
Von der Verschiedenheit der Kinder Gottes
Die Bibel ist doch immer wieder für Überraschungen gut! Kürzlich staunte ich nicht schlecht, als mir ein Abschnitt aus der Apostelgeschichte in einem völlig neuen Licht erschien.
Die Geschichte von der Taufe eines Kämmerers aus Äthiopien
Wahrscheinlich hatte ich die Geschichte von der Taufe eines Kämmerers aus Äthiopien schon im Kindergottesdienst kennengelernt. Jetzt aber erhielt sie für mich eine ganz neue Dimension. Und das lag an der Übersetzung. Die neue Bibelübersetzung, die ich in der Hand hielt, sprach hier nicht von einem Kämmerer aus Äthiopien, sondern von einem Eunuchen aus Äthiopien. Ein Eunuch in der Bibel! Davon hatte ich noch nie gehört.
Eine neue Bibelübersetzung: Eunuch statt Kämmerer
Gerne möchte ich Ihnen heute Morgen ein wenig von meiner exegetischen Entdeckungsreise erzählen: Was macht der Eunuch in der Bibel? Und was kann uns diese Geschichte heute sagen?
Musik: Quadro Nuevo, Goethes persische Reise, Titel 5 "Sei fröhlich"
Die Apostelgeschichte in der Übersetzung der Basis-Bibel
Die Geschichte von der Taufe des Eunuchen aus Äthiopien steht in der Apostelgeschichte im 8. Kapitel. Ich lese sie leicht gekürzt in der Übersetzung der Basis-Bibel. Da heißt es:
Philippus (einer von den sieben Diakonen) erhielt vom Engel des Herrn den Auftrag:
»Steh auf! Geh nach Süden zu der Straße, die von Jerusalem nach Gaza führt und menschenleer ist.«
Philippus stand auf und ging zur Straße. Dort war ein Mann aus Äthiopien unterwegs. Er war Eunuch und ein hoher Beamter am Hof der Kandake, der Königin von Äthiopien. Er verwaltete ihr Vermögen und war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten.
Jetzt war er auf der Rückreise. Er saß in seinem Wagen und las im Buch des Propheten Jesaja.
Der Heilige Geist sagte zu Philippus: »Geh hin und bleib in der Nähe des Wagens!«
Philippus lief hin und hörte, wie der Mann laut im Buch des Propheten Jesaja las. Philippus fragte: »Verstehst du eigentlich, was du da liest?«
Der Eunuch sagte: »Wie soll ich es verstehen, wenn mir niemand hilft?« Und er bat Philippus: »Steig auf und setz dich zu mir!«
Der Eunuch fragte Philippus: »Bitte sag mir, von wem spricht der Prophet hier – von sich selbst oder von einem anderen?«
Da ergriff Philippus die Gelegenheit: Ausgehend von dem Wort aus Jesaja, verkündete er ihm die Gute Nachricht von Jesus.
Als sie auf der Straße weiterfuhren, kamen sie an einer Wasserstelle vorbei. Der Eunuch sagte: »Dort ist eine Wasserstelle. Spricht etwas dagegen, dass ich getauft werde?«
[...]
Er befahl, den Wagen anzuhalten. Beide, Philippus und der Eunuch, stiegen ins Wasser, und Philippus taufte ihn.
Als sie aus dem Wasser herausstiegen, wurde Philippus vom Geist des Herrn fortgenommen. Der Eunuch sah ihn nicht mehr. Aber er setzte seinen Weg voller Freude fort.
Der Äthiopier ein Eunuch? Moderne Interpretation oder reißerischer Einfall?
Soweit der Abschnitt aus der Apostelgeschichte. Möglicherweise fragen Sie sich schon längst: Wie kommt es, dass früher lediglich von dem Kämmerer gesprochen wurde und hier nun plötzlich von einem Eunuchen die Rede ist. Ist das vielleicht nur eine modernistische Interpretation oder ein reißerischer Einfall?
Im Urtext steht "eunuchos"
Schließlich gilt: Noch in der revidierten Lutherbibel von 2017 als auch in der katholischen Einheitsübersetzung von 1980 wird der Äthiopier nur als Kämmerer bezeichnet. Wobei: Die Einheitsübersetzung macht immerhin hier eine Fußnote und verweist auf das entsprechende griechische Wort im Urtext des Neuen Testaments. Und das lässt m.E. hier keinen großen interpretatorischen Spielraum zu. Das originale griechische Wort lautet nämlich eunuchos!
Ich war perplex, als ich der Sache im Originaltext auf den Grund ging. Und interessant schien mir, herauszufinden, welchen Unterschied die wörtlichere Übersetzung – Eunuch statt Kämmerer - auf das Verstehen des ganzen Zusammenhangs hat.
Musik: Quadro Nuevo, Grand Voyage, "Antakya"
Ein Eunuch ist bei den orientalischen Fürsten der Wächter des Harems
Das Wort Eunuch kommt bei uns meistens im Zusammenhang mit einem orientalischen Harem vor. Der Vorsteher und Wächter des Harems ist in der Regel ein Eunuch. Für einen orientalischen Fürsten war es in alter Zeit eine Selbstverständlichkeit eine Vielzahl von Frauen zu haben. Auch für den biblischen König Salomo ist das bezeugt: Im 1. Buch der Könige heißt es darüber (wahrscheinlich aber doch mit orientalischer Übertreibung!), er habe 700 Hauptfrauen besessen und 300 Nebenfrauen.
Die Frauen des Fürsten lebten in dem Teil des Palastes, den man den Harem nannte. Und kein anderer Mann hatte Zutritt zu diesen Gemächern als allein der Gebieter – und eben der Mann, der hier die Aufsicht führte und dem man durch einen operativen Eingriff die Zeugungsfähigkeit genommen hatte. Dieser sog. Verschnittene war der Eunuch.
Auch andere hohe Staatsämter wurden mit Eunuchen besetzt
Doch war der Haremswächter in der Regel nicht der einzige Eunuch an einem orientalischen fürstlichen Hof. Vielmehr begegnete es oft, dass auch andere hohe Staatsämter mit einem Eunuchen besetzt wurden. Und so kam es, dass das Wort „Eunuch“ gewissermaßen auch als ein Titel für einen hohen Beamten verwendet wurde. Und genau das ist der Hintergrund für die Übersetzung mit dem Wort „Kämmerer“. Es bezeichnet hier einen Vermögensverwalter der äthiopischen Königin.
Jedoch: in dem Text aus der Apostelgeschichte verschleiert der Begriff „Kämmerer“ die Tatsache, dass es sich hier um einen verschnittenen Mann handelt. Und gerade diese Tatsache aber ist, wie wir sehen werden, für das Verstehen unseres Bibelabschnitts von allergrößter Bedeutung.
Nachdem wir nun die Sachlage geklärt haben, können wir uns jetzt dem Inhalt der Geschichte widmen. Und da gibt es nun nicht wenig zu staunen.
Musik: Quadro Nuevo, Goethes persische Reise, Titel 10 "Tanz der Sterne"
Der äthiopische Vermögensverwalter wollte in Jerusalem den Gott der Juden anbeten
Die Apostelgeschichte erzählt: Der äthiopischen Vermögensverwalter sitzt hoch auf seinem Wagen. Er kommt gerade aus Jerusalem und befindet sich am Anfang der langen Rückreise in das ostafrikanische Land. Der Grund für seinen Jerusalem-Besuch war: er wollte dort an der heiligen Stätte der Juden Gott anbeten. Der Äthiopier war also ein sog. Proselyt: er sympathisierte mit dem jüdischen Glauben, ohne selbst ein Jude zu sein.
Die Sehnsucht, die Nähe des lebendigen Gottes zu spüren, muss groß gewesen sein in diesem Mann. Sonst hätte er die Strapazen der sehr weiten Reise nicht auf sich genommen. Doch es ist fraglich, ob er, der Eunuch aus Afrika, in Jerusalem wirklich willkommen geheißen wurde und ob seine Sehnsucht dort gestillt wurde.
Sogenannte Entmannte oder Verschnittene durften nicht in den Tempel
Denn wahrscheinlich hat man ihn gar nicht in den Tempelbezirk hineingelassen. Das Gesetz des Mose verbot es nämlich sogenannten Entmannten oder Verschnittenen in die Gemeinde Gottes zu kommen. Wörtlich heißt es in 5. Mose 23,2: In die Versammlung des Herrn darf keiner aufgenommen werden, dessen Hoden zerquetscht sind oder dessen Glied verstümmelt ist. Das heißt: Eunuchen waren im kultischen Sinne unrein. Sie hatten sich von allem Heiligen fernzuhalten!
Der Äthiopier trifft auf den Christen Philippus
Und dieser wahrscheinlich an Heiliger Stätte zurückgewiesene Mann macht nun auf der Rückreise eine Erfahrung der Nähe Gottes, mit der überhaupt nicht zu rechnen war. Er begegnet dem frühen Christen Philippus. Der hilft ihm beim Verstehen des Jesajabuches, in dem der Äthiopier auf seinem Wagen liest. Und zwar so, dass er die Worte Jesajas mit der Geschichte Jesu in Verbindung bringt.
Philippus erzählt ihm die Geschichte Jesu
Philippus macht den Weitgereisten mit Jesus vertraut, nämlich: wie Jesus verachtet und verworfen wurde bis hin zum Tod am Kreuz. Und wie Gott sich zu Jesus bekannt hat und ihn aus dem Tod errettet hat. Gott hat sich auf die Seite dieses Verachteten gestellt. Diese Geschichte von Jesus war es, in der er sich offensichtlich selbst wiederfinden konnte.
Philippus tauft den Eunuchen
Und zu diesem Jesus und zu seiner Gemeinschaft möchte er nun dazugehören. Er bittet Philippus, ihn zu taufen. Und das tut Philippus ohne Zögern. Der Wagen hält. Beide steigen hinunter, und bei einer Wasserstelle, die sich da am Weg befindet, wird der Eunuch aufgenommen in die Gemeinschaft der Kinder Gottes. Und dann heißt es da zum Schluss: „Er setzte seinen Weg voller Freud fort!“
In dieser Geschichte gibt es viel zum Staunen: Denn was sich in der Taufe des äthiopischen Eunuchen ereignet hat, war in der jungen Geschichte des Christentums eine absolute Neuigkeit.
Die erste Taufe eines Nicht-Juden: Eine Neuheit!
Nie zuvor war nämlich jemand getauft worden, der selber nicht Jude war. Alle frühen Anhänger Jesu waren ja Juden gewesen. Und wer war dieser erste Nicht-Jude, dem diese Ehre zuteilwurde? Es war ein ausländischer, dunkelhäutiger Eunuch aus Afrika. Und dieser Umstand sollte uns für die Gegenwart zu denken geben.
Musik: Quadro Nuevo, Goethes persische Reise, Titel 6 "Locken haltet mich gefangen"
Alle Menschen werden als Kinder Gottes betrachtet– ohne Unterschied!
Die Geschichte von der Taufe des äthiopischen Eunuchen kann uns auf neue Weise verdeutlichen, wie das mit der christlichen Taufe gemeint ist. Nämlich: ALLEN Menschen gilt die Einladung Jesu – ohne Unterschied der Nationalität, des Aussehens oder des Geschlechts. Alle werden betrachtet als Kinder Gottes – ohne Unterschied!
Und darin drückt sich ein Wesensmerkmal des christlichen Glaubens aus. Der Apostel Paulus drückt es im Galaterbrief (3,28) so aus: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus."
Ein Grundprinzip des christlichen Glaubens
Die Gleichheit der Kinder Gottes wurde zu einem Grundprinzip des christlichen Glaubens – auch wenn sich manche christlichen Kirchen bis zum heutigen Tag schwertun, das anzuerkennen und so zu leben.
Alle Menschen sind vor Gott gleich. Diese Überzeugung bildet auch in ähnlicher Form das Fundament aller Demokratien. Alle Menschen haben dieselbe unantastbare Würde, und es gibt keinen Unterschied vor dem Gesetz. Darauf fußt jede liberale Demokratie.
Alle Menschen haben dieselbe Würde
Dass allen Menschen dieselbe Würde zukommt, das hat die anglikanische Bischöfin Mariann Edgar Budde vor kurzem in mutiger Weise zum Ausdruck gebracht. In dem multireligiösen Gottesdienst zur Amtseinführung von Donald Trump hat sie mit Nachdruck auf die Würde eines jeden Menschen hingewiesen hat.
Nachdem sie sich mit Nachdruck für geflüchtete Menschen stark gemacht hatte, kam sie auf die gefährliche Lage von sexuellen Minderheiten zu sprechen. Bischöfin Budde wandte sich direkt an Präsident Trump und sagte: "Im Namen unseres Gottes bitte ich Sie, haben Sie Erbarmen mit den Menschen in unserem Land, die jetzt Angst haben." In Familien in den USA fürchteten nun schwule, lesbische und transsexuelle Kinder um ihr Leben.
Die Lage für sexuelle Minderheiten ist gefährlich geworden
Aber nicht nur in den USA ist die Lage für sexuelle Minderheiten sehr gefährlich geworden. Auch in unserem Land ist die Hetze und Gewalt gegen homosexuelle und transsexuelle Menschen enorm angestiegen. Viele Menschen fühlen sich bedroht und von der Politik allein gelassen – oder gar von der Politik selbst bedroht. Die aktuellen Nachrichten aus den USA müssen einen da tief bekümmern.
Musik: Quadro Nuevo, Goethes persische Reise, Titel 10 "Tanz der Sterne"
Alle Kinder Gottes haben vor Gott dasselbe Ansehen
Alle Kinder Gottes haben vor Gott dasselbe Ansehen. Alle Menschen haben dieselbe Würde. Sexuelle Unterschiede sollen da keine Rolle spielen. Gerade die Geschichte von der bedingungslosen Annahme des afrikanischen Eunuchen – ausgedrückt in der Taufe! – mag uns da die richtige Spur weisen! Angenommen und aufgenommen in die große Familie Jesu konnte der Kämmerer seine Reise als freier und fröhlicher Mann fortsetzen.
Mögen alle Menschen in dieser Weise gewürdigt und geachtet werden! In der Kirche und in der Politik sollten wir uns dafür stark machen.Und wir alle gemeinsam sollten uns unserer hohen Würde als Kinder Gottes erfreuen.
Musik: Quadro Nuevo, Grand Voyage, "Die Reise nach Batumi"