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Warten auf eine Diagnose
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Warten auf eine Diagnose

Martin Vorländer
Ein Beitrag von Martin Vorländer, Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt
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Es war Sommer. Draußen schien die Sonne. In mir sah es finster aus. Ich wartete auf ein medizinisches Untersuchungsergebnis. Im schlechten Fall drohte eine schwere Erkrankung. Es waren noch ein paar Tage bis zur Diagnose, und ich hielt es in meinen vier Wänden nicht mehr aus.

Die Flucht an den See zur Ablenkung

Mitten in der Woche fuhr ich raus aus der Stadt an einen kleinen See zum Baden. Normalerweise sind dort nicht viele Leute und schon gar nicht Menschen, die ich kenne. Aber als ich mir am Ufer einen Platz suche, sehe ich einen Kollegen mit seiner Familie. Ein netter Kollege, aber heute will ich mit niemandem reden. Der Kollege winkt mir freundlich zu, ich winke zurück. 

Eine unerwartete Begegnung am See

Nach einiger Zeit gehen er und seine Frau mit ihrem sechs- oder siebenjährigen Sohn ins Wasser. Da erst sehe ich: Der Junge hat eine mehrfache Behinderung. Er kann nicht gehen, nicht sitzen, nicht sprechen. Er lag bisher auf der Decke im Gras. Seine Eltern schieben ihn im Rollstuhl zum Ufer und heben ihn gemeinsam ins Wasser.

Der Junge erschrickt kurz, als es nass und kühl wird. Dann breitet sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus. Er genießt, wie seine Mutter und sein Vater ihn durch die sanften Wellen ziehen. Nach dem Baden braucht es seine Zeit, bis sie ihn zurück in den Rollstuhl gehoben haben. Dann liegt er wieder auf der Decke im Gras. Seine Eltern hüllen ihn in ein großes Badetuch und rubbeln ihn ab. Er lacht.

Wie eine Beobachtung den Blickwinkel verändern kann

Ich sehe das und denke: Leben. Manchmal schwer zu tragen, aber trotzdem Leben mit Lachen, mit Blick in den Himmel und Baden im See. Mein Kollege und seine Familie schaffen das. Vermutlich nicht an jedem Tag gleich, aber hier und jetzt gerade. Dann wird sich mir auch ein Weg zeigen, wie ich mit der Diagnose leben kann, sollte sie schlecht ausfallen.

Das Winken des Kollegen war für mich ein Wink. In ungewissen Situationen brauche ich solche Zeichen, die Mut machen. Woher auch immer sie kommen. Ein paar Tage später bekam ich das Untersuchungsergebnis: Es ist alles in Ordnung. Gott sei Dank. Auch für den Tag am See, den ich nie vergessen habe.

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