
„Bitte berühren!“
Es ist Ende September des vergangenen Jahres. Wir dürfen in der Pfarrei, in der ich lebe und arbeite, den 125. Weihetag unserer Kirche feiern. Ein großes Ereignis für alle. Neben dem Festgottesdienst mit unserem Bischof wollen wir allen Besuchern Einblicke in unsere Kirche gewähren, die sonst nicht so üblich sind. Kurzerhand gestalten wir einen „Escape-Room“. Dabei geht es nicht darum, dass man sich in der Kirche einschließen lässt und sich durch Rätsel befreien muss. Vielmehr sollen die Aufgaben helfen, sich einen neuen Zugang „aufzuschließen“, um zu verstehen, wie schön es ist, eine Kirche als Ort der Gottesgegenwart im Dorf zu haben.
Kirche als Ort, der uns berührt
So muss man zum Beispiel mit Hilfe eines aufsteigenden Heliumballons die Höhe des Kircheninnenraums bestimmen, möglichst viele Stofffische aus dem Taufbecken angeln und die Stufen des Kirchturmes und alle Engeldarstellungen zählen. Außerdem kann man bis zu den Glocken emporsteigen, den Beichtstuhl inspizieren, aus Bauklötzen die Kirche nachbauen oder als Familie einen Gebetszettel auszufüllen und in unserer Gebetsmauer hinterlassen. Ein Highlight ist die Sakristei. Unser Pfarrer hat dort eine Ausstellung aufgebaut und präsentiert die Schmuckstücke der Pfarrkirche: Kelche und Schalen für die Feier des Gottesdienstes, die handbestickten Messgewänder, ein dampfendes Weihrauchfass und eben all das, was benötigt wird, um Taufen, die Heilige Messe und all die anderen Gottesdienste im Laufe eines Jahres zu feiern.
„Please touch!“
„Ob wir ein Schild an die Tür hängen sollten, dass man die Sachen nicht berühren darf?“, frage ich den Pfarrer. „Please, don’t touch!“ – „Bitte nicht berühren!“ „Klar sind uns all die Gegenstände besonders wertvoll, aber wir sind doch kein Museum“, sagt dieser. Und ich denke: Ist nicht vieles leichter zu begreifen, wenn ich es wirklich „greifen“ darf? Mir geht es auf jeden Fall so. Ich möchte gerne Dinge berühren; fühlen, wie das Material beschaffen ist, wie etwas in der Hand liegt oder sich auf der Haut anfühlt.
Studien belegen, dass Berührung unsere erste Sprache ist. Der Tastsinn ist bei der Geburt weiterentwickelt als alle anderen Sinne. „Bonding“ nennt man es, wenn ein neugeborenes Kind nach der Geburt umgehend auf den Oberkörper der Mutter oder des Vaters gelegt wird. Durch den Hautkontakt wird eine intensive Bindung geschaffen und das Kind spürt die Nähe und Zuwendung seiner Eltern. Wenn diese Berührung nicht möglich ist, ist das oft für beide Seiten sehr schmerzhaft. Warum sollte das, was für die erste Phase des Lebens gilt, nicht auch für das weitere Leben gelten?
Es ist spannend, sich damit auseinanderzusetzen, welche Bedeutung Berührungen für uns haben. Berührung beinhaltet nun mal häufig Hautkontakt und dies beruhigt das Nervenzentrum. Außerdem kann Berührung dazu führen, dass das Stresshormon Cortisol abgebaut und Oxytocin ausgeschüttet wird. Oxytocin ist übrigens dafür verantwortlich, dass wir uns an andere binden können.
„Please don’t touch!“ – „Bitte nicht berühren!“ wäre also in diesem Sinne nicht wirklich zielführend. Schließlich wollen wir den Besuchern unseres Escape-Rooms die Möglichkeit geben, im positiven Sinne „Beziehung“ aufzubauen.
Musik
Das Wesen des Glaubens ist Berührung
Berührung ist unsere erste Sprache. Bevor unser Mund Laute formen kann oder unsere Augen ein scharfes Bild sehen können, ist unser Tastsinn gegenüber den anderen Sinnen bei unserer Geburt am weitesten ausgeprägt. Um Berührung geht es auch, wenn ich heute, eine Woche nach Ostern in die Texte der Heiligen Schrift schaue. Der Evangelist Johannes berichtet davon, dass acht Tage nach der Auferstehung – also heute – Jesus noch einmal seinen Jüngern erscheint. Bereits am Osterabend tritt Jesus in den Kreis seiner Jünger. „Friede sei mit euch!“ (Joh 20, 19) sind seine Worte und daraufhin zeigt er ihnen seine Hände und seine Seite, die die Spuren der Kreuzigung sichtbar machen. Daraufhin haucht er sie an und sagt: „Empfangt den Heiligen Geist!“ (Joh 20,22) Die Jünger sehen Jesus, den Auferstandenen, sie spüren seinen Atem und hören seine Worte. Scheinbar gibt es keinen Zweifel, dass es Jesus ist. Die vergangenen Jahre haben sie so sehr geprägt, dass ihnen der Hauch seines Atems genauso vertraut ist wie der Klang seiner Stimme. Sie sind über jeden Zweifel erhaben und sicher: Sie haben den Herrn – den Auferstandenen – gesehen!
Thomas zweifelt, bis er berührt wird
Nur einer nicht: Thomas. Er ist an jenem Abend nicht dabei. Wo aber ist er? Wir wissen es nicht. Nur eines erzählt die Bibel: Thomas ist nicht dabei, als Jesus am Osterabend den Jüngern erscheint und ihm fällt es schwer zu glauben, was die anderen da erzählen.
Thomas will sich durch die Worte der anderen nicht überzeugen lassen. Er macht klar: „Wenn ich nicht das Mal der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht. (Joh 20,25) Er will mit dem Auferstandenen auf Tuchfühlung gehen, mehr noch: Er will ihn berühren. Thomas will be-greifen, dass Jesus wirklich auferstanden ist. Für ihn ist die Berührung die Voraussetzung für seinen Glauben. Ich kann ihn nur zu gut verstehen: Nach all den Ereignissen in Jerusalem, der Aufregung und dem Schmerz des Abschieds, der Angst vor den Römern und nun der Frage, wo Jesus ist, wenn er nicht mehr im Grab liegt, ist sein emotionales Stresslevel vermutlich auf einem unerträglichen Niveau. Was hilft da das Gerede der anderen? Würde es mir heute anders gehen?
Musik
Thomas, einer der Jünger Jesu, ist nicht dabei, als Jesus am Osterabend den anderen Jüngern erscheint. Den Worten seiner Freunde uneingeschränkt Glauben zu schenken, fällt ihm schwer und er knüpft seinen Glauben an die Bedingung, die Male der Nägel an den Händen Jesu und die Seitenwunde berühren zu dürfen. Wie soll ich denn das Unbegreifliche begreifen, wenn ich es nicht berühren darf? „Please don’t touch!“ – „Bitte nicht berühren!“ Nein, so ist Jesus nicht.
Jesus lässt sich berühren und wird so be-greifbar
Er lässt sich voll und ganz auf Thomas ein. Acht Tage nach Ostern tritt er abermals in die Mitte seiner Jünger. Diesmal ist Thomas dabei. Und Jesu geht in die Offensive: Er geht auf Thomas zu und lädt ihn ein: „Streck deine Finger hierher aus und siehe meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite!“ „Please touch!“ - „Bitte berühre mich!“ Jesus will unter allen Umständen, dass Thomas glauben kann. Er macht sich im besten Wortsinne an-greifbar, er macht sich berührbar! Vielleicht vollzieht sich bei Thomas das, was Berührungsstudien sagen: Cortisol, also Stress wird abgebaut und Oxytocin wird ausgeschüttet. Wie auch immer: Beziehung entsteht. Die Bindung zwischen Jesus und Thomas wird spürbar, ja mehr noch, sie ist förmlich greifbar. Die Aufforderung Jesu, ihn zu berühren, drängt Thomas zu seinem Bekenntnis: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28)
Heute möchte ich es Thomas gleich tun. Ich möchte Jesu Gegenwart begreifen. Wie oft ist er mir so fern, wie schwer fällt es mir manchmal wirklich zu glauben, dass er, der Auferstandene da ist? Was wäre es schön, wenn ich ihn berühren könnte, einfach so.
Gott schenkt ein lebenslanges Band, um uns im Innersten zu berühren
Ich muss an die 25 Kinder denken, die ich in den vergangenen Monaten und Wochen auf den heutigen Tag vorbereiten durfte. Für sie – wie für viele andere Jungen und Mädchen – ist heute der Tag ihrer Erstkommunion. Zum ersten Mal empfangen sie den Leib Christi, die Heilige Kommunion. Sie strecken ihre Hände aus, um Jesus zu empfangen. Sie strecken ihre Hände aus, um ihn, den Auferstandenen, zu berühren. Wie Thomas. Und Jesus lässt sich von ihnen berühren. „Please touch!“ – „Bitte berühre mich“. Es ist kaum zu begreifen und doch ist unser Gott so nah, dass ich ihn berühren darf. Unseren Kommunionkindern wünsche ich, dass aus der heutigen Berührung mit Jesus eine lebenslange Bindung wird und sie wie Thomas aus ganzen Herzen bekennen können: „Mein Herr und mein Gott!“
Mich trägt diese Erfahrung und ich glaube fest, dass Jesu Sehnsucht, mich im Innersten zu berühren, genauso groß ist wie meine Sehnsucht, ihn zu begreifen.
Ihnen, liebe Hörerinnen und Hörer, wünsche ich diesen Moment, in dem Sie erleben dürfen: Da streckt jemand nach mir die Hand aus, weil er mit mir in Beziehung treten möchte. Ganz egal, wo sie gerade stehen und wie es um ihren Glauben bestellt ist: Da, wo ich mich berührbar mache, kann Leben unter die Haut gehen. Und Glaube übrigens auch. Also: „Please touch!“ - „Bitte berühre mich.“