Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Weniger Ballast, mehr Leben
pexels/rdne

Weniger Ballast, mehr Leben

Ralf Schweinsberg
Ein Beitrag von Ralf Schweinsberg, Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche in Gründau-Rothenbergen
Beitrag anhören:

„Kannst du mir beim Umzug helfen?“, fragt ein guter Freund. Er steht vor einem Neuanfang. Seine Wohnung ist für ihn allein zu groß und zu teuer geworden. Nun ist im selben Haus eine kleinere Wohnung frei – eine echte Chance für ihn.

Bei einem Umzug ist immer viel zu tun

Ich zögere kurz, weil mir klar ist: Das wird viel Arbeit. Wir sind uns zwar einig: für den eigentlichen Umzug engagieren wir eine Firma, aber ich weiß aus Erfahrung: Das Ein- und Auspacken der Kisten bleibt trotzdem an uns hängen.

Ich bin selbst schon einige Male umgezogen. Angefangen hat alles mit einer kleinen Studentenbude, später wurden die Wohnungen immer größer. Damals war es ein schönes Gefühl, alles in Kartons zu packen – Bücher, Bettwäsche, Tassen, Kleidung, Fotoalben – und sich darauf zu freuen, das neue Zuhause einzurichten und noch mehr Platz zu haben.

Wenn die neue Wohnung kleiner ist als die alte: wo soll das alles hin?

Doch diesmal ist es anders. Für meinen Freund wird die Wohnung kleiner. Mindestens die Hälfte seiner Sachen wird nicht mit umziehen können. Anfangs habe ich ihn bemitleidet – so vieles muss er loslassen. Neben jedem Umzugskarton stand auch einer für den Flohmarkt und einer zum Entsorgen.

Als ich ihm dann beim Packen geholfen habe, wurde mir klar: Er wechselt nicht nur die Wohnung und trennt sich von vielem – er gewinnt auch etwas: Freiheit. Es fühlte sich an wie ein bewusster Schritt des Loslassens und eines neuen Anfangs. Das hat auch in mir die Sehnsucht geweckt, selbst Ballast abzuwerfen und in manchen Bereichen meines Lebens etwas Neues zu beginnen.

Der Umzug als Chance Freiheit zu gewinnen

Doch dann habe ich schnell gemerkt, wie sehr ich an vielen Dingen hänge: Fotos von gemeinsamen Urlauben, Bücher und viele kleine Erinnerungsstücke – sogar an Schränken voller alter Computerteilen aus all den Jahren hänge ich. Diese Dinge sind für mich mehr als bloße Gegenstände; sie erzählen meine Lebensgeschichte.

Neulich hielt ich ein altes Foto in der Hand: Darauf sitze ich mit meinem 13-jährigen Sohn auf einem Felsen in Schweden. Wir teilen uns seine Kopfhörer; er lässt mich seine Musik hören.

So viele Erinnerungen hängen an den Dingen, die wir besitzen

In einer Zeit, die oft von Spannungen geprägt war zwischen Vater und Sohn, waren wir uns in diesem Moment ganz nah. Dieses Gefühl ist im Foto festgehalten. Ich wusste gar nicht mehr, dass ich das Bild noch besitze – doch als ich es ansah, waren all die Erinnerungen plötzlich wieder da. Wie könnte ich mich von diesem Foto trennen, das einen Augenblick mit so viel Nähe und Glück zwischen uns bewahrt.

Musik

Warum fällt es mir so schwer, loszulassen? Manchmal habe ich das Gefühl, mit den Dingen auch einen Teil von mir selbst wegzugeben. Was bleibt übrig, wenn das Vertraute fehlt? Werde ich mich noch wohlfühlen, wenn plötzlich etwas nicht mehr da ist?

In mir gibt es zwei Seiten: Die eine wünscht sich Leichtigkeit und weniger Ballast. Die andere hat Angst, etwas Wertvolles zurückzulassen oder zu verlieren. Früher war das anders. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als Student von zuhause ausgezogen bin. Aus einem behüteten Zuhause mit vielen Annehmlichkeiten in eine kleine, einfache Studentenwohnung.

Mit weniger Ballast das Leben neu gestalten

Es war nicht alles schlecht daheim – aber ich brauchte diesen Abstand, die Freiheit. Nur so konnte ich mein Leben neu gestalten und herausfinden, was mir wirklich wichtig ist. Ich habe meine eigenen Sachen angeschafft, mich neu eingerichtet und neue Menschen kennengelernt. Wenn ich später nach Hause gekommen bin, habe ich vieles neu geschätzt und meine Familie mit anderen Augen gesehen, anders wahrgenommen. Manches blieb aber auch unverändert – wie das Marmeladenbrot am Morgen, das meine Mutter mir schmierte, damit ich genug esse.

Trotzdem bin ich immer wieder gerne von dort weg in meine neue Wohnung, mein neues Leben. Damals fiel mir das Loslassen leicht. Vielleicht auch deshalb, weil ich weniger besaß und kaum etwas in Kisten packen musste. Vor allem aber habe ich mir keine Sorgen gemacht um die Zukunft. Ich hatte das Gefühl: Die Welt steht mir offen; alles wird gut werden.

Heute weiß ich: Das ist nicht immer so. Zum Leben gehört auch das Loslassen. Mein Freund musste seine große Wohnung aufgeben. Ich habe im letzten Jahr meine Frau verloren. Das war schwer. Gemeinsam hatten wir unser Leben eingerichtet wie eine große, schöne Wohnung – im Glauben daran, dass uns niemand dieses Glück nehmen kann.

Erinnerungen können erfreuen aber auch schmerzen

Plötzlich war alles anders als geplant. Unsere gemeinsame „Lebenswohnung“ gibt es nicht mehr. Ich muss mein Leben neu ordnen und selbst in die Hand nehmen. Dabei merke ich: Loslassen ist ein Prozess. Manchmal geht es schnell, oft aber nur langsam, Schritt für Schritt.

Auf diesem Weg hat mich ein Satz von Jesus angesprochen. Der hat einmal gesagt: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Matthäus 11,28-30). Mühselig und beladen – ja, so fühle ich mich gerade.

In meinem Leben haben sich viele schöne Erinnerungen angesammelt: Fotos, Postkarten, Bücher oder die englische Wolldecke auf dem Sofa – in all dem stecken Geschichten. Doch manches davon macht mir jetzt auch Mühe. Die englische Wolldecke weckt wunderbare Erinnerungen an einen gemeinsamen Urlaub, aber es schmerzt auch, weil ich weiß: Diese Zeit kommt nicht zurück.

Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid

Jesus sagt: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid.“ Ich bin dankbar, dass Jesus nicht sagt: „Stell dich nicht so an“ oder „Das wird schon wieder“. Sein Satz lässt mir Raum für meine widersprüchlichen Gefühlen, die mein Leben im Moment schwer machen. Es wird nicht mehr wie früher. Und es geht nicht einfach weiter wie bisher. Ich will nicht alles hinter mir lassen oder vergessen und merke doch, wie es mich ausbremst.

Jesus sagt: Er will Menschen wie mich „erquicken“. Für mich bedeutet das: Er bietet mir Momente der Ruhe an und schenkt neue Kraft. Ich spüre: Jesus sieht mich und meint es gut mit mir – das tut mir gut. Mein Leben neu sortieren, prüfen, was gut war und was bleiben darf und was ich loslassen kann – das wird nicht leicht. Aber ich vertraue darauf, dass neue Kraft wächst, wenn ich bereit bin, diesen Weg zu gehen.

Musik

Als ich mit meinem Freund seine Umzugskisten packte, habe ich ihn immer wieder gefragt: „Ist dir das hier wichtig? Welche Erinnerungen hast du an diese Schale, den alten Teller oder die Tasse mit dem Sprung?“ Dann kam alles, was ihm besonders am Herzen lag, sorgfältig in Kisten. Was keine Bedeutung mehr hatte – wie das ausgeblichene Poster oder die hässliche Vase vom Flohmarkt – ist aussortiert worden.

"Ich hätte nicht gedacht dass es hier so schön sein kann"

Inzwischen ist er in seiner neuen Wohnung angekommen. Nach den ersten Nächten sagte er zu mir: „Ich hätte nie gedacht, dass es hier so schön sein kann.“ Das hat mich sehr ermutigt. Für ihn war der Abschied und das Loslassen sicher nicht leicht, doch er hat es gut gemeistert und beginnt nun, neue Möglichkeiten für sein Leben zu sehen und Pläne für die Zukunft zu schmieden.

Ich selbst stecke noch mitten im „Einpacken“ – im übertragenen Sinne. Ich sortiere mein Leben. Ich frage mich: Was möchte ich auf meiner weiteren Reise mitnehmen? Was darf getrost zurückbleiben? 

Was möchte ich loslassen, was behalten?

Gestern habe ich einen Schrank ausgeräumt. Stück für Stück habe ich jedes Teil in die Hand genommen und überlegt, was mir wirklich wichtig ist und schöne Erinnerungen weckt. Diese Dinge durften bleiben und fanden ihren Platz zurück im Schrank. Anderes konnte ich loslassen.

Als ich fertig war, habe ich den Schrank betrachtet und gespürt: Jetzt gehört er wieder zu mir. Er ist aufgeräumt, und alles darin hat seinen Wert für mich. Das fühlt sich gut an. Ich bin unterwegs und vertraue darauf, dass Jesus mir auf meinem Weg neue Kraft schenkt. Das alte Wort „erquicken“ drückt genau das aus – und das gefällt mir sehr.

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren