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Selbstbestimmt leben und sterben?
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Selbstbestimmt leben und sterben?

Fischer, Matti
Ein Beitrag von Fischer, Matti, Evangelischer Pfarrer, Marburg
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Elisabeth ist gestorben. Sie hat sich an einem Nachmittag im Januar kurz nach 14 Uhr das Leben genommen. Assistierter Suizid heißt der Fachbegriff.

"Jetzt ist es gut"

Fast ein Jahr lang hatte sich Elisabeth auf ihren Abschied vorbereitet. „Jetzt ist es gut,“ sagte sie damals im Frühling. 87 Jahre alt. Ein volles, erlebnisreiches Leben. Und seitdem trug sie in sich diese Gewissheit: Ihre Lebensuhr ist an ihr Ende gekommen.

Ein Arzt, ein Jurist und viele zu unterschreibende Papiere

Ein Arzt war angereist aus einer 300 km entfernten Stadt. Dazu ein Jurist aus der Nähe. Viele Papiere mussten unterschrieben werden. Immer wieder musste sie die Frage beantworten: Wollen Sie jetzt wirklich sterben? Immer wieder antwortete sie deutlich mit Ja.

Eine Geschichte, in der das Sterben mitten im guten, gesunden Leben kommen darf

Elisabeth heißt eigentlich anders. Sie wollte, dass ihre Geschichte weitererzählt wird. Sie fand, dass es gut ist, auch eine andere Geschichte vom Leben und Sterben zu erzählen. Eine Geschichte, in der das Sterben mitten im guten, gesunden Leben kommen darf. Ich kann ihre Geschichte und Entscheidung nicht beurteilen. Ich will sie hier nur erzählen. Jetzt, wo ich das schreibe, ist Abend und ich denke über die Erlebnisse nach.

Ein fröhlicher letzter Abend in der Kneipe im Kreis ihrer Freundinnen

Wir waren im Nebenzimmer dabei. Elisabeth, zwei gute Freunde von ihr und ich als Pfarrer. So hatte sie es sich gewünscht. Wir waren schon eine Stunde vorher gekommen. Zu viert saßen wir nun in der Sofaecke. An diesem Nachmittag hatte Elisabeth Nüsse bereitgestellt. Wir sprachen über unsere Urlaubsplanungen und über die Vorstellungen, was wohl nach dem Tod kommt. Elisabeth erzählte von ihrem fröhlichen letzten Abend in der Kneipe, gestern im Kreis ihrer Freundinnen. Ich war erstaunt, hatte mir die Situation trauriger vorgestellt.

Vier Sekunden dauert es

Es war alles vorbereitet. Wir nahmen sie noch einmal in den Arm. Letzte Worte: „Ich bin ja nicht weg“, sagte sie. Und: „Macht es gut“. Dann ging sie ins Schlafzimmer, ließ sich eine Kanüle in den Arm legen und nahm das Gift. Vier Sekunden dauert es, so hatte es der Arzt uns ganz sachlich erklärt. Vier Sekunden, dann wird aus der fröhlich lachenden Elisabeth eine Verstorbene. Eins, zwei, drei, vier.

Und wir sitzen weiter in der Sofaecke. Die Nüsschen vor uns. Die Bilder an der Wand und die Bücher im Schrank nun Spuren eines Menschen, der nicht mehr da ist.

Ein langes erfülltes Leben ist an sein Ende gekommen

Ein langes erfülltes Leben ist an sein Ende gekommen. Ein Leben, in dem für Elisabeth mit der Zeit der Glauben immer wichtiger wurde.  In ihrer Kirchengemeinde kannte man sie. In einem Kloster fand sie seit vielen Jahren ihre Heimat. Oft war sie dort. Manchmal für Wochen.

Sterben ist nicht das Ende

Dort übte sie das Sitzen in der Stille. In der Stille, so erzählte sie es immer wieder, machte sie bereits die Erfahrung: Sterben ist nicht das Ende. Ja, sie war sich irgendwann sicher: Die Zeit ist überhaupt nur eine Illusion. Ich mochte diesen Gedanken, auch wenn mir die Zeit viel zu oft noch im Nacken hängt. Und ich die Zeit, die mir bleibt, ausfüllen möchte so gut es geht.

Sie glaubte an Gott und wollte selbstbestimmt sterben - für sie ging das zusammen  

In den letzten Monaten sahen wir uns dann immer häufiger. Gerne im Café bei ihr um die Ecke. Redeten über ihr Leben und das, was kommt. Meistens ein großer Teller Pommes zwischen uns. Vor drei Tagen waren wir noch da. Bis nur noch zwei Pommes in der Schüssel lagen. „Komm, jeder noch eine“, sagte Elisabeth. Das letzte Mal.  Sie glaubte an Gott und wollte selbstbestimmt sterben. Für sie ging das zusammen.  

Musik

Ferdinand von Schirachs "Gott"

In der Abiturklasse, die ich in Religion unterrichte, beschäftigen wir uns gerade mit dem Buch „Gott“ von Ferdinand von Schirach. In dem Theaterstück beschreibt Schirach den fiktiven Fall von Richard Gärtner, 78 alt, -ein körperlich und geistig gesunder Mann. Er will seit dem Tod seiner Frau nicht mehr weiterleben. Er verlangt nach einem Medikament, das ihn tötet. Mediziner, Juristen, Pfarrer, Ethiker, Politiker zweifeln, ob Ärzte ihm bei seinem Suizid helfen dürfen. Die Ethikkommission diskutiert den Fall.

Darf man sich begleitet von einem Arzt das Leben nehmen?

Es geht in dem Text um Fragen der Moral: Darf man das? Sich begleitet von einem Arzt das Leben nehmen? Es sind dieselben Fragen, die sich bei Elisabeths Entscheidung stellen. Mit den Schülerinnen und Schülern diskutieren wir in diesen Wochen heftig über diese Fragen. Sammeln die Argumente. Für und wider. Natürlich habe ich das Recht, mich frei zu entscheiden, was ich mit meinem Leben mache. Sagen die einen. Aber das Leben ist ein Geschenk. Sagen die anderen.

Es gibt Situationen, da müssen wir miteinander um die richtigen Entscheidungen ringen

Das Ziel des Ganzen: Die Schüler sollen sich ein eigenes Urteil bilden. Dabei erleben sie: Es gibt Situationen, da müssen wir miteinander um die richtigen Entscheidungen ringen. In welche Richtung wir uns dann auch bewegen: Es wird gute Argumente gegen unsere Position geben. Und diese Argumente haben auch ihr Recht.

Richtig oder falsch?

In den Gesprächen mit den Schülern merke ich: Sie sehnen sich nach einer eindeutigen Richtlinie. So gern würden sie sich klar auf eine Seite stellen: Richtig oder falsch! Entweder, man darf sich selbstbestimmt das Leben nehmen oder man darf es nicht.

Gerade der von Ferdinand von Schirach erfundene Fall treibt es ja auf die Spitze: Da ist ein Mann, der gesund ist. Keine todbringende Krankheit lässt seine Lebensuhr schneller ablaufen. Es ist einfach nur diese Erkenntnis: „Es reicht jetzt. Ich will nun gehen.“ Darf dieser Gedanke, diese Gewissheit ausreichen, um sich das Leben zu nehmen?

Musik

Einfach nur das Empfinden: Für mich ist meine Lebensuhr ans Ende gekommen

Elisabeth ist gegangen wie Richard Gärtner in dem Stück von Ferdinand von Schirach ging es auch ihr. Etwas in ihr wusste: Es ist an der Zeit. Da war keine Krankheit, die ängstigt und schmerzt. Sondern einfach nur das Empfinden: Für mich ist meine Lebensuhr ans Ende gekommen.

Die Entscheidung des anderen akzeptieren, auch wenn es schwerfällt

Erst jetzt, nach ihrem Sterben, merke ich: Neben all den Argumenten, die für oder gegen einen solchen Weg sprechen, gibt es eine andere, eine neue Möglichkeit, wie ich dem selbstbestimmten Sterben des Anderen begegne. Ich enthalte mich des Urteils, ob es richtig oder falsch ist. Akzeptiere, auch wenn es schwerfällt, die Entscheidung des anderen.

Aber ich kann sie begleiten. Kann ihr zuhören und nachfragen. Auf diese Weise ihre Lebensgeschichte teilen. Die, die gewesen ist und die, die kommt. Es gibt den Weg, die Pommes auf dem Teller zu teilen und die Zeit, die einem noch bleibt.

Dieser Weg muss ganz frei sein vom Urteil

Mir wird klar: dieser Weg muss ganz frei sein vom Urteil. Ja, er bleibt fast automatisch frei vom Urteil, wenn ich mit dem anderen mitgehe. Ich spüre: ich habe nicht das Recht für jemanden anderen zu entscheiden. Kann nur Argumente pro und contra austauschen. Wenn ich mit jemanden gemeinsam auf dem Weg bin, auch auf dem letzten, wenn ich Nähe zulasse, dann ist mein Blick auf den anderen nicht von meinem Urteil geprägt. Sind wir wirklich gemeinsam auf dem Weg dann ist es vor allen Dingen Liebe, die uns verbindet.

Die Schülerinnen und Schüler ringen um das richtige Urteil

Ich verstehe die Schülerinnen und Schüler. Ihr Ringen um das richtige Urteil. Ich verstehe sie, weil ich selber noch weiß, wie wichtig mir in dem Alter damals eine klare ethische Haltung gewesen ist. Wie weichgespült mir manchmal die Erwachsenen vorkamen, die scheinbar einem eindeutigen Urteil auswichen.

Gerade so ethisch bedeutsame Fragen wie die Sterbehilfe brauchen einen klaren rechtlichen Rahmen. Und dieser Rahmen braucht eine fundierte ethische Begründung. Keine Frage.

Der andere Weg: Mitgehen, nahe sein, teilen von Lebenszeit

Aber ich hoffe, dass meine Schülerinnen und Schüler daneben etwas anderes lernen. Vielleicht erst mit der Zeit. Vielleicht erst mit eigenen Erfahrungen von den Grenzfällen des Lebens: Neben all dem Ringen zwischen dem Richtig und Falsch unserer Handlungen gibt es diesen anderen Weg: Den Weg des Mitgehens, den Weg der Nähe, den Weg des Teilens von Lebenszeit. Und der letzten Pommes auf unseren Tellern.

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