
Mir Herz und Verstand: Zwei heilige Kanzler
Für alle. Mit Herz und Verstand!“ – Mit diesem Slogan haben die Kirchen im ganzen Land dazu aufgerufen, heute zur Bundestagswahl zu gehen. Auch bei uns in Hessen haben die katholischen Bistümer und die evangelischen Landeskirchen erklärt:
„Wir setzen uns dafür ein, Herz und Verstand zusammenzubringen, wenn wir gute Antworten auf komplexe Fragen finden wollen. Wir setzen uns ein für Menschenwürde, Nächstenliebe und Zusammenhalt. Wir setzen uns ein für Demokratie und gegen Extremismus. Wir setzen uns ein, dass Denken und Handeln auf das Wohl aller Menschen hin ausgerichtet sind.“
Demos und Kundgebungen
Viele Christinnen und Christen haben sich in den letzten Wochen an großen „Demos gegen Rechts“ und an Kundgebungen mit Lichterketten beteiligt. Bei uns in Gießen, wo ich lebe und arbeite, waren aus den Kirchengemeinden auch Pfarrerinnen und Pfarrer dabei: nicht immer in offizieller Funktion, oft eher privat, als Staatsbürgerinnen oder Wähler.
Manches Echo aus der Politik war anschließend einigermaßen unfreundlich. Wo es zum Beispiel von christlichen Gruppen Kritik am Kurs der Union in der Migrationspolitik gegeben hatte, da wurde beiden Kirchen in der Woche danach bei Wahlkampfveranstaltungen manchmal auch ziemlich lautstark mehr Zurückhaltung in politischen Fragen nahegelegt.
Sicher kann man in Sachfragen verschiedener Meinung sein. Ich finde es aber gut, wenn sich Menschen herausgefordert fühlen, im politischen Geschehen das Wort zu ergreifen. Auch Christinnen und Christen gewinnen schließlich aus der Beschäftigung mit ihrem Glauben ihre ethischen Überzeugungen. Und die bringen sie in den gesellschaftlichen Diskurs mit ein.
Zwei heilige Politiker
Heute, am Wahlsonntag, möchte ich in dieser Morgenfeier deshalb mal den Lebensgeschichten von zwei heiligen Politikern nachgehen. Beide waren in ihrer Zeit und in den Staatswesen, in denen sie gelebt haben, in hohen politischen Ämtern, nämlich als Kanzler, tätig.
Auch die Musik habe ich danach ausgewählt. Die folgende Chorkomposition von Heinrich Schütz stammt aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Sie ist ein gesungenes Gebet um Durchhaltevermögen und Zuversicht im Suchen nach richtigen Antworten in den Herausforderungen der Zeit:
„Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ,
ich bitt, erhör mein Klagen.
Verleih mir Gnad zu dieser Frist.
Lass mich doch nicht verzagen.
Den rechten Weg, o Herr, ich mein,
den wollest Du mir geben,
meinem Nächsten Nutz zu sein,
dein Wort zu halten eben.“
Musik 1: Heinrich Schütz: Chor „Ich ruf zu dir“ (SWV 326); aus: Kleine Geistliche Konzerte II, op. 9, Nr. 21 / CD: „Heinrich Schütz Kleine Geistliche Konzerte“, Wilhelm Ehmann / Solisten / Instrumentalisten, Label Cantate Musicaphon (C 57605), Track 14, 03:08
Gedenktag des Heiligen Willigis
Heute, am 23. Februar, steht im Kirchenkalender der Gedenktag des Heiligen Willigis. An ihn will ich heute am Sonntag der Bundestagswahl als ersten von zwei heiligen Kanzlern erinnern. Er gehörte zu den einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit. Er gilt als der Erbauer des Mainzer Doms. Willigis, geboren im Jahr 940, lebte allerdings noch nicht in einer Demokratie, sondern in einem Kaiserreich. Umso erstaunlicher war es, dass aus dem Sohn eines Wagners später ein Erzbischof und Reichskanzler wurde.
Die Legende erzählt, dass ihn schon in seiner Jugend „außerordentliche Geistesgaben, unermüdlicher Fleiß und tiefe Frömmigkeit“ ausgezeichnet hätten. Willigis wird als Kaplan an den Hof von König Otto nach Goslar berufen, erhält dort später die Kanzlerwürde und wird im Jahr 975 Erzbischof von Mainz.
Der Überlieferung zufolge, war Willigis auf seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen stolz und hat deswegen im Gedenken an seinen Vater ganz demonstrativ ein Wagenrad in sein Wappen gesetzt, und zwar, weil sich der Adel so darüber geärgert hätte, dass ein Priester mit bürgerlichen Wurzeln einen der wichtigsten Posten im ganzen Reich erhielt.
Ein weitblickender Kanzler
Das berühmte „Mainzer Rad“ ginge demnach auf den Handwerkersohn und Erzbischof Willigis zurück. Streng geschichtlich ist diese schöne Episode wahrscheinlich nicht haltbar. Aber sie illustriert treffend, dass Willigis wohl persönlich bescheiden blieb. Als Bischof, so wird erzählt, lag ihm neben der großen Politik die Seelsorge besonders am Herzen.
Seine Ämter und Aufgaben, heißt es, hätte er umsichtig und vor allem uneigennützig ausgeübt. Ein weitblickender und gewandter Kanzler sei er gewesen, der durch kluge Personalpolitik und ein festes Wertefundament für stabile Verhältnisse in Staat und Kirche sorgte.
Ein altes Gebet um politischen und sozialen Frieden, gerade in wirren Zeiten, wurde durch die Übersetzung und eine Choralfassung Martin Luthers bekannt. Der ursprünglich lateinische Text war schon zur Zeit des Willigis in alten liturgischen Büchern enthalten:
„Verleih uns Frieden gnädiglich,
Herr Gott, zu unsern Zeiten.
Es ist doch ja kein andrer nicht,
der für uns könnte streiten,
denn du, unser Gott, alleine.“
Hier ist es, in einer Chor- und Orchesterfassung aus dem 17. Jahrhundert vom böhmischen Barock-Komponisten Johann Zach: Da pacem domine, in diebus nostris! Gib Frieden, Herr, in unseren Zeiten!
Musik 2: Johann Zach: „Da pacem, domine“; aus: Offertorium in C-Dur „Terra tremuit“ / CD 2/2: „Johann Zach. Geistliche Musik“, Mathias Breitschaft / Mainzer Domchor / Mainzer Domorchester, Label Arte Nova (74321 54241 2), Track 26, 01:47
Thomas Morus
Aus dem Mainz des elften Jahrhunderts möchte ich Sie heute, am Sonntag der Bundestagswahl, weiter auf einen Sprung ins sechzehnte Jahrhundert mitnehmen, und zwar nach London, in die Hauptstadt des englischen Königreichs.
Dort wird Thomas Morus 1478 als Kind einfacher bürgerlicher Eltern geboren. In seinem recht wohlhabenden Elternhaus wurde er gläubig und auch zur Achtsamkeit und Einfachheit erzogen. In seiner frühen Jugend kam Thomas Morus als Page an den Hof des Erzbischofs von Canterbury. Von Anfang an lernte er so das Leben der großen Gesellschaft, aber ebenso das Milieu der humanistischen Gelehrten seiner Zeit kennen. Allerdings hat er sich in der feinen Gesellschaft und von allem höfischen Dünkel nicht verbiegen lassen.
Mit 14 Jahren geht er zum Studium an die Universität. Lange weiß er nicht, wie er sich danach weiter orientieren soll. Er überlegt, bei den Kartäusermönchen in London ins Kloster einzutreten, wendet sich dann aber den Rechtswissenschaften zu und eröffnet als verheirateter Mann und junger Familienvater mit später vier Kindern in London eine Anwaltskanzlei.
Schon zwei Jahre später wird er als Richter an das oberste Gericht berufen.
Thomas Morus als Vorreiter seiner Zeit
In Vielem war Thomas Morus seiner Zeit voraus: Nicht nur seinem Sohn, sondern auch seinen drei Töchtern ermöglichte er die beste erreichbare Bildung. Sein Haus in Chelsea wurde in dieser Zeit zum Mittelpunkt bedeutender Gelehrter und Künstler.
Mit der Regierungszeit von König Heinrich VIII. begann dann sein steiler Aufstieg im Staatsdienst. Er wurde ein angesehener Ratgeber und auch ein persönlicher Freund des Königs. Heinrich schätze seine Klugheit, sein immenses Wissen, seine diplomatischen Fähigkeiten und seine gesellschaftliche Gewandtheit sehr. Vor allem mochte König Heinrich aber die stete Heiterkeit und den tiefgründigen, treffsicheren und feinen Humor von Thomas Morus.
Lordkanzler Thomas Morus
1529 übertrug er ihm eines der höchsten Staatsämter, nämlich das des Lordkanzlers. Aber auch da blieb Thomas Morus ganz er selbst. Mitten in der Welt, mitten im Getümmel von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nahm er sein Christsein ernst und versuchte es im Alltag umzusetzen und zu leben, auch zuhause im Kreis der Familie. Er fiel in Kirche und Staat der damaligen Zeit mit seiner besonderen Frömmigkeit und seiner Konsequenz durchaus auf.
Als der König beschloss, sich kirchlich von Rom loszusagen und sich selbst zum Oberhaupt der Kirche von England auszurufen und alles, was Rang und Namen hatte, auf diese Linie zu vereidigen, da hatten Viele durchaus Bedenken. Aber es waren außer Thomas Morus nur wenige, die sie tatsächlich auch äußerten. Er aber notierte in dieser Zeit: „Ich habe nie daran gedacht, einer Sache zuzustimmen, die gegen mein Gewissen wäre."
Manches von seiner Lebenseinstellung und seiner Glaubenshaltung finde ich in einem Choral ausgedrückt, den Georg Philipp Telemann 1711 für eine seiner Lutherkantaten schuf. Darin heißt es:
„Willst du nun fein gut Christe sein, so musst du ernstlich glauben.
Setz dein Vertraun, darauf fest bau Hoffnung und Lieb im Glauben.
Allein durch Christ
Zu aller Frist,
dein Nächsten lieb daneben.
Das Gwissen frei, rein Herz dabei, das kein Kreatur kann geben.“
Musik 3: Georg Philipp Telemann: Choral „Willst du nun fein gut Christe sein“, aus Kantate „Es spricht der Unweisen Mund wohl“ (TWV 1:533a) / CD: Georg Philipp Telemann. Luther Cantatas“, Gotthold Schwarz / Bach Konsort Leipzig / Sächsisches Barockorchester, Label cpo (777 753-2), Track 16, 01:04
Thomas Morus' Lebensende
1532 legte Thomas Morus sein Amt als Lordkanzler nieder, verweigerte den Suprematseid, lehnte damit die Oberhoheit des Königs über die Englische Kirche ab und nahm deshalb eine mehrmonatige Kerkerstrafe auf sich. Umstimmen ließ er sich dadurch nicht. Drei Jahre später wurde er schließlich zum Tod verurteilt wurde und hingerichtet.
Thomas Morus war aber auch gegenüber den Missständen in seiner eigenen Kirche keineswegs unkritisch. In einer Art Zukunftsroman, den er 1516 in lateinischer Sprache veröffentlichte, erfand er die Insel „Utopia“, für die er sich eine in seinen Augen ideale Gesellschaftsordnung und eine ideale Kirche ausdachte.
Parallelen
Es ist nicht zufällig, dass das Leben und die Religion der Utopier auffällige Parallelen haben mit dem Leben der Urchristen in der biblischen Apostelgeschichte und auch mit der christlichen Tradition der Bettelorden. Die utopische Staatsreligion ist dabei tolerant und vielfältig. Die Priester in Utopia werden von der Gemeinde gewählt. Üblicherweise sind sie verheiratet. Auch Frauen können dort Priesterin werden. An politischen Entscheidungsprozessen sind sie als hoch angesehene Sachverständige maßgeblich beteiligt.
Priesterinnen und Priester leben nicht privilegiert, sondern stehen auf derselben Stufe mit allen BürgerInnen, allerdings sind sie sehr gebildet. Aber, so schreibt Thomas Morus: Vor allem sind sie „außerordentlich fromm und deshalb sehr gering an Zahl.“
Dieses Kirchenideal kann auch für heute eine Inspiration sein: Denn eine Kirche, die ihre Ursprungsinspiration aus dem Blick verliert, die bekommt mit der Zeit ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Eine bessere Welt ist möglich
Thomas Morus hat seine Utopie deshalb nicht nur als eine phantastische Zukunftsvision geschrieben, sondern eher als eine Art „Gewissens-Spiegel“ für die Gegenwart. Er will seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ermutigen, sich in Staat und Kirche für eigene Visionen und Wünsche ehrlich starkzumachen, denn er meint: Eine andere, eine bessere, sozialere, nachhaltigere Welt ist möglich.
In einem gesungenen Gebet, das Carl Philipp Emanuel Bach 1758 vertont hat, klingt die Zuversicht mit, dass wir Menschen mit Herz und Verstand an solch einer besseren Welt mitwirken können. Darin heißt es:
„Ich bitte nicht um Überfluss
und Schätze dieser Erden.
Lass mir, soviel ich haben muss,
nach deiner Gnade werden.
Gib mir nur Weisheit und Verstand,
dich, Gott, und den du gesandt,
und mich selbst zu erkennen.“
Musik 4: C.P.E. Bach: Lied „Bitten“; CD „Carl Philipp Emanuel Bach. Johann Christoph Friedrich Bach. Geistliche und weltliche Lieder“, Gotthold Schwarz / Sabine Bauer, Label Capriccio / Delta Music GmbH (10 856), Tack 12, 02:34
Die heutige Welt im Vergleich zu damals
Wir leben heute in anderen Zeiten als damals der heilige Willigis und der heilige Thomas Morus, und das finde ich gut: In einer Demokratie ist die Verantwortung für ein gelingendes Zusammenleben auf viele Schultern verteilt. Und jede und jeder einzelne kann und soll sich einbringen, mindestens mit seiner Stimme bei der Wahl.
Wenn ich nachher im Wahllokal meinen Stimmzettel abgebe, dann treffe ich dort bestimmt auch wieder das eine oder andere bekannte Gesicht aus der Nachbarschaft. Und ich bin froh, dass wir alle heute mitentscheiden können, wem für die nächsten Jahre hohe Staatsämter und Parlamentssitze anvertraut werden.
Selbstverständlich ist das nicht.
Zum Glück setzen sich immer wieder Demokratinnen und Demokraten in Politik, Gesellschaft und Kirche nach Kräften ein: Für die Menschenwürde, für ein friedliches Zusammenleben. In unserem Land, in Europa und weltweit.
Und ich wünsch mir, auch über den Wahlsonntag hinaus, dass möglichst viele in ihrem Alltag kräftig und mit Leidenschaft dabei sind.
Musik 5: J.S. Bach: Choralbearbeitung „Hilf, Gott, dass mir’s gelinge“ (BWV 624); CD 7/12 Helmut Walcha: Bach. The Organ Works, Label Archiv Produktion Polydor International GmbH (463 719-2), Track 26; 01:33