaft hinein in das grausame Leiden und Sterben, das ihn erwartet. Jesus hat Angst, er ringt mit dem Willen Gottes. Und auch, als er ihm zustimmt, geschieht das nicht überschwänglich: „Mein Vater, wenn dieser Kelch an mir nicht vorüber gehen kann, ohne dass ich ihn trinke, geschehe dein Wille.“ (Matthäus-Evangelium 26,42)
Was soll das denn alles, Gott?
Dein Wille geschehe. Das ist auch eine Bitte im Vaterunser. Und es ist die, mit der Menschen bis heute immer wieder ringen. Was soll das alles, Gott? Warum muss ich so leiden? Warum muss meiner Familie, meinem Freund das passieren? Was hat das für einen Sinn? Geht es nicht auch anders? Das sind Fragen, die Menschen sich erlauben dürfen. Schon Jesus damals hat Fragen an Gott gerichtet, er hat gekämpft mit Gottes Willen. Und sein Ja, zu dem er sich durchringt, klingt zaghaft: Wenn es denn nicht anders sein kann, dann geschehe dein Wille. Aus der Angst wird vorsichtig eine Einwilligung und eher zaghaft: Vertrauen.
Den will er nicht verlassen
Auch Johann Sebastian Bach verbindet in seiner Matthäuspassion das Ringen Jesu mit dem Ringen um Gottes Willen in seiner Gegenwart. „Was mein Gott will, das gescheh allzeit, sein Will der ist der beste.“ So beginnt der Choral, der unmittelbar auf Jesu Gebet am Gethsemane folgt. Die Gemeinde stimmt ein in das Gottvertrauen Jesu. Und der Choral endet mit den Zeilen: Wer Gott vertraut, fest auf ihn baut, den will er nicht verlassen.
Musik 5: Choral „Was mein Gott will, das gescheh allzeit“, Matthäus-Passion, J.S. Bach, No. 25 (CD: J.S. Bach St. Matthew Passion / Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, CD 1, Track 25).
Sie wollen den Menschen zu Tränen rühren
Die Leidensgeschichte Jesu: Sie kann mich berühren in meinem eigenen Leiden und Ringen. Sie kann mich aber auch Mitleid lehren. Kann den Blick richten auf das Leiden dieses anderen Menschen – und dabei Mitgefühl wecken, für ihn und für andere. Auch das ist ein Effekt einer Musik, die in besonderer Weise das Herz berührt. Die Choräle und Arien der Bachschen Passionen verhalten sich nicht neutral zur Leidensgeschichte Jesu. Sie wollen nicht berichten wie Nachrichten über ferne Katastrophen. Sie wollen den Menschen zu Tränen rühren. Und es ist ja tatsächlich so: Bis heute bekommen Menschen beim Hören dieser Passion Tränen in die Augen – nicht nur in den Gottesdiensten, sondern gerade auch in den Konzerten.
Ich soll zum Mitleid fähig sein
„Herzliebster Jesu“, so beginnt der erste Choral in der Matthäuspassion. Es ist ein Lied, das in den nächsten Wochen auch in vielen Gottesdiensten gesungen wird. Und doch ist der Text wohl vielen eher fremd. Fast zu pathetisch und persönlich wird der leidende Jesus da angesprochen. Aber ich denke, in solch eher ungewohnten Liedern liegt auch eine Chance: Sie können mich wirklich dazu bringen, Mitleid zu fühlen. Mit diesem Jesus, der damals am Kreuz so jämmerlich gestorben ist. Aber auch mit denen, die heute leiden. Die ihr Kreuz zu tragen haben. Menschen in meiner Nachbarschaft, in meiner Familie, Menschen in der Ukraine oder in Syrien. Ich soll mir auch ihr Leid nicht vom Leib halten, nicht so tun, als ginge es mich nichts an. Ich soll zum Mitleid fähig sein, vielleicht heißt es auch manchmal: mit den Menschen und über ihr Schicksal weinen.
Sie können mein Herz bewegen
Mitleid mit anderen, aber auch Trost im eigenen Leid: Die Passionen können all das in mir wecken. Sie müssen keine fremden Geschichten aus ferner Zeit bleiben. Sie können mein Herz bewegen, wenn ich sie höre in den Gottesdiensten und in den Konzerten der kommenden Zeit.
Musik 6: Choral „Herzliebster Jesu“, Matthäus-Passion, J.S. Bach, No. 3 (CD: J.S. Bach St. Matthew Passion / Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, CD 1, Track 3).