
Die Frage nach der Gerechtigkeit
„Mit Sicherheit mehr netto vom brutto“, oder: „Fleiß muss sich wieder lohnen“ oder „Du verdienst mehr“. Diese Slogans sind zurzeit auf Wahlplakaten zu lesen. Das zeigt: Gerechtigkeit ist ein Thema in den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl. Alle großen Parteien haben sich Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben und hoffen, damit Wähler zu überzeugen. Und wer wäre nicht für mehr Gerechtigkeit?
Was ist gerecht?: Die Meinungen darüber sind unterschiedlich
Nur: was heißt denn mehr Gerechtigkeit? Da sind die Meinungen durchaus unterschiedlich. Wie hoch muss zum Beispiel ein gerechter Mindestlohn sein? Oder wie groß muss der Abstand sein zwischen Sozialleistungen, die jemand von Staat bezieht, und dem Lohn, den andere für ihre Arbeit bekommen? Und ist es gerecht, wenn reiche Menschen mehr Steuern zahlen sollen als bisher, damit andere entlastet werden? Darüber streiten nicht nur die Parteien im Wahlkampf.
Schon Kinder haben ein feines Gespür für das, was gerecht ist
Schon Kinder haben ein feines Gespür für das, was in ihren Augen gerecht ist. Fragt man in einer Schulklasse, sind sich alle einig: Die Lehrerinnen sollten alle gleichbehandeln. Aber wenn am Ende eines Schuljahres alle die gleiche Note bekämen - ganz egal wie sie mitgearbeitet und was für Leistungen sie erbracht haben – da würden die meisten doch protestieren.
Was ist also gerecht?
Was ist also gerecht? Diese Frage betrifft ganz viele Bereiche unseres Lebens. Aber sie ist nicht leicht zu beantworten. Das zeigt sich auch in einer Geschichte aus der Bibel, in der es um Gerechtigkeit geht. Auch die hat Streitpotential und ich würde gerne dazwischenrufen: Das ist doch unfair! Und gleichzeitig verstehe ich durch sie etwas mehr über Gerechtigkeit – von Gott und uns Menschen.
Musik 1: Jean Francaix, Divertimento, Toccatina, Palette (Carré-Ensemble)
Auch die Jünger von Jesus haben darüber gestritten was gerecht ist
Was ist gerecht? Darüber haben auch die Jüngerinnen und Jünger von Jesus gestritten. Jesus hat dazu eine Geschichte erzählt. Sie steht in der Bibel im Matthäusevangelium (Matthäus 20, 1-16):
„Denn das Himmelreich gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg.
Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. 6Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg.
Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben.
So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein
Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin? So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“
Jedem das, was er verdient
Wenn ich diese Geschichte höre, bin ich schnell bei denen, die den ganzen Tag gearbeitet haben. Die „Leistungsträger“, die angepackt und so viel geschafft haben. Ihr Ärger ist verständlich. Es kann doch nicht angehen, dass sie den ganzen Tag ackern und am Ende genauso viel Gehalt bekommen wie die, die nur die halbe Leistung bringen oder noch weniger. So etwas verletzt mein Gerechtigkeitsempfinden. Das sagt: Gerecht ist: Jedem das, was er verdient. Ein solches Entlohnungsverfahren wie in dieser Geschichte entwertet doch Leistung. Wenn es sich letzten Endes nicht auszahlt, dass ich meine Arbeit fleißig und gut mache - was ist sie dann noch wert?
Über die getane Arbeit freuen gehört dazu, aber auch der gerechte Lohn
Natürlich macht es mir auch Spaß, etwas zu leisten. Und wenn ich nach getaner Arbeit auf das zurückschaue, was ich geschafft habe, dann kann ich mich daran freuen. Und es macht mich auch stolz, wenn ich mit anderen mithalten kann. Wenn ich beweisen kann: Ich leiste genauso viel wie sie – oder vielleicht sogar mehr. Da kommt es nicht nur auf den Lohn an, den ich dafür bekomme. Aber er ist eben auch nicht unwichtig. Er ist auch eine Anerkennung für meine Leistung. Deshalb kann ich die Ganztagesarbeiter in der Geschichte gut verstehen, die sich beim Arbeitgeber beschweren: „Du hast die anderen mit uns auf eine Stufe gestellt!“
Musik 2: Paul Taffanel, Allegretto grazioso, Palette (Carré-Ensemble)
Die Arbeiter beschweren sich, weil der Arbeitgeber anderen denselben Lohn zahlt, obwohl sie weniger gearbeitet haben. Ich kann ihre Sicht verstehen. Aber ich kann auch versuchen, die andere Perspektive in der Geschichte einzunehmen. Ich schaue auf die, die erst später Arbeit finden, zum Teil erst kurz vor Schluss.
Wer weniger arbeitet muss sich finanziell einschränken
Diese Perspektive kennen auch viele Menschen heute in unserem Land. Manche können nicht voll arbeiten. Sie sind nur eingeschränkt leistungsfähig. Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Manche pflegen Angehörige oder sind selbst krank. Andere finden einfach keine Stelle – ihnen geht es wie den Arbeitern in der Geschichte. Die Menschen hier bei uns müssen sich zwar in der Regel nicht darum sorgen, ob sie morgen noch genug zum Leben haben. Aber sie müssen sich einschränken; manche müssen gar ihr Leben einschneidend verändern, sich etwa eine kleinere Wohnung suchen, auf kleine Freuden wie Kino oder Schwimmbad verzichten, und hoffen, dass nicht die Waschmaschine kaputt geht. Und mit den Kindern mal eine Pizza essen gehen – das bleibt für sie die ganz große Ausnahme. Was das wirklich bedeutet, das kann wohl nur verstehen, wer es selber erlebt hat.
Aufatmen nach langer Arbeitssuche
Die Arbeiter in der Geschichte, die mittags noch auf dem Marktplatz stehen, die wissen ganz genau, was das bedeutet. Sie sind nicht faul oder arbeitsunwillig. Sie wollen arbeiten. Aber sie finden keine Arbeit. Es gibt ihnen keiner eine Chance. Jeden Tag dasselbe. Dieselbe Hoffnung: Vielleicht klappt's diesmal. Und dieselbe Enttäuschung, wenn es wieder nichts geworden ist. Ein Aufatmen heute, wo sie wenigstens für den Rest dieses Tages arbeiten können. Sie wissen: „Was wir heute verdienen, wird zwar nicht reichen für uns und unsere Familien. Aber besser als gar nichts ist es immerhin.“
Lohnauszahlung nach dem Motto: Jedem das, was er braucht
Am Ende des Tages erleben sie die große Überraschung. Alle Arbeiter bekommen ihren Lohn ausgezahlt. Aber nicht nach der Devise: Jedem das, was er verdient hat. Sondern nach dem Motto: Jedem das, was er braucht. Alle Arbeiter bringen am Ende dieses Tages genug mit nach Hause, dass ihre Familien über die Runden kommen. Heute gibt es genug zu essen für alle! Ich kann mir vorstellen, wie überrascht und glücklich diese Arbeiter waren. Aber auch, wie sie die ärgerlichen und neidischen Blicke der anderen im Rücken gespürt haben. Vielleicht war ihnen das aber egal. Einmal nicht zu den Letzten gehören! Einmal nicht leer ausgehen! Wenn's doch öfter so zuginge in der Welt! Aber: Ist das dann noch gerecht?
Musik: Chiaccona (arr. A. Wolf and H. Siegmeth, Chiaccona, Winterreise (A. Wolf and H. Siegmeth)
Zwei Perspektiven in einer Geschichte
Wenn's doch so öfter zuginge! - und: Was ist denn daran gerecht? Beide Perspektiven stecken in dieser Geschichte. Und noch eine dritte: Ich möchte den Blick auch auf den Weinbergbesitzer richten. Ich finde es bemerkenswert, wie sich der Weinbergbesitzer verhält. Als er die ersten am Morgen einstellt, versucht er nicht, die Löhne zu drücken. Er bietet einen fairen Lohn an. Er sagt den Arbeitern nicht:
„Wenn ihr bei mir arbeiten wollt, dann aber für 10% unter Tarif. Wenn ihr euch darauf nicht einlasst - bitteschön! Es gibt genug andere, die für euch einspringen würden!“
Der Weinbergbesitzer bietet einen fairen Lohn. Und das ist so viel, wie die Arbeiter brauchen, um mit ihren Familien über die Runden zu kommen. Und genau das zahlt der Weinbergbesitzer am Abend. Er erfüllt seine Verpflichtung, so wie die Arbeiter ihrer Verpflichtung nachgekommen sind.
„Ich will euch geben, was recht ist“
Den Arbeitern, die später eingestellt wurden, verspricht der Weinbergbesitzer: „Ich will euch geben, was recht ist“. Alle hatten damit gerechnet, dass das eben entsprechend weniger sein würde als ein Silbergroschen. Doch der Weinbergbesitzer rechnet anders. Er erklärt: „Ich kann mit meinem Geld doch machen, was ich will. Und ich will niemandem weniger geben, als ihm zusteht; aber allen das, was sie brauchen.“
Wenn Gnade wichtiger ist als Gerechtigkeit
Ich stelle mir vor, wie die frühen Arbeiter dastehen: Ihr Gerechtigkeitsempfinden ist verletzt. Sie fühlen sich irgendwie betrogen. Sie pochen auf ihre Leistung. Aber der Weinbergbesitzer hält ihnen seine Güte entgegen. Er will nicht ihre Leistung herabwürdigen; und er will auch nicht die Leistung der anderen überbewerten. Er sagt: „Bei meiner Entscheidung ging es gar nicht um Leistung, sondern um das, was einer braucht. Versucht doch mal, das ganze aus dieser Perspektive zu sehen.“ Und er stellt am Schluss den ersten eine Frage: „Seid ihr deswegen so sauer, weil ich so großzügig bin? Weil ich euren Vorstellungen von Gerechtigkeit eine andere entgegensetze?“
Wo stehe ich? Eine Einladung zum PErspektivwechsel
Jesus erzählt in der Geschichte nicht, ob sich die Ganztagesarbeiter auf diese Perspektive einlassen. Und ich stehe vor der gleichen Frage: Wo finde ich mich in dieser Geschichte wieder? Zähle ich mich eher zu den Ersten oder zu den Letzten? Und was bedeutet diese Art der Gerechtigkeit für mich? Leicht fällt mir der Perspektivwechsel jedenfalls nicht. Aber ich ahne: Meine menschliche Vorstellung von gerecht und ungerecht passt hier nicht ganz. Es geht um Gerechtigkeit, die anders ist. Jesus hat mit dieser Geschichte etwas von Gott erzählt. Davon, wie es bei Gott zugeht; wie in seinem Himmelreich Gerechtigkeit aussieht.
Musik: Benjamin Godard, op. 116 Allegretto, Palette (Carré-Ensemble)
Wer bin ich in der Geschichte?
Wo stehe ich in dieser Geschichte? Diese Frage kann ich gar nicht ein für alle Mal beantworten. Vielleicht mag das von Zeit zu Zeit wechseln. Je nachdem, unter welchem Gesichtspunkt ich mich selber betrachte und einschätze. Da tut einer im Beruf seit Jahren seine Arbeit. Ist pünktlich und zuverlässig. Er macht seine Sache gut. Man kann sich darauf verlassen: Was er anpackt, das bringt er auch ordentlich zu Ende. Das Gehalt stimmt. Aber wenn er daran denkt, was seine Firma tut, um neue Leute zu bekommen… Denen bietet man von Anfang an Zusatzleistungen an, auf die er lange hat warten müssen.
Was ich am Fließband lernte
Als Student habe ich in einer Fabrik im Akkord gearbeitet. Am Fließband. Neben denen, die das schon immer gemacht haben. Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber so schnell und so gut wie sie war ich nicht. Manchmal durfte ich dann am Ende vom Band bei der Verpackung arbeiten. Da war der Zeitdruck nicht ganz so groß. Da standen auch die anderen, die das Tempo vorne nicht mehr so gut mithalten konnten. Alle am Band bekamen den gleichen Lohn. Was ist gerecht? Jesu Geschichte von den Arbeitern im Weinberg zeigt mir: Das ist eine Frage der Perspektive. Sie verlockt dazu, diese Perspektive ruhig einmal zu wechseln. Wenn mir das gelingt, verändert sich mein Blick auf Gerechtigkeit und auf die Frage, was für mich den Wert eines Menschen ausmacht. Welche Rolle für mich dabei Leistung und Arbeit spielen.
Wertvoll ohne Leistung: Was den Menschen wirklich ausmacht
Menschen, die nicht arbeiten können - aus welchem Grund auch immer - fühlen sich oft wertlos und nutzlos. Sie gelten als nicht leistungsfähig und haben in der Arbeitswelt kaum noch eine Chance. Mancher schaut deshalb auf sie herab und urteilt vorschnell. Leistung bringen scheint für viele das Wichtigste zu sein. Das, was allein zählt. Aber sie macht doch nicht den Wert eines Menschen aus. Der hängt allein daran, dass Gott jedem Menschen einen unvergleichlichen Wert zugesprochen hat. Oder um in der Geschichte zu bleiben: Der Wert ist immer der gleiche, egal wie lange ein Mensch arbeitet oder wie viel er leisten kann.
Menschliche Gerechtigkeit: Warum in der Gesellschaft Leistung zählt
Mit dieser Vorstellung lässt sich auch die Frage nach der Gerechtigkeit noch einmal anders betrachten. Ganz oft gilt in unserer Gesellschaft das Prinzip: Gerecht ist: Jedem das, was er verdient. Ich nenne diese Gerechtigkeit jetzt einfach mal: die menschliche Gerechtigkeit. Die ist natürlich wichtig, damit menschliches Zusammenleben gelingt. Diejenigen, die etwas leisten können und auch gerne leisten wollen, die sollen dafür belohnt werden. Die sollen Anerkennung erhalten für das, was sie tun. Es muss sich auch wirtschaftlich lohnen, zur Arbeit zu gehen und sich anzustrengen.
Der menschlichen Gerechtigkeit steht die Gerechtigkeit Gottes gegenüber
Und Schüler wollen natürlich eine gerechte Bewertung, aber nicht die gleichen Noten. Denn sie müssen ja auch wissen, wo sie stehen; was sie schon gut können – und wo sie noch zulegen müssen. Ob ein Notensystem von eins bis sechs dafür das richtige Mittel ist, darüber kann man sicher streiten. Und Lehrerinnen kennen zum Glück auch andere Wege, den Kindern ihren Wissenstand zu vermitteln. Längst gilt in der Schule nicht immer nur „Jedem das, was er verdient.“ Lehrkräfte schauen auch darauf, was der oder die Einzelne braucht. Und das ist gut so. Für mich zeigt es, dass das Prinzip „Jedem das, was er verdient“ nicht unwidersprochen bleibt. Weil dieser menschlichen Gerechtigkeit die Gerechtigkeit Gottes gegenübersteht. Und die will jedem Menschen zukommen lassen, was er braucht. Sodass jeder genug hat zum Leben. Genug Geld, genug Anerkennung, genug Wertschätzung.
Was der andere wirklich braucht
Vor uns liegt eine Zeit mit wichtigen politischen Entscheidungen: Welcher Mindestlohn und welche Sozialleistungen sind angemessen? Welche Steuerlast soll man welchen Gruppen auferlegen? Wen muss man entlasten? Das sind gewiss schwere Entscheidungen. Ich glaube, es ist gut, wenn da neben der menschlichen Gerechtigkeit auch immer die Gerechtigkeit Gottes bedacht wird. Von dieser Gerechtigkeit lebe ich immer auch. Denn ich gehöre eben auch manchmal zu den Letzten, die Gott zu den Ersten macht. Und dann bin ich froh über den Perspektivwechsel: Was unter uns Menschen als gerecht gilt, das erscheint aus Gottes Perspektive auf einmal nicht mehr selbstverständlich. Und das verändert auch meinen Blick: Was ist es, das der andere braucht?
Musik: keine Angabe, Prélude, Triomotion-Silverwood (Triomotion)