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Gott braucht keine starken Männer

Prof. Dr. Thomas Hieke
Ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Hieke, Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Als Kind habe ich gern die Zeichentrickserie „Wickie und die starken Männer“ angesehen. Das waren die Abenteuer des Wikingerjungen Wickie mit seinem Vater Halvar und seinen starken Männern. Ich war als Junge eher schmächtig und wenig stark. Deswegen gefiel mir an den Wickie-Filmchen Folgendes umso mehr: Wenn die Männer in Schwierigkeiten geraten, helfen ihnen nicht ihre Waffen und ihre körperliche Stärke – sondern die Einfälle und Tricks des kleinen, schmächtigen Wickie. Seine Ideen hauen die starken Männer raus.

Die starken Männer in unserer Welt

Daran muss ich in diesen Wochen denken, wenn ich in den Weltnachrichten von allerlei starken Männern höre. Einige glauben, sie könnten über andere Menschen und Völker herrschen und ihnen den eigenen Willen aufzwingen. Einer überfällt ein Nachbarland mit einem brutalen Angriffskrieg. Einer hält sich für einen großen Sultan und unterdrückt jegliche Opposition. Einer wird zum Präsidenten eines sehr großen Landes gewählt und wird seine zweifelhaften Interessen durchdrücken – mit Hilfe eines Superreichen, der glaubt, sich alles kaufen zu können, selbst die Wahl in einem anderen Land.

In Europa finden das einige großartig und wären am liebsten auch so. Mir gehen diese starken Männer auf die Nerven, und es verunsichert mich, dass auch hierzulande viele nach dem „starken Mann“ rufen. Oder jedenfalls unsere Demokratie stark in Zweifel ziehen. Gleich erzähle ich eine Geschichte dazu. [1:33]

Musik 1: Arthur Honegger: König David – Einleitung [1 – dt. bis 1:41]

Die Fabel der Bäume

Meine Geschichte ist eine Fabel und erzählt von Bäumen. Sie geht so:

8 Einst zogen die Bäume los. Sie wollten einen König über sich salben.

9 Also sagten sie zum Olivenbaum: »Sei du unser Herrscher!« Doch der Olivenbaum antwortete ihnen: »Soll ich denn keine Oliven mehr hervorbringen? Mit ihrem Öl werden Götter und Menschen geehrt. Nein, ich will nicht über den Bäumen schweben!«

10 Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: »Auf, sei du unser Herrscher!«

11 Doch der Feigenbaum antwortete ihnen: »Soll ich denn keine Feigen mehr hervorbringen? Die Früchte sind süß und schmecken köstlich. Nein, ich will nicht über den Bäumen schweben!«

12 Da sagten die Bäume zum Weinstock: »Auf, sei du unser Herrscher!«

13 Doch der Weinstock antwortete ihnen: »Soll ich denn keine Trauben mehr hervorbringen? Mit ihrem Saft werden Götter und Menschen erfreut. Nein, ich will nicht über den Bäumen schweben!«

14 Schließlich sagten alle Bäume zum Dornenstrauch: »Auf, sei du unser Herrscher!«

15 Da antwortete der Dornenstrauch den Bäumen: »Ist das euer Ernst? Wollt ihr mich wirklich zum König über euch salben? Dann kommt und sucht Schutz in meinem Schatten! Sonst soll Feuer von meinen Dornen ausgehen und die Zedern vom Libanon fressen!« (Buch der Richter 9,8–16 BasisBibel modifiziert)

Der Dornstrauch als König der Bäume

Die Bäume suchen einen König – doch keiner will den Job machen. Am Ende wird der Dornenstrauch König. Sucht Schutz in meinem Schatten, sagt er – lächerlich. Ein Dornenstrauch gibt so gut wie keinen Schatten. Und Dornen tragen kaum Früchte. Ein nichtsnutziges Gewächs. Das am wenigsten geeignete Gehölz, das man zu nichts brauchen kann, wird König der Bäume – und droht mit großer Klappe an: Dann soll Feuer von meinen Dornen ausgehen. Als ob das ginge!

Diese Fabel steht in der Bibel, im neunten Kapitel des Buches der Richter. Die Fabel kritisiert die Vorstellung, dass nur ein König, ein starker Mann an der Spitze, alle Schwierigkeiten lösen kann. Wer nach dem starken Mann ruft, so die Fabel, wird am Ende von einem Dornenstrauch regiert, von einem nichtsnutzigen Gewächs, das nur weitere Schwierigkeiten macht und nichts zuwege bringt.

Was die Bibel über das Aussehen einer Regierung sagt

Aber wie soll dann eigentlich eine Regierung aussehen? [2:32]

Musik 2: Arthur Honegger, König David - Das Lager Sauls [11 bis 1:35]

Die Bibel hat keine klaren Vorschriften, wie eine Regierung aussehen soll. Aber bei der Erschaffung des Menschen am Anfang findet sich ein interessanter Gedanke. Im Buch Genesis ist zu lesen:

26 Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. (Gen 1,26, EÜ 2016)

Der Mensch als guter König

Die Menschen werden von Gott als Gottes Bild, wörtlich: Statue, geschaffen: Als lebendige Statuen sollen sie Gott auf Erden repräsentieren – wie das Standbild eines Kaisers oder Königs den Herrscher repräsentiert. Als Gottes Stellvertreter sollen die Menschen über alle Tiere „walten“ – manche übersetzen auch: „herrschen“. Das sollen sie aber tun wie ein guter König, wie ein guter Verwalter, der für seine Untertanen sorgt und sie nicht ausbeutet.

Leider wurde das vielfach missverstanden und als Freibrief gelesen, die Erde, Tiere und Pflanzen auszubeuten. Das ist ein falsches Verständnis. „Herrschen“ meint hier: gut verwalten. Der wahre König ist und bleibt Gott. Die Menschen sind nur Stellvertreter. Und kein Stellvertreter darf das Produkt oder Werk oder Land seines Chefs kaputt machen. Genau das machen die Menschen aber, und die starken Männer an der Spitze sind da voll dabei. Ein falscher Weg.

Der Mensch als Gottes Stellvertreter

Schaut man genau hin, dann spricht der biblische Text nicht von einer Herrschaft von Menschen über Menschen. Vielmehr sind alle Menschen dazu beauftragt, Gottes Stellvertreter*innen zu sein, Bilder Gottes, Gottes lebendige Statuen. Alle. Ja, alle sollen „herrschen“. Und die Staats- und Regierungsform, bei der alle herrschen und mitmachen dürfen: Das ist die Demokratie, die „Herrschaft des Volkes“. Alle sollen beteiligt sein und darüber mitbestimmen, was alle angeht.

Ich glaube wirklich: Die Demokratie ist die Staatsform, die der Bibel am besten entspricht. Insofern war der biblische Text, als er geschrieben wurde, seiner Zeit weit voraus – kein Wunder, dass die Menschen das lange nicht umgesetzt haben. Aber in unserer Zeit und in unserem Land haben wir das geschafft: Nicht ein unnützer Tyrann an der Spitze zwingt allen seinen zweifelhaften Willen auf, sondern alle beteiligen sich gemeinsam daran, die Angelegenheiten aller zu regeln.

Ideal: Ein starker Anführer an der Spitze?

So ist jedenfalls das Ideal, das wir uns nicht so schnell nehmen lassen dürfen. Es ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel, wie auch Christinnen und Christen ihre Hoffnung auf einen starken Mann setzen wollen. Die Bibel sagt anderes und erzählt von großen Schwierigkeiten mit verschiedenen Anführern und Königen. Wie auch immer man zur Bibel steht: Man kann aus ihr lernen, dass das Leitungsmodell „ein starker Anführer an der Spitze“ am Ende vom Tag nicht funktioniert.   

Nun stehen Wahlen zum Deutschen Bundestag vor der Tür: Jede Stimme ist wichtig, jede Person möge sich unbedingt beteiligen. Und alle können dabei mitmachen, dass nicht die Extremen gewinnen, die laut schreien, die die Demokratie verächtlich machen, die die Macht an sich reißen wollen und gerne so ein „starker Mann“ sein wollen. Oder die sich einem fremden starken Mann, ob in Ost oder West, in Russland oder Amerika, andienen wollen, um gute Geschäfte machen zu können. Gott, davon bin ich überzeugt, will keine solche Gewaltherrschaft eines Menschen über andere.

Aber wie macht Gott das eigentlich? Ist Gott nicht selbst so ein „Alleinherrscher“? [4:09]

Musik 3: Jutta Bitsch, Mit allen Augen – Du [9 – bis ca. 3:15]

Die Gottesherrschaft auf Erden

Könige und Kaiser auf Erden haben sich bisweilen als „von Gottes Gnaden“ bezeichnet und behauptet, sie würden die Herrschaft Gottes auf Erden ausführen. Mancher beansprucht so etwas Absurdes auch heute noch. Dabei kann man in der Bibel lesen, wie Gott die Gottesherrschaft auf Erden durchsetzt. Ich finde da folgende Zeilen:

1 Siehe, das ist mein Knecht, den ich stütze;

das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen.

Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt, er bringt den Nationen das Recht.

2 Er schreit nicht und lärmt nicht

und lässt seine Stimme nicht auf der Gasse erschallen.

3 Das geknickte Rohr zerbricht er nicht

und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht.

4 Er verglimmt nicht und wird nicht geknickt,

bis er auf der Erde das Recht begründet hat. (Jes 42,1–4 EÜ 2016)

Der "Gottesknecht"

In diesem Lied ist von einem „Gottesknecht“ die Rede. Das ist eine rätselhafte Gestalt im Buch Jesaja, von der man nicht genau weiß, wer das gewesen sein könnte. Vielleicht ist das ein Code für eine kleine Gemeinschaft frommer Menschen, die sich ernsthaft um Gerechtigkeit bemühen und gute Ideen für das friedliche Zusammenleben der Menschen haben. Wenn Christinnen und Christen diese Weissagungen lesen, fällt der Blick auf Jesus, der als „König der Juden“ gekreuzigt wurde und so gar keine irdischen königlichen Züge hat.

Der Gottesknecht – und in dieser Linie auch Jesus von Nazaret – hat sich den Schwachen zugewandt: den Geknickten, den nur noch Glimmenden. Und er hat keine lärmenden, großspurigen Reden gehalten, leere Versprechungen von sich gegeben. Vielmehr geht es um Heilung, um Gerechtigkeit für die Entrechteten, um ein friedliches Leben. Dieser Gottesknecht ist genau das Gegenteil des „starken Mannes an der Spitze“. Und wenn Christinnen und Christen sich an Jesus erinnern, gilt das genauso: Jesus ist nicht im Königspalast in Jerusalem geboren – wie die Sterndeuter lernen mussten. Jesus hat zwar Anhänger, Nachfolger, Follower gehabt, aber er hat sie niemals zu Gewalttaten angestachelt, um irgendeine Form von Herrschaft auszuüben. Gottes Herrschaft, das Reich Gottes, ist ganz anders. [2:34]

Musik 4: John Tavener, The Lord’s Prayer  [12 – 3:29]

Demokratie soll stark bleiben

Gottes Herrschaft, das Reich Gottes, folgt nicht der menschlichen Logik vom „starken Mann“. Gottes Reich wird nicht dadurch errichtet, dass Menschen unterdrückt, erobert, geknechtet und ausgebeutet werden. Wenn ich im Vaterunser bete „Dein Reich komme“, dann drücke ich damit auch die Hoffnung aus, dass die menschlichen Unterdrücker und Ausbeuter auf dieser Welt baldmöglichst verschwinden werden. Ich kann sie ja nicht selbst entfernen. Aber ich kann wenigstens dafür sorgen, dass bei uns die Demokratie stark bleibt und nicht irgendwelche vermeintlich starken Leute ihre Machtinteressen auf Kosten anderer und des Gemeinwohls durchsetzen werden.

Die Bibel kennt mehrere Geschichten, die zeigen, dass menschliches Machtgehabe lächerlich ist. Menschliche Tyrannen und Gewaltherrscher haben in biblischer Sicht nichts zu melden. Das ist auch irgendwo tröstlich. Da fällt mir am Schluss die Geschichte aus dem Buch Judit ein. Der große und mächtige Feldherr Holofernes will die ganze Welt mit Gewalt seinem König unterwerfen, und er glaubt, mit der hübschen Judit ein leichtes Spiel zu haben. Doch als er sie vernaschen will, ist er zu betrunken, schläft ein – und Judit schlägt ihm den Kopf ab. In dieser erfundenen Geschichte siegen ausnahmsweise die Frauen – und alle Schwachen und Unterlegenen, anders als in der Wirklichkeit. Im Buch Judit richtet die Hauptperson vor ihrer mutigen Tat ein Gebet an Gott. Darin finde ich einen tröstlichen und ermutigenden Vers, mit dem ich schließen möchte:

[Gott,] deine Macht stützt sich nicht auf die große Zahl, deine Herrschaft braucht keine starken Männer, sondern du bist der Gott der Schwachen und der Helfer der Geringen; du bist der Beistand der Armen, der Beschützer der Verachteten und der Retter der Hoffnungslosen. (Judit 9,11 EÜ 2016) [2:01]

Musik 5: Magdalena Zimmermann: Magnificat [3 – 4:47]

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