
Der lachende Engel von Reims – wie man sein Lächeln wiederfinden kann
Hat Sie das neue Jahr schon angelächelt? Vielleicht im lächelnden Gesicht eines Menschen, Ihres Partners, Ihrer Partnerin oder Ihres Kindes. Vielleicht auch in einer schönen Musik, einem Neujahrsgruß eines lieben Bekannten. Wenn uns jemand anlächelt, löst das etwas aus. Und wenn das Lächeln echt ist, tut es gut. Es verändert die Stimmung. Es löst Ängste. Die freundlich lächelnde Flugbegleiterin erleichtert den Einstieg in die Maschine. Und der nett lächelnde Schaffner lässt die Verspätung nur noch halb so dramatisch sein. Genauso schafft der freundlich lächelnde Chef eine gute Atmosphäre in der Firma, manchmal jenseits aller Zahlen.
Die insgesamt 43 verschiedenen Muskeln unseres Gesichtes sind ein wahres Wunderwerk. Denn die Muskulatur unseres Gesichtes hat nicht nur eine Schutzfunktion, wenn sie Augen oder Mund verschließt. Nein, es lassen sich mit ihr mehr als 10.000 verschiedene Gesichtsausdrücke erzeugen. Unser Gesicht ist nicht nur ein Merkmal, sondern letztlich Ausdruck des Menschen selbst. Und der schönste Gesichtsausdruck ist das Lächeln. Etwas, dass jeden Schauspieler und vor allem Künstler immer wieder herausfordert. Ein Lächeln in einer Skulptur oder in einem Gemälde einzufangen, ist gar nicht so leicht. Um so schöner, wenn uns dieser erste Tag des Jahres ein Lächeln schenkt.
Musik: J. S. Bach – Concerto Nr. 2 in F major, BMV 1046 Allegro assai – Brandenburgische Konzerte – The Englisch Concert / Trevor Pinnock
Das Lächeln als wiedergewonnene Mimik
In der Kunstgeschichte wurde das Lächeln im hohen Mittelalter sozusagen wieder neu entdeckt. Während bisher die Figuren und Bilder das menschliche Gesicht oft ohne besondere Mimik, ja ikonenhaft darstellten, schauten die Figuren der neuen Epoche der Gotik die Menschen oft mit einem tiefen Ausdruck an. An diesem Wendepunkt der darstellenden Kunst vermögen es die Bildhauer mehr und mehr den Figuren Leben einzuhauchen. Und den ganz großen unter ihnen gelingt es sogar, ein Lächeln in den Stein oder das Holz zu zaubern.
Unnachahmlich und unvergleichlich – der Engel von Reims
Eines der berühmtesten Lächeln, das von diesem Umbruch zeugt, ist das des lachenden Engels von Reims. In den letzten Wochen stand die im Dezember mit einem großen Fest wiedereröffnete Kathedrale Notre Dame im Paris im Fokus der Nachrichten. Die Kathedrale in Reims kommt ihr in der Bedeutung gleich. Wurden doch hier über Jahrhunderte die Könige des Landes gekrönt. Dementsprechend reich schmückte man das Bauwerk aus. Allein die Bauplastik wartet mit sage und schreibe rund 2300 Figuren innen und außen auf. Schon wenn man in die Kathedrale hineingeht, wird man von zahllosen Figuren an den Portalen begrüßt. Darunter eine sehr besondere Figur, man kann schon sagen eine berühmte Figur. Und das nicht nur wegen ihrer Geschichte, sondern vor allem aufgrund ihres Lächelns. Es ist ein unvergleichliches Lächeln. Es ist – wie es der Kunsthistoriker André Michelle formulierte – das „leichte, spitze und fast maliziöse Lächeln“ des lachenden Engels von Reims. Er lächelt auch heute am Neujahrsmorgen die Besucher der Kathedrale an und vielleicht auch mich am Anfang des neuen Jahres.
Musik: J. S. Bach – Gavotte I/II – Trevor Pinnock Quvertüren – The Englisch Concert
Da steht er. Der lachende Engel von Reims. Eine fast lebensgroße Figur, hoch über dem Besucher am nördlichen Portal der Westfassade. Die „Kathedrale der Engel“ wird Reims manchmal genannt, wegen der unzähligen Engelsfiguren. Unter ihnen ist der um 1250 entstandene lachende Engel eine faszinierende Figur. Der L'Ange au Sourire wird in Frankreich manchmal nur Sourire de Reims, das „Lachen von Reims“ genannt. Das Bild des Engels findet sich sogar auf den Hinweisschildern, die im Umland den Weg zur Kathedrale zeigen. Aber berühmt ist er nicht nur, weil der Bildhauer in der Mitte des 13. Jahrhundert ihm ein unvergleichliches Lächeln ins Gesicht zauberte, sondern vor allem wegen seiner Geschichte. Das Lachen ist ihm – der unentwegt lächelt – schon einmal gehörig vergangen. Sie erinnern sich sicher noch nach an das Jahr 2019. Das Drama des Brandes von Notre Dame war für die Menschen in Paris und auf der ganzen Welt im Jahr 2019 ein Schock. Fassungslos schauten die Leute mit Tränen in den Augen auf die brennende Kirche.
Zwei Kirchen stehen in Flammen
Am 19. September 1914 war es in Reims ähnlich. Die Krönungskathedrale stand in Flammen. Und mit dem mächtigen Bauwerk brannte das Herz einer ganzen Nation. Was war passiert? Der Erste Weltkrieg war ausgebrochen. Insbesondere Deutschland und Frankreich lieferten sich als sogenannte „als Erzfeinde“ erbitterte Schlachten. Im Gefecht um Reims beschossen deutsche Truppen die Stadt. Sie zielten wohl ganz bewusst auch auf die Kathedrale der Stadt. Man sei von dort beschossen worden, ließ man auf deutscher Seite verlauten. Aber in der Logik des Krieges versuchte man – damals wie heute – mit solchen Bauwerken auch die Seele des Gegners zu treffen. Der gotische Bau wurde schwer beschädigt. Die deutschen Geschosse hatten ein Gerüst am Nordturm in Brand gesetzt. Das Feuer griff auf den Dachstuhl über, der völlig zerstört wurde. Das brennende Gerüst brach brennend in sich zusammen. Und traf neben vielen anderen Figuren den lächelnden Engel. Der Kopf des lächelnden Engels wurde abgeschlagen und stürzte aus einer Höhe von 4,50 m auf den Boden. Dabei zerbrach er in mehrere Teile.
Das Lächeln zurückgewinnen – auch und gerade jetzt
Es gibt diese Momente, in denen uns das Lachen vergeht. Die Diagnose einer Krankheit, der Stutz auf der Treppe, der alles verändert, die Trennung in einer Beziehung, der Verlust des Arbeitsplatzes, die Angst vor der Zukunft oder gar der Tod eines lieben Menschen. Mir fallen die vielen Menschen ein, die jetzt nicht in einer geheizten Wohnung sitzen oder in Ruhe frühstücken. Auch am Neujahrstag geht der Krieg in der Ukraine weiter und er macht mir und vielen Menschen Angst. Die neuste Shell-Studie unter Jugendlichen zeigt die Sorge vor einem Krieg in Europa als größte Angst der jungen Menschen. Seit Monaten stellt eine Wirtschaftskrise viele Betriebe und viele Menschen vor große Herausforderungen. Deutschland braucht eine neue Regierung, die unser Land in eine gute Zukunft führen kann. Und viele schauen mit Sorge auf den 20. Januar, wo in den Vereinigten Staates mit Donald Trump ein Mann zu zweiten Mal Präsident wird, dessen Entscheidungen vermutlich alte Sicherheiten zerbrechen lassen werden.
Immer mehr Menschen sind von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen und stehen am Neujahrstag vielleicht vor den Trümmern ihres Hauses nach einer Flutkatastrophe in den letzten Monaten. Und ich denke an die junge ukrainische Frau im Fernsehbericht vor Weihnachten, die mit ihrer Tochter wohl auch in der Silvesternacht auf der Matratze im Flur ihrer Wohnung übernachtet hat, um ein wenig sicherer zu sein vor den Geschossen, die immer wieder in Wohnhäuser einschlagen. Mir fällt die Zerrissenheit unserer Gesellschaft ein, der fehlende Respekt voreinander, das Schwinden der politischen Kultur und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Wenn man das alles aufzählt, kann einem das Lachen am Neujahrstag 2025 wirklich vergehen.
Musik: J. S. Bach – Wo soll ich fliehen hin – Stefan Kießling
Heute sind sie nicht mehr zu sehen, weil man Sie kunstvoll wieder zusammengefügt hat. Die Trümmer des zu Boden gefallenen Kopfes des lächelnden Engels von Reims. Schon am Tag nach dem Brand hatte man die Fragmente der zerstörten Fassaden-Skulpturen aus dem Schutt geborgen und im Keller eines benachbarten Hauses gesichert. Erst ein Jahr später fand man unter den Trümmern den Kopf des Engels, dessen Nase und dessen rechtes Auge fehlte. Erst im Jahr 1925 begann die Wiederherstellung. Glücklicherweise gab es einen Gipsabdruck im Museum. Mit seiner Vorlage konnte man die verlorenen Teile rekonstruieren. Am 13. Februar 1926 war es so weit. Der Engel und mit ihm ganz Frankreich, ja, die ganze die Welt erhielt sein Lächeln zurück.
Die Botschaft des lachenden Engels
Der L'Ange au Sourire, der lachende Engel, lächelt auch heute Morgen in das Jahr 2025 hinein. Denn sein Lächeln hat einen Grund. Es ist die Gewissheit, dass einer über uns steht, der uns anlächelt, wenn wir heute durch die offene Tür des neuen Jahres gehen. Der lächelnde Engel von Reims erinnert an das, was wir an Weihnachten gefeiert haben. Gott ist Mensch geworden. Wenn das kein Grund zur Hoffnung ist. Überall da, wo Menschen trotz aller Schwierigkeiten und trotz aller Herausforderungen Hoffnung haben und Hoffnung weitergeben, wird etwas Göttliches sichtbar, so wie im Lächeln des Engels von Reims. Es braucht immer wieder Menschen, die das Zerstörte aufbauen, die Trümmer zusammenfügen, die die Hoffnung weitertragen und nicht aufgeben.
Am 8. Juli 1962, nach zwei erbitterten Kriegen, in denen die Kathedrale von Reims zerstört wurde, reichten sich unter dem Blick des lachenden Engels von Reims der deutsche Bundeskanzler Adenauer und der französischen Präsident de Gaulle in einem großen Friedensgottesdienst die Hände. Adenauer sagte in seiner Rede an diesem Tag: „Welche Berge von Schutt, welche Opfer, welches Leid hatten die vergangenen Jahre zwischen uns aufgehäuft. Wir haben diese Hügel abgetragen, wir haben die Gräben zugeworfen, wir haben das Gelände geebnet. Und auf diesem Gelände haben wir den Baum des Friedens und der Freundschaft zwischen dem französischen und deutschen Volk errichtet.“ Der lachende Engel von Reims ist für mich heute ein Bild der Hoffnung, dass es in diesem neuen Jahr Menschen gibt, die – wo immer sie leben – Gräben zuwerfen, Wege zum Miteinander ebnen und den Frieden wachsen lassen. Menschen, die im übertragenen Sinne lachende Engel sind und ihr Lächeln verschenken. Ich wünsche Ihnen ein frohes und friedvolles neues Jahr 2025.
Musik: J. S. Bach – Jauchzet, frohlocket – Chorus and Orchestra of Collegium Vocale, Ghent Philippe Herreweghe
Musikauswahl: Regionalkantor Christopher Löbens, Hünfeld