
Leben ist Brückenschlagen
„Einmal über die Golden Gate Bridge joggen“ das war immer mein großer Traum. Ich habe ihn mir erfüllt - vor vielen Jahren. Auf dem Fußgängerstreifen, neben sechs Fahrspuren für die Autos, bin ich die gut 3 Kilometer einmal hin, einmal zurück über die Golden Gate Brücke gelaufen. Zugegebenermaßen war das kein romantisches Erlebnis: die Luft nicht die beste und ziemlich laut war es auch. Aber mich begeistern Brücken.
Die Golden Gate Bridge - Ein Meisterwerk der Baukunst
Und die Golden Gate Bridge in San Francisco ist für mich eine besonders schöne Brücke. Mit ihrer erdfarbig orangen Rostschutzfarbe leuchtet sie weit übers Land und bietet einen kräftigen Kontrast zum tosenden Wasser des Pazifiks unter ihr. Zwischen zwei Pfeilern -sogenannten Pylonen- spannen sich dicke Stahlseile. Über die habe ich am meisten gestaunt: 92 cm Durchmesser haben sie. Der Wind surrte durch die Seile. Dabei sieht die Brücke von weitem filigran aus. Spannt sich leicht und großzügig hoch über dem Meer in einem weiten Bogen von fast 2000 Metern aus. Was für ein Meisterwerk der Baukunst.
Brücken sind eine Errungenschaft menschlicher Baukunst
Mich faszinieren Brücken. Sie verbinden Straßen und Wege über Hindernisse hinweg. Sie spannen sich über Seen, Schluchten, Flüsse oder - wie in San Francisco - sogar über das Meer in der Bucht. Brücken sind eine Errungenschaft menschlicher Baukunst. Schon die Babylonier bauten Brücken aus Zedernholz oder dem Stamm der Zypresse. Die Römer erfanden die Bogenbrücken aus Stein. Hängebrücken aus Pflanzenfasern führen über Schluchten in Südamerika und Asien. In Europa waren Holz und Stein die Materialien für Brücken bis ins 19.Jahrhundert hinein. Dann kam mit der Industrialisierung die Stahlbrücke. „Der eiserne Steg“ in Frankfurt und das „Blaue Wunder“ in Dresden zeugen von dieser Baukunst.
Menschen als Brückenbauer
Brücken bringen zusammen, was sonst getrennt ist. Auch symbolisch. Manche Menschen werden deshalb „Brückenbauer“ genannt. Sie haben in schlimmen Auseinandersetzungen Verständigung aufgebaut. Der jüngst verstorbene ehemalige US Präsident Jimmy Carter bekam den Friedensnobelpreis, weil er es schaffte, im Nahost-Konflikt wirklich etwas zu erreichen. Er baute eine Brücke zwischen dem ägyptischen und israelischen Präsidenten. Mit deren Camp-David-Abkommen begann der Frieden zwischen Israel und Ägypten. Andere sprichwörtliche Brückenbauer haben den Zugang zu einem neuen Denken geschaffen. Martin Luther war so einer. Er wollte, dass alle Menschen die Bibel in ihrer Sprache verstehen. Und hat damit Menschen ein neues Verständnis ihres Glaubens ermöglicht, - und zudem eine Reformbewegung in der Kirche seiner Zeit ausgelöst.
Brücken führen auch ins Ungewisse
Wer Brücken überquert, lässt Vertrautes hinter sich und bricht zu neuen Ufern auf. Brücken führen also auch ins Ungewisse. In unserem Leben gehen wir über viele Brücken. In echt und gedanklich, im Miteinander, auch beim Suchen nach dem, was trägt. Ich möchte heute eine Reise machen. Zu echten Brücken, zu Brückenbauern und zu einer erstaunlichen Brückengeschichte in der Bibel.
Musik: Johann Sebastian Bach, Bach: Inventions & Partitas, Bach Inventionen BWV Partitia N.2 (Nanine Jansen)
Ein tröstendes Bild für den Lauf des Lebens
In meiner Stadt gibt es eine einfache Eisenbahnbrücke. Über die bin ich letztes Jahr oft geradelt. Jeden Tag in den letzten Lebenswochen meines Mannes führte mich der Weg von meinem Wohnort in einem Teil der Stadt über die Eisenbahnbrücke in den anderen Teil der Stadt, in dem das Hospiz ist. Die Gleise und die Weichen unter der Brücke waren mir ein tröstendes Bild. Die damit vorgegebenen Wege erinnerten mich an den unabänderlichen Verlauf, den manche Geschehnisse im Leben haben. Wir werden geboren, wir haben eine Zeit auf dieser Erde und irgendwann gehen wir. Klare Gleise, die zum Leben gehören.
Auf Neues einlassen
Zugleich war der Weg über die Brücke jeden Tag ein Weg ins Ungewisse. Wie werde ich meinen Mann antreffen? Was hat sich verändert in wenigen Stunden? Wieviel Zeit bleibt noch? Und wenn ich im Sonnenuntergang zurückfuhr über die Eisenbahnbrücke in ihrer stählernen Schönheit die Frage: Geht morgen die Sonne für meinen Mann noch einmal auf? Ich habe die beiden Seiten der Brücke deutlich wahrgenommen, obwohl sie in ein und derselben Stadt liegen. Auf der einen Seite der Brücke war mein Zuhause. Der vertraute Ort mit allen kleinen Alltäglichkeiten, mit den Kindern und Freunden. Auf der anderen Seite der Brücke ging es an einen Ort, der ungewohnt und neu war. Ein Hospiz. Die Brücke hat mir geholfen, mich auf das Neue einzulassen.
Die Brücke als Ort der Besinnung
Das tägliche Überqueren hat mir Zeit gegeben, mich einzustellen auf die ungewissen Situationen. Manchmal bin ich auf der Brücke stehen geblieben. Habe einem drunter durchrasenden ICE nachgeschaut, meine Füße den zitternden Untergrund spüren lassen, wenn ein dickes Auto über die Brücke fuhr. Oder einfach den Sonnenuntergang bestaunt. Das Verweilen auf der Brücke hat geholfen, beide Seiten in den Blick zu nehmen. Das Vertraute, das Unbekannte. Und das Innehalten war wichtig. Ich spüre nach, wohin es mich jetzt gerade zieht. Ich überlege, was mich ängstigt und frage mich, wen ich auf der einen oder anderen Seite treffen werde. Ich erkenne, was ich an Vertrautem brauche und was an Neuem.
Musik: Georg Friedrich Händel, Organ Concertos, Op. 4 Presto, Händel: Orgelkonzerte (Orgel: Simon Preston Orchester: Menuhin, Orchestra Dirigent: Yehudi Menuhin)
Manchmal ist es richtig schwer, über eine Brücke zu kommen
Wer Brücken überquert, lässt Vertrautes hinter sich und bricht zu neuen Ufern auf. Ich erinnere eine Autofahrt nach Kopenhagen. Um dorthin zu kommen, überquert man vom dänischen Festland aus eine Meerstraße, den Belt. Mittendrin liegt eine Insel. Man fährt mit dem Auto zuerst über eine kürzere Brücke und den „kleinen Belt“, und dann über den „großen Belt“ auf der längsten Hängebrücke Europas. Sie ist 18 Kilometer lang und streckt sich scheinbar unendlich durch das Blau von Himmel und Meer. Mein Sohn und ich hatten uns mit der Autofahrt auf die grandiose Aussicht und das Staunen über dieses Brückenwunder gefreut.
Nebel verdeckt die Sicht
Doch nicht an diesem Tag: mit der Auffahrt auf die Brücke wurde es absolut neblig. Unser dahinplätscherndes Gespräch verstummte schlagartig. Stattdessen schien uns die Brücke mit jedem Meter durch den Nebel länger und unheimlicher. Verloren fühlten wir uns. Und auch wenn klar war, die Brücke hält und der Weg ist eindeutig, es war keine schöne Fahrt. Stattdessen war uns bange: ums Ankommen, es schaffen, über-brücken. So kann es auch sein im Leben. Manchmal ist es richtig schwer, über eine Brücke zu kommen. Wenn ich Streit mit jemandem hatte und meine, dass ich doch unbedingt im Recht bin, dann dauert es manchmal lange, bis ich eine Brücke zwischen dem anderen und mir finden kann. Vor der Versöhnung steht die Klärung, der Nebel muss sich auflösen. In meinem Kopf, und im Herzen. Die Brücke über den großen Belt bleibt mir dafür im Gedächtnis.
Die Brücke von Mostar in Bosnien-Herzegowina - Symbolisches Bindeglied zwischen Ost und West
Eine andere Brücke erinnere ich, auf der ich keine Angst hatte. Aber ich musste dort weinen. Es war die Brücke von Mostar in Bosnien-Herzegowina. Die Stadt Mostar ist von zwei Bergmassiven umgeben. Sie hat also eine Kessellage. Durch die Stadt fließt der Fluss Neretva und die Brücke von Mostar führt über ihn hinweg. Sie verbindet den eher muslimisch geprägten Ostteil der Stadt mit dem stärker katholisch geprägten Westteil. Die Brücke gilt deshalb seit Jahrhunderten als symbolisches Bindeglied zwischen Ost und West. Vor zwei Jahren stand ich auf dieser Brücke, in der Abenddämmerung. Viele Familien machten Selfies auf der Brücke. Der Ruf des Muezzins zum Gebet klang durchs enge Tal bis hoch hinauf zur Brücke.
Die Zerstörung der Brücke von Mostar
Im Jahr 1993, während des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien, wurde die Brücke von Mostar bewusst von katholisch-kroatischen Milizen zerstört - als Provokation gegen die muslimische Bevölkerung. Damit erging es dieser Brücke wie vielen anderen im Krieg. Brücken werden oft gezielt zerstört. Zur Demütigung der Bevölkerung, wie in Mostar. Oft aber auch um die Infrastruktur empfindlich zu schwächen, Fluchtwege zu verhindern oder den Rückzug von Truppen zu sichern.
Trauer über die Taten von Menschen
Auf der Brücke von Mostar dachte ich an Brücken in Kriegszeiten und mir kamen die Tränen. Wie gemein können Menschen zueinander sein, indem sie Verbindendes kaputt machen. In Mostar standen die Milizen auf einem der beiden Gebirgsmassive und feuerten ihre Bomben auf die Brücke. Sie haben das sogar gefilmt. In einem Museum des Gedenkens an diesen furchtbaren Krieg sieht und hört man den Jubel der Soldaten, als die Brücke einstürzt.
Gründung der Initiative "Gläubig für den Frieden"
Nach Kriegsende wurde sie zum Glück wieder aufgebaut. Zunächst provisorisch aus Stahl, später originalgetreu aus Stein. Darauf stand ich an jenem Abend. Neben mir ein kroatischer Freund. Otto Raffai heißt er. Er kommt aus Zagreb und ist nach dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien zu einem Brückenbauer geworden. Aus der Erfahrung der gewaltvollen Zerstörung heraus hat Otto gemeinsam mit seiner Frau Ana die Initiative „Gläubige für den Frieden“ geründet. Sie setzen sich ein für den Abbau von religiösen, ethnischen und politischen Spannungen.
Gemeinsames Spielen und Reden über vergangenes Leid
An vielen Orten gelingt es ihnen, Menschen unterschiedlichen Glaubens zusammen zu bringen. Oft sind es einfache Anlässe: ein gemeinsames Fußballspiel, ein Handarbeitskreis oder eine Krabbelgruppe für Kinder. Im Zusammensein erleben die Teilnehmer: die anderen sind auch nur Menschen. Vertrauen entsteht und damit wächst auch die Möglichkeit, über vergangenes Leid zu reden. Einander zu erzählen von den Wunden auf beiden Seiten. Sich zu verbünden gegen ein Denken von Freund und Feind, die und wir. So werden Menschen zu Brücken.
Brückenbauen kann gelingen und Neuland erschließen
Das Netzwerk „Gläubige für den Frieden“ organisiert bis heute interreligiöse Friedenskonferenzen und Begegnungen. Da kamen Imame und Priester zusammen. Muslimische, katholische und orthodoxe Frauen -ehemals verfeindet- setzen sich gemeinsam für ein Jugendzentrum in ihrem Dorf ein. Das sind Geschichten, die zeigen: Brückenbauen kann gelingen und Neuland erschließen. Der Weg mag weit sein. Aber die Bauformel ist einfach: Menschlichkeit. Die braucht es überall.
Auf das Verbindende schauen
Vielleicht ist deshalb auf allen Euroscheinen eine Brückenkonstruktion abgebildet. In einem so vielfältigen und unterschiedlichen Europa ist es bitter nötig, über Grenzen hinweg zu schauen auf die gemeinsamen Werte und Ziele, auf das, was verbindet.
Musik: Georg Philipp Telemann, Ouverture für 3 Oboen Str. und B.c. Satz 4 Rondeau, Telemann Vol. 1 - [Disc3] , Ouvertures komplett (Collegium Instrumentale Brugense , Patric Peire)
Maria Lichtmess
Menschen können Brücken bauen. Zu mehr Vertrauen, zum gegenseitigen Verstehen. In der Bibel gibt es dazu eine wundersame Geschichte. Sie passt zu dem Festtag, der heute in orthodoxen und katholischen Gemeinden gefeiert wird: Maria Lichtmess. Der Festtag erinnert an eine Bibelgeschichte, die davon erzählt, was Jesus 40 Tage nach seiner Geburt passierte:
Maria und Josef gehen in den Tempel um Gott für ihren Sohn zu danken und zu beten. Dort treffen sie auf einen alten, tiefgläubigen Mann – Simeon. Als der das Jesuskind sieht, versteht er, was noch keiner weiß: Dieses Kind wird ein Brückenbauer zwischen Himmel und Erde werden. Wie kann das sein? Ein Kind die Brücke zum Himmel, zu Gott…
Jesus als Bückenbauer zwischen Gott und Mensch
Ein Kind ist angewiesen darauf, dass es gehalten wird, bis es selber aufrecht stehen kann. Es will gefüttert und gewickelt werden, bis es selber essen und laufen kann. Lange sind Kinder auf den Schutz und die Fürsorge anderer Menschen angewiesen. Und im Grunde bleiben Menschen ihr ganzes Leben lang verwundbar und angreifbar. Trotzdem sieht Simeon in dem Kind Jesus: Gott. Er erkennt Gott also in einem Menschen. Und er wird recht behalten. Der erwachsene Jesus wird sich in besonderer Weise Menschen zuwenden: denen die schwach sind. Er wird Kranke heilen und Menschen auf den rechten Weg zurückbringen, die sich verrannt haben in etwas Schweres.
Jesus bleibt Mensch und verwundbar
Der erwachsene Jesus wird mit Leuten feiern und am Tisch sitzen, die sonst niemand einlädt. Auf Gewalt wird er nicht mit Gewalt antworten. Der erwachsene Jesus bleibt Mensch und verwundbar. Er stirbt lieber am Kreuz als mit dem Schwert sein Leben zu verteidigen. Für seine Widersacher bittet er Gott um Vergebung. Diese konsequente Menschlichkeit macht Jesus zu etwas Besonderem. Ich kann verstehen, dass er für den alten Simeon die Brücke zu Gott ist.
Und auf der anderen Seite ist da Gott. So ganz anders als alle Menschen. Unfassbar.
Jesus selbst hat einmal gesagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Es gibt keinen anderen Weg zu Gott als mich.“ (Johannes 14,6) In Jesu Menschsein ahne ich, wie Gott ist, und was er will für mich: dass ich menschlich bleibe. Dass wir Menschen menschlich bleiben miteinander. Anteil nehmen am Schmerz anderer. Freude und Leid teilen. Uns nicht einteilen in Freund oder Feind, gut oder böse, die da oben, wir da unten. Uns verbindet das Mensch-Sein. Alle miteinander. Das gefällt mir gut. Und auf der anderen Seite ist da Gott. So ganz anders als alle Menschen. Unfassbar. Die Brücke ist Jesus. So wie er uns Menschen angenommen hat, nimmt Gott uns an. Und will, dass wir einander annehmen.
Kampagne der evangelischen und katholischen Kirchen: „Für alle. Mit Herz und Verstand“
Wertschätzung und zugewandtes Menschsein – diese Glaubenspfeiler erkenne ich auch wieder in einer Kampagne für die bevorstehende Bundestagswahl. Die evangelischen und katholischen Kirchen haben sie gestartet. Unter dem Motto „Für alle. Mit Herz und Verstand“ rufen sie dazu auf, zu wählen und so die Demokratie zu stärken. In den Mittelpunkt rücken sie dabei die christlichen und gesellschaftlichen Werte „Menschenwürde“, „Nächstenliebe“ und „Zusammenhalt“. Ich finde in diesen drei Werten Jesu Haltung wieder. Er hat vorgelebt, dass alle Menschen mit derselben Würde ausgestattet sind, egal wie alt und welcher Herkunft. In unserem gesellschaftlichen Miteinander braucht es den Blick füreinander und den Mut, sich dem Anderen zuzuwenden. Jesus hat das getan. Ich bemühe mich auch darum. Und Menschen brauchen Verbundenheit mit anderen. Deshalb hilft es weiter, auf das Verbindende zu schauen. Denn uns verbindet als Menschen immer mehr als uns trennt.
An Maria Lichtmess schaue ich deshalb auf das, was verbindet, was Brücken baut – bis in den Himmel. Neues scheint auf an diesem Tag: ein kleines verwundbares Kind wurde zum Retter der Welt, hat uns gezeigt, was Menschsein bedeutet und wie weit Gottes Liebe reicht.
Musik: Georg Friedrich Händel, Händel: Organ Concertos, Op. 4 Allegro Moderato, Händel: Orgelkonzerte (Orgel: Simon Preston Menuhin Orchestra Dirigent: Yehudi Menuhin)