
Wild leben und glauben
Schon als Kind war ich am liebsten draußen. Ich bin auf Bäume geklettert, durch Büsche gekrochen, hab Höhlen gebaut – aus Totholz, Decken, Fantasie. Ich hatte ständig aufgeschlagene Knie und kaputte Hosen. Ich war ungestüm, lebendig und ein bisschen wilder als andere Kinder.
Meine Heldin war Ronja Räubertochter: mutig, gerecht, stark. Ich wollte so sein wie sie. Und vielleicht war ich es auch ein bisschen. Jedenfalls war ich kein Kind, das von Natur aus folgsam war. Rückblickend denk ich: Für meine Eltern war das anstrengend. Ich war immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer, immer unterwegs. Und Regeln haben mich oft eher angestachelt als gebremst.
Die Wildheit blieb immer
Natürlich hieß es oft: „Das ist viel zu gefährlich!“ oder „Spiel doch mal was Ruhigeres!“ Ich hab’s versucht – und mich im Lauf der Jahre ganz gut angepasst an das, was von mir erwartet wurde. Aber diese Wildheit war immer irgendwie da. Mal leise, mal laut. Mal tief in mir drin, mal unübersehbar. Heute ist mir klar: Je mehr ich versucht hab, diese Wildheit zu unterdrücken und zu zähmen, desto stärker kam sie manchmal zurück.
Zum Beispiel damals, als ich selbst Mutter wurde und unsere Kinder klein waren. Ich wollte unbedingt für sie da sein und funktionieren. Deshalb hab ich meine Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer verdrängt. Das hat auch eine Zeitlang geklappt. Aber: Diese innere Unruhe ist immer stärker geworden und hat sich angestaut. Irgendwann ist der Damm dann gebrochen, die verdrängten Gefühle und Sehnsüchte haben mich überflutet – und komplett ausgebremst. Ich hatte Depressionen – da ging erstmal nichts mehr.
Ab und an kann man etwas unterdrücken, aber nicht überwinden
Solche depressiven Phasen gab es einige Male in meinem Leben. Aber ich hab erst einen Hörsturz gebraucht, bis ich endlich daraus gelernt hab. Nämlich: Mit der Wildheit in mir ist es wie mit der Natur: Sie lässt sich zwar zähmen, eindämmen und unterdrücken. Manchmal ist das auch notwendig. Aber sie lässt sich nie ganz überwinden. Und ich glaube: Das ist auch gut so.
Musik
Die Wildheit ist ein Teil von mir
Jahrelang hab ich versucht, den wilden Teil in mir zu leugnen oder zu ignorieren. Inzwischen denke ich: Die Wildheit ist nichts, das ich loswerden muss. Sie ist ein ganz wertvoller Teil von mir.
Zum Beispiel macht mich die Wildheit kreativ. Ich probiere gerne einfach drauflos, statt lange Pläne zu schmieden. Zugegeben: Nicht immer geht das gut. Aber das ist ja nicht schlimm. Gerade Misserfolge stacheln mich an, es weiter zu versuchen.
Die Wildheit macht mich dynamisch. Ich bleib nicht stehen, wo ich gerade bin. Ich geb mich nicht schnell zufrieden, sondern probiere gern Neues aus. Ich will ständig in Bewegung sein – körperlich und geistig.
Die Kirche profitiert von meiner Wildheit
Natürlich ist es manchmal anstrengend mit mir, aber ich glaube: Es gibt auch ein paar Menschen, die davon profitieren. Zum Beispiel die katholische Kirche, für die ich arbeite. Ich frag mich oft: Wie kann Kirche heute so sein, dass sie Menschen wirklich erreicht und für sie da ist? Ab und zu fallen mir da richtig gute Sachen ein.
Zum Beispiel die Outdoorseelsorge: Seit zweieinhalb Jahren kann man mich über eine Homepage buchen – als Seelsorgerin in der Natur. Ich bin dann mit Gruppen oder Einzelnen unterwegs. Manchmal gehen wir einfach spazieren und reden. Oft beziehen wir die Natur in die Gespräche ein, mit Atemübungen, Waldbaden oder ähnlichem. Viele erleben diese Zeit als Begegnung mit der Schöpfung, mit sich – und mit Gott. Und sagen danach: Das hat richtig gutgetan!
Wildheit ist nichts Schlechtes
Ich glaube: Ohne eine gewisse Wildheit wäre ich wohl nie auf die Idee mit der Outdoorseelsorge gekommen. Erstens wär ich vielleicht nicht mutig oder kreativ genug gewesen. Und zweitens würde mich die Natur wohl nicht so magisch anziehen, wie sie es nun einmal tut. Die Natur und ich – wir haben viel gemeinsam. Und sie zeigt mir immer wieder: Wildheit ist nichts Schlechtes. Im Gegenteil.
Bei den Spaziergängen im Wald sehe ich ja: Auch in der Forstwirtschaft ist die Renaturierung angesagt. Also mehr das Prinzip „leben und leben lassen“ statt bewirtschaften und ausnutzen. Dahinter steckt die Einsicht: Wenn Menschen Ökosysteme zu sehr kultivieren, raubt ihnen das Wasser, die Nährstoffe – das, was sie lebendig macht. Die Folgen: Trockenheit, Waldsterben, Klimawandel. Renaturierung bedeutet: Bäume und Pflanzen dürfen wachsen, wie sie wollen. Auch Totholz darf liegen bleiben. Das wirkt erstmal chaotisch – aber: Da summt und brummt das Leben! Wilde Wälder sind voller Vielfalt, voller Kraft. Offenbar hat Gott die Welt so geschaffen: wild und vielfältig. Und was für die Natur gilt, gilt auch für uns Menschen.
Musik
"Wilde Kirche"
Wild und ungezähmt sein – das klingt nach Kontrollverlust. Aber es bedeutet auch Lebendigkeit und Freiheit. Wild sein heißt: Es darf so sein, wie es von Natur aus ist. Das tut dem Wald gut – und mir auch.
Im Zusammenhang mit der Outdoorseelsorge bin ich auf eine Bewegung gestoßen, die sich „Wilde Kirche“ nennt. Der Name war mir sofort sympathisch. Er klingt rebellisch – und vielleicht soll er das auch. Aber die „Wilde Kirche“ richtet sich nicht unbedingt gegen die Institution. Sie steht einfach für eine andere Art, Glauben zu leben. Ich war mal bei so einem Treffen dabei. Wir waren die ganze Zeit draußen, haben gebetet, gesungen – und in der „ersten Bibel“ gelesen, dem „kostbaren Buch der Natur“, wie der verstorbene Papst Franziskus es einmal genannt hat.
Die Natur genießen
Das heißt: Jede und jeder durfte eine halbe Stunde einfach nur in der Natur sein. Ohne etwas tun zu müssen. Ich bin herumgelaufen, hab mich ins Gras gelegt, auf das geachtet, was ich um mich herum – und in mir – wahrgenommen hab. Andere haben sich an einen Baum gelehnt oder auf eine Bank gesetzt. Wichtig ist: In dieser Zeit schweigen und lauschen – auf das, was Gott uns durch die Natur sagen will. Manche haben anschließend davon erzählt. Zum Abschluss gab es ein wunderbares Picknick.
Wilde Kirche ist für mich Freiheit
„Wilde Kirche“, wilder Glaube: Das ist genau mein Ding! Denn: In der Natur finde ich, was ich schon als Kind gebraucht hab: Freiheit. Da kann ich sein, wie ich bin. Und gleichzeitig spür ich eine ursprüngliche Verbundenheit mit allem, was ist. Die Natur ermutigt mich: Ich darf ausbrechen aus dem, was mir in der Zivilisation den Atem nimmt. Ich darf frei denken und fühlen – und frei glauben.
„Wilde Kirche“ bedeutet für mich auch: Ich muss keine Formeln nachbeten, um fromm genug zu sein. Ich darf fragen, zweifeln – und so neue Facetten meines Glaubens entdecken.
Auch Glauben braucht Freiheit
Egal, ob in der Natur, in der Kirche oder irgendwo sonst: Glauben braucht Freiheit – und vielleicht auch eine Prise Wildheit und Abenteuerlust. Vielleicht hat Jesus genau das gemeint, als er sagte: „Wenn ihr nicht so werdet wie die Kinder, kommt ihr nicht in Gottes himmlisches Reich.“ (Matthäusevangelium, Kapitel 18, Vers 3) Für mich ist jedenfalls klar: Ich bin jetzt öfter wieder das kleine, wilde Kind, das ich mal war. Neugierig, lebendig, voller Vertrauen in mich selbst – und in die Welt um mich herum. Und das fühlt sich wirklich himmlisch an.