Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Unerwartete Wendung

Unerwartete Wendung

Vera Langner
Ein Beitrag von Vera Langner, Evangelische Pfarrerin, Darmstadt-Kranichstein
Beitrag anhören:

Heute Morgen will ich eine Geschichte erzählen, die ich spannend finde. Denn es geht um Recht und Gerechtigkeit, und die Frage, was hilft, wenn ein Konflikt zu eskalieren droht. Auch wenn diese Geschichte schon 2000 Jahre alt ist, macht sie mir Mut, mit unerwarteten Wendungen zu rechnen, gerade dann, wenn alles ausweglos und festgefahren scheint.

Verschiedene Vorstellungen von Jesus: Heilsbringer oder Aufschneider?

Denn die Menschen in Jerusalem waren sich damals nicht einig über diesen Jesus. Auf der einen Seite entsprach er den Vorstellungen von einem Heilsbringer, weil er Kranke heilte, auf der anderen Seite war er nicht der politisch machtvolle Messias, wie man ihn erwartete. Die einen hielten ihn deshalb für einen Aufschneider und Angeber, die anderen dagegen waren von seinen Worten und Taten überzeugt, setzten große Hoffnung in ihn.

Er war schwer zu greifen

Weil Jesus nicht so leicht zu greifen war, gab es Debatten und Gespräche über ihn, Auseinandersetzungen und Zwietracht unter den Menschen. Die Fronten verhärteten sich. Denn schließlich war es nicht egal, wer der Hoffnungsträger für eine bessere und friedlichere Zukunft sein sollte.

Sein Rückzug auf den Ölberg: Abstand gewinnen

In dieser spannungsvollen Atmosphäre zieht sich Jesus auf den Ölberg zurück, erzählt die Bibel. Auf der anderen Seite des Kidrontales in Jerusalem erhebt sich dieser Hügel mit Olivenbäumen auf eine Höhe von über 800 Metern und bietet einen großartigen Blick über die Stadt und den Tempelberg in ihrer Mitte. Abstand gewinnen, Kraft schöpfen, zur Ruhe kommen, dem Himmel näher sein, - vielleicht war es das, was Jesus mit diesem Berg verbunden hat. Den Abend und die Nacht hat er wohl auf dem Ölberg zugebracht.

Dann kommt er zurück in den Tempel

Frühmorgens aber kommt Jesus wieder in den Tempel, begibt sich mitten hinein in dieses Zentrum der göttlichen Gegenwart und der menschlichen Sehnsucht. Er ist da, wo Menschen nach Antworten suchen für ihre Lebensfragen. Und viele Leute versammeln sich auch an diesem Morgen wieder um ihn, wollen hören, was er zu sagen hat über Gott und die Welt und das Himmelreich auf Erden.

"Jesus setzte sich und lehrte sie“

„Jesus setzte sich und lehrte sie“, heißt es in der biblischen Geschichte. (Johannes 8,2b) Was dann passiert, war für alle eine ganz besondere Erfahrung. Die Menschen im Tempel waren so bewegt von dem, was sie da erlebt haben, dass sie diese Geschichte immer wieder erzählt und schließlich aufgeschrieben haben.

Ruhe, Kraft und Gottvertrauen resultierten aus der Nacht auf dem Ölberg

Und ich glaube, die Nacht auf dem Ölberg hat entscheidend dazu beigetragen, dass Jesus am nächsten Tag mit Abstand und Ruhe, mit frischer Kraft und Gottvertrauen für die Menschen da sein konnte. Dazu gleich mehr nach der Musik

Musik: Johannes Brahms, Brahms Klänge Op 66/1, In dunklen Träumen (Nils Mönkemeyer)

Die Ruhe der Nacht auf dem Ölberg ist vorüber. Seit dem frühen Morgen sitzt Jesus im Tempel von Jerusalem und erzählt den Menschen von Gott und wie sein Wille konkret werden kann im Alltag der Leute. Viele hören ihm gespannt zu.

Es kamen Pharisäer und Schriftgelehrte zum Tempel

Und dann kommen da plötzlich einige Pharisäer und Schriftgelehrte in den Tempel. Mächtige und angesehene Männer, die die jüdischen Gesetze in besonderer Weise beachten und durchsetzen. Es gab Pharisäer und Schriftgelehrte, die mit Jesus auf Augenhöhe diskutierten, um miteinander ein tieferes Verständnis für das Wort Gottes zu gewinnen.

Seine freiheitliche Haltung gegenüber den göttlichen Gesetzen eckte an

Andere aber ärgerten sich über diesen Wanderprediger aus Nazareth. Denn er sprach vor allem von Gottes Liebe und Gnade, und seine freiheitliche Haltung gegenüber den göttlichen Gesetzen war für diese Männer ärgerlich. Sie kämpften für Eindeutigkeit in Glaubensfragen. Unruhestifter und Querulanten wollten sie aus der Welt schaffen. Und Jesus ist in ihren Augen einer davon.

Es war ihr Ziel, Jesus eine Falle zu stellen

Die Männer, die an diesem Morgen in den Tempel kamen, wollen Jesus nun eine Falle stellen. Mithilfe der Gesetze Gottes wollen sie ihn verleiten, etwas zu sagen, was sie später vor Gericht gegen ihn vorbringen können.

Sie brachten ihm eine Frau: Sie wurde beim Ehebruch erwischt

Deshalb haben sie an diesem Morgen eine Frau mitgebracht. Sie stellen sie jetzt in die Mitte und sagen zu Jesus: „Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst Du? (Joh. 8, 4-5)

Was sagst du?

Was sagst Du? Die Frage der Männer klingt erst einmal vernünftig, sachlich und einleuchtend. Unter jüdischen Gelehrten war es üblich, sich über die Auslegung der göttlichen Gebote im konkreten Fall auseinanderzusetzen. Aber diese einfache Frage an Jesus ist ein taktischer Schachzug. Es geht den Männern gar nicht um ein gerechtes Urteil der Frau gegenüber. Die Männer, die an diesem Morgen gekommen sind, wollen juristisch gegen Jesus vorgehen und sie hoffen, er sagt jetzt etwas, was gegen gültiges Recht verstößt, aus Mitleid vielleicht der Frau gegenüber, oder weil er sich bei seinen Anhängerinnen und Anhängern nicht unbeliebt machen will.

Alle warten gespannt was passiert

Still ist es geworden im Tempelbereich rund um Jesus, stelle ich mir vor. Alle sind gespannt. Was wird er antworten? Und was würde ich antworten? Die Gesetzeslage scheint eindeutig: In den 10 Geboten heißt es: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Punkt! In einem biblischen Rechtstext heißt es dann weiter: Wenn jemand die Ehe bricht mit der Frau seines Nächsten, so sollen beide des Todes sterben.(3. Mose 20,10)

Die Brutalität dieser Texte erschreckt heute

An anderer Stelle wird es noch drastischer. Da wird gefordert: man soll die beiden Ehebrecher zum Stadttor hinausführen und dort zu Tode steinigen. Und zur Begründung heißt es dann: So sollst du das Böse aus deiner Mitte wegtun. (5. Mose 22, 22-24) Die Brutalität dieser Texte erschreckt heute. Gewaltanwendung und Todesstrafe sind zu Recht verboten.

Wenn alle weg sind die böse sind, dann wird alles gut sein: Ist das so?

Aber diese Vorstellung, die dahintersteht, ist auch heute bei vielen noch lebendig: Wenn alle weg sind, die böse sind, dann wird alles gut sein. Aber ist das wirklich so einfach? Jesus selbst hat mit dem Bösen gerungen, Das Böse ist auch Jesus vertraut. Er weiß, dass niemand sich selbst davon befreien kann. Sein wohl wichtigstes Gebet, das Vaterunser, endet deshalb mit der Bitte an Gott: „… führe uns durch alle Versuchungen hindurch und erlöse uns von dem Bösen.“ (Matthäus 6,13)

Die Liebe als "Waffe" gegen das Böse

Und weil Jesus weiß, dass das Böse nicht einfach aus der Welt geschafft werden kann, sucht er nach einem Weg, die Liebe Gottes für alle zugänglich zu machen. Er will jedem Menschen den Weg offen halten, auf falschen Wegen innezuhalten, nachzudenken und umzukehren. Das ist sein Weg, dem Bösen etwas entgegenzusetzen.

Er hätte auch anders reagieren können, aber er schweigt

Jesus könnte sich jetzt auf eine akademische Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten einlassen und erfolgreich argumentieren: „Warum habt ihr nur die Frau hergebracht und nicht auch noch den Mann, so wie es im Gesetzt gefordert wird?“ Oder: „Ihr wisst doch, dass hier auf dem Tempelgelände gar keine Steinigung stattfinden darf. Das Todesurteil kann nur vor der Stadtmauer vollzogen werden.“ Aber erst mal sagt Jesus gar nichts. Schweigen.

Was kann ich von diesem Schweigen lernen?

Vielleicht ein kluger Schachzug im Kampf mit dem Bösen. Nicht reflexartig und emotional reagieren, wie es im Alltag so oft passiert, sondern erst mal bei sich selbst bleiben und schauen, was mich wütend macht oder was mich ärgert. Wahrnehmen, welche Sorgen und Ängste mich umtreiben. Und dann Abstand gewinnen, um all das sortieren zu können.

Ganz bei sich selbst und bei Gott in der Stille: Er schrieb er auf die Erde

Das braucht Zeit, auch bei Jesus stelle ich mir vor. Deshalb ändert er jetzt seine Haltung. In der Geschichte wird das so beschrieben: „Jesus bückte sich nieder und schrieb auf die Erde“. (Johannes 8, 6b) Ich stelle mir diese Haltung vor: Die Wirbelsäule gerundet, der Kopf gesenkt, die Augen nach unten gerichtet, der Finger in Kontakt zum Boden. So ist Jesus in sich verkrümmt aber ganz bei sich selbst und bei Gott in der Stille.

Warum er schreibt, lässt sich nur vermuten

Was er schreibt, bleibt ein Geheimnis. Warum er schreibt, lässt sich nur vermuten: Vielleicht sucht er im Scheiben, in den Worten der Schrift nach Wahrheit und Weisheit. Vielleicht sucht er hinter den Buchstaben der Heiligen Schrift nach dem Willen Gottes, nach Gott selber, der den Menschen seine Gebote doch dazu gegeben hat, dass das Leben in der Gemeinschaft hilfreich geregelt werden kann, so geregelt werden kann, dass Leben möglich ist, nicht nur für die Starken sondern auch für die Schwachen.

Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein

Zeit vergeht. Aber die gelehrten Männer lassen nicht locker, bedrängen Jesus weiter mit ihrer Frage: „Was sagst du?“ Schließlich erhebt sich Jesus wieder. Er richtet sich auf, steht aufrecht inmitten all der Menschen und sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ (Johannes 8,7) Und er bückt sich wieder und schreibt erneut auf die Erde. Er ist wieder klein, gebückt, verletzlich. Er sieht nicht, was jetzt geschieht, sieht niemanden streng oder vorwurfsvoll an. Er ist einfach nur vertieft in diese geheimnisvolle Schrift vor ihm auf dem Boden. Und bei den Menschen ringsum klingen diese wenigen Worte nach in den Ohren, in den Herzen:„Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.

Musik: Joh. Seb. Bach, Siciliano, Bach 300 (German Brass)

Sie fragten sich, ob sie ohne Sünde sind

Es sind keine Steine geflogen damals im Tempel von Jerusalem. Es ist etwas anderes, etwas Wunderbares passiert. Alle, die gewaltbereit waren, bereit, die Frau zu töten,  - entscheiden sich, keine Steine zu werfen. Alle, die Jesus in die Enge treiben und anklagen wollten, sie lassen tatsächlich seine Worte durch ihre Ohren ins Herz fallen. Und durch das Herz hindurch in ihr Gewissen. Sie lassen sich darauf ein, prüfen sich selbst: Bin ich ohne Sünde?

Diese frommen Männer spüren auch manchmal etwas Böses in sich

Wahrscheinlich hat von diesen frommen Männern niemand Ehebruch begangen oder eine andere schlimme Straftat. Aber wenn sie ehrlich sind, spüren auch sie manchmal etwas Böses in sich: Da ist einer neidisch auf andere, die erfolgreicher sind. Einer sorgt sich nur um die eigene Macht und hat Angst, bedeutungslos zu werden. Ein anderer merkt, dass diese Frau mit ihrem Schicksal ihm völlig gleichgültig gewesen ist. Es scheint: Die gelehrten und frommen Männer erkennen an diesem Morgen: Auch sie brauchen etwas, was dem Bösen entgegensteht. Auch sie müssen spüren: ich kann auf falschen Wegen innehalten, nachdenken und umkehren.

Gottes Liebe zeigt mir: Das ist nicht das Ende

Recht und Gerechtigkeit, - ja! Die Gebote Gottes beachten, - ja! – Sie helfen, dass das Zusammenleben gelingt. Aber auch erleben: Nicht immer gelingt es. Manchmal mache ich Fehler, entscheide falsch, verletze andere, verliere mich selbst. Und dann brauche ich Gottes Liebe. Damit ich spüre und verstehe: Das ist nicht das Ende. Ich kann neu anfangen, einen anderen Weg einschlagen, es zukünftig besser machen und nach vorne blicken.

Jeder, der jetzt hinausgeht, bekennt sich schuldig

Im Tempel von Jerusalem wirft an diesem Morgen niemand einen Stein. Die Pharisäer und Schriftgelehrten legen stattdessen ein öffentliches Bekenntnis ab. Jeder, der jetzt hinausgeht, bekennt sich schuldig. Denn keiner wirft den ersten Stein. Was haben sie wohl mit ihren Steinen gemacht, die Männer damals? Zurückgesteckt in die Tasche bis sich erneut eine bessere Gelegenheit ergibt, Jesus zu beseitigen? Oder zurückgesteckt in die Tasche, um sich selbst daran zu erinnern, wie gefährlich ein vorschnelles Urteil sein kann?

Sie verließen nach und nach den Tempel

Die anderen Leute im Tempel von Jerusalem haben bei all dem aufmerksamen zugeschaut. Sie haben gebannt beobachtet, wie die einflussreichen, klugen und frommen Männer einer nach dem anderen den Tempel verlassen. Die Ältesten mit ihrer Lebenserfahrung sind zuerst gegangen, die Jüngeren haben sich ihnen dann allmählich angeschlossen. Ich stelle mir vor, dass die Männer an diesem Morgen schweigend den Tempel verließen, in sich gekehrt, vielleicht mit dem Blick zum Boden - vielleicht aber auch erlöst von bösen Gedanken und Plänen. 

Musik: Joh. Seb. Bach, Bach: Inventions & Partitas, Bach Inventionen Bwv 772-786, 787-801 & Partita Nr.2 (Janine Jansen)

Aber die Frau ist noch da

Die gelehrten und frommen Männer haben den Tempel verlassen, die Frau, die sie mitgeschleppt hatten, steht immer noch in der Mitte. Vor ihr Jesus. Er schreibt gebückt mit dem Finger auf den Boden. Dann erhebt er sich wieder und spricht nun die Frau an:

 „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?“ Sie aber sprach: „Niemand, Herr.“ Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“

Wo sind Männer hin?

Mit diesem schlichten Dialog endet die biblische Geschichte an diesem Morgen im Tempel von Jerusalem. Ganz nüchtern wird hier erzählt, wie Jesus dieser Frau einen neuen Weg zurück ins Leben ermöglicht. Gebote Gottes sind wertvoll und sollen eine Richtschnur fürs Leben sein. Aber wer sich schuldig gemacht hat und dazu steht, darf bei Gott mit Begnadigung rechnen. So hat es an diesem Morgen die Frau erlebt und mit ihr all die Menschen, die an diesem Morgen bei Jesus im Tempel waren.

Wie war wohl die Reaktion der Frau?

Ich frage mich: Ob die Frau anschließend getanzt hat im Tempel voller Freude? Oder ob sie Jesus die Füße geküsst hat voller Dankbarkeit oder einfach nur schamhaft weggehuscht ist - all das wird nicht erzählt. Ein offenes Ende. Vielleicht geht sie jetzt in den neuen Morgen mit guten Vorsätzen, vielleicht mit neuem Gottvertrauen.

Der Wunsch: Auch heute gewaltfreien Lösungen suchen und finden

Mich fasziniert diese Geschichte, weil sie mir zeigt, wie Menschen bewegt werden, das Böse mit Gutem zu überwinden. Sie bringt etwas zum Ausdruck von dem, was an anderer Stelle der Bibel gefordert wird: Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem (Römer 12,21). Ich wünsche mir und bete darum, dass auch heute Menschen in sich gehen und gewaltfreie Lösungen suchen und finden, dass auch heute wieder irgendwo Konflikte entschärft werden können, dass Menschen auch heute Worte finden, die wunderbare Wendungen möglich machen.

Musik: Giovanni Gabrieli, Canzone, Vom Himmel hoch, da komm ich her (Schweizer Blechbläser Collegium)

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren